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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867.

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Alpenmauerläufer.
Sprüngli, Schintz und Tschudi Einiges über ihn mit. Aber erst im Jahre 1864 haben wir
durch Girtanner in St. Gallen das Leben dieses Vogels wirklich kennen gelernt. Jch kann des-
halb nichts Besseres thun, als diesen ausgezeichneten Beobachter anstatt meiner reden zu lassen, wobei
ich ausdrücklich bemerke, daß ich außer einer veröffentlichten Abhandlung noch über einen wahren
Schatz von Briefen zu verfügen habe, welche ich der Güte Girtanner's verdanke.

"Wenn der Wanderer im schweizerischen Gebirge beim Eintritt in die oberen Züge des Alpen-
gürtels die Grenze des Hochwaldes überschritten hat und nun immer tiefer in das wilde Felsenwirrsal
eindringt, so hört er besonders in gewissen Alpengebieten nicht gar selten hoch von der Felswand herab
einen feinen, lang gezoge-
nen Pfiff ertönen. Der-
selbe erinnert zumeist an
den bekannten Gesang
unseres Goldammers: er
besteht aus einigen ziemlich
lauten, schnell auf einan-
der folgenden, auf gleicher
Tonhöhe stehenden Silben,
welche mit einem, um
mehrere Töne höhern, lang-
gezogenen Endton schließen
und etwa wiedergegeben
werden können durch die
Silben "dü dü dü düiii".
Erstaunt und erfreut zu-
gleich, mitten in dem
schweigenden Steingewirr
plötzlich wieder Lebens-
zeichen eines andern We-
sens zu vernehmen, schaut
er hinauf an die kahle Fels-
wand und wird dann, ge-
wöhnlich erst nach längerem
Suchen, zwischen den Stei-
nen eines kleinen Vogels
gewahr, welcher mit halb
geöffneten rothen Flügeln

[Abbildung] Der Alpenmauerläufer oder Alpenspecht (Tichodroma muraria).
ohne Anstrengung die senk-
rechte, stellenweise über-
hängende Wand hinaufklet-
tert. Es ist der Mauerläufer, die lebendige Alpenrose, welcher sich in seinem heimatlichen Gebiete umher-
tummelt, ohne Scheu auf den keuchenden Wanderer herabschauend, welcher sich mühsam genug bis zu
seinem hohen Wohnsitz emporgearbeitet hat. Hat der Bergsteiger es nun nicht gar so eilig, so setzt er sich
gern still auf einen bemosten Stein, um diesem wunderbaren Geschöpf eine kleine Weile zuzusehen. Aber
so scharf er auch nach oben sieht, so weh ihm der Nacken thut, er ist anfangs nicht im Stande, das sonder-
bare Farbenspiel und die flatternden Bewegungen, welche mehr an die eines Schmetterlings als an
den Flug eines Vogels denken lassen, zu verstehen. Der Mauerläufer selbst will ihm erscheinen, wie
ein Traumbild, und der Wunsch wird rege, das wunderbare Geschöpf in der Nähe zu betrachten. Hat
der Beobachter nun eine sichere Vogelflinte mitgenommen und treibt ihn nicht elende Vernichtungs-

Alpenmauerläufer.
Sprüngli, Schintz und Tſchudi Einiges über ihn mit. Aber erſt im Jahre 1864 haben wir
durch Girtanner in St. Gallen das Leben dieſes Vogels wirklich kennen gelernt. Jch kann des-
halb nichts Beſſeres thun, als dieſen ausgezeichneten Beobachter anſtatt meiner reden zu laſſen, wobei
ich ausdrücklich bemerke, daß ich außer einer veröffentlichten Abhandlung noch über einen wahren
Schatz von Briefen zu verfügen habe, welche ich der Güte Girtanner’s verdanke.

„Wenn der Wanderer im ſchweizeriſchen Gebirge beim Eintritt in die oberen Züge des Alpen-
gürtels die Grenze des Hochwaldes überſchritten hat und nun immer tiefer in das wilde Felſenwirrſal
eindringt, ſo hört er beſonders in gewiſſen Alpengebieten nicht gar ſelten hoch von der Felswand herab
einen feinen, lang gezoge-
nen Pfiff ertönen. Der-
ſelbe erinnert zumeiſt an
den bekannten Geſang
unſeres Goldammers: er
beſteht aus einigen ziemlich
lauten, ſchnell auf einan-
der folgenden, auf gleicher
Tonhöhe ſtehenden Silben,
welche mit einem, um
mehrere Töne höhern, lang-
gezogenen Endton ſchließen
und etwa wiedergegeben
werden können durch die
Silben „dü dü dü düiii“.
Erſtaunt und erfreut zu-
gleich, mitten in dem
ſchweigenden Steingewirr
plötzlich wieder Lebens-
zeichen eines andern We-
ſens zu vernehmen, ſchaut
er hinauf an die kahle Fels-
wand und wird dann, ge-
wöhnlich erſt nach längerem
Suchen, zwiſchen den Stei-
nen eines kleinen Vogels
gewahr, welcher mit halb
geöffneten rothen Flügeln

[Abbildung] Der Alpenmauerläufer oder Alpenſpecht (Tichodroma muraria).
ohne Anſtrengung die ſenk-
rechte, ſtellenweiſe über-
hängende Wand hinaufklet-
tert. Es iſt der Mauerläufer, die lebendige Alpenroſe, welcher ſich in ſeinem heimatlichen Gebiete umher-
tummelt, ohne Scheu auf den keuchenden Wanderer herabſchauend, welcher ſich mühſam genug bis zu
ſeinem hohen Wohnſitz emporgearbeitet hat. Hat der Bergſteiger es nun nicht gar ſo eilig, ſo ſetzt er ſich
gern ſtill auf einen bemoſten Stein, um dieſem wunderbaren Geſchöpf eine kleine Weile zuzuſehen. Aber
ſo ſcharf er auch nach oben ſieht, ſo weh ihm der Nacken thut, er iſt anfangs nicht im Stande, das ſonder-
bare Farbenſpiel und die flatternden Bewegungen, welche mehr an die eines Schmetterlings als an
den Flug eines Vogels denken laſſen, zu verſtehen. Der Mauerläufer ſelbſt will ihm erſcheinen, wie
ein Traumbild, und der Wunſch wird rege, das wunderbare Geſchöpf in der Nähe zu betrachten. Hat
der Beobachter nun eine ſichere Vogelflinte mitgenommen und treibt ihn nicht elende Vernichtungs-

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[45/0057] Alpenmauerläufer. Sprüngli, Schintz und Tſchudi Einiges über ihn mit. Aber erſt im Jahre 1864 haben wir durch Girtanner in St. Gallen das Leben dieſes Vogels wirklich kennen gelernt. Jch kann des- halb nichts Beſſeres thun, als dieſen ausgezeichneten Beobachter anſtatt meiner reden zu laſſen, wobei ich ausdrücklich bemerke, daß ich außer einer veröffentlichten Abhandlung noch über einen wahren Schatz von Briefen zu verfügen habe, welche ich der Güte Girtanner’s verdanke. „Wenn der Wanderer im ſchweizeriſchen Gebirge beim Eintritt in die oberen Züge des Alpen- gürtels die Grenze des Hochwaldes überſchritten hat und nun immer tiefer in das wilde Felſenwirrſal eindringt, ſo hört er beſonders in gewiſſen Alpengebieten nicht gar ſelten hoch von der Felswand herab einen feinen, lang gezoge- nen Pfiff ertönen. Der- ſelbe erinnert zumeiſt an den bekannten Geſang unſeres Goldammers: er beſteht aus einigen ziemlich lauten, ſchnell auf einan- der folgenden, auf gleicher Tonhöhe ſtehenden Silben, welche mit einem, um mehrere Töne höhern, lang- gezogenen Endton ſchließen und etwa wiedergegeben werden können durch die Silben „dü dü dü düiii“. Erſtaunt und erfreut zu- gleich, mitten in dem ſchweigenden Steingewirr plötzlich wieder Lebens- zeichen eines andern We- ſens zu vernehmen, ſchaut er hinauf an die kahle Fels- wand und wird dann, ge- wöhnlich erſt nach längerem Suchen, zwiſchen den Stei- nen eines kleinen Vogels gewahr, welcher mit halb geöffneten rothen Flügeln [Abbildung Der Alpenmauerläufer oder Alpenſpecht (Tichodroma muraria).] ohne Anſtrengung die ſenk- rechte, ſtellenweiſe über- hängende Wand hinaufklet- tert. Es iſt der Mauerläufer, die lebendige Alpenroſe, welcher ſich in ſeinem heimatlichen Gebiete umher- tummelt, ohne Scheu auf den keuchenden Wanderer herabſchauend, welcher ſich mühſam genug bis zu ſeinem hohen Wohnſitz emporgearbeitet hat. Hat der Bergſteiger es nun nicht gar ſo eilig, ſo ſetzt er ſich gern ſtill auf einen bemoſten Stein, um dieſem wunderbaren Geſchöpf eine kleine Weile zuzuſehen. Aber ſo ſcharf er auch nach oben ſieht, ſo weh ihm der Nacken thut, er iſt anfangs nicht im Stande, das ſonder- bare Farbenſpiel und die flatternden Bewegungen, welche mehr an die eines Schmetterlings als an den Flug eines Vogels denken laſſen, zu verſtehen. Der Mauerläufer ſelbſt will ihm erſcheinen, wie ein Traumbild, und der Wunſch wird rege, das wunderbare Geſchöpf in der Nähe zu betrachten. Hat der Beobachter nun eine ſichere Vogelflinte mitgenommen und treibt ihn nicht elende Vernichtungs-

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben04_1867/57>, abgerufen am 27.11.2024.