Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Späher. Klettervögel. Spechtmeisen.
hochstämmige Waldungen, in welchen es aber nicht gänzlich an Unterholz fehlt, bevorzugt er allen
übrigen Oertlichkeiten: hier kann er zuweilen gemein sein. Er scheut die Nähe des Menschen nicht
und findet sich vor den Thoren der Städte oder in den belaubten Spaziergängen derselben ebenso
zahlreich, wie im einsamen Walde. Jm Sommer treibt er sich in einem sehr kleinen Gebiet umher:
eine einzige Eiche kann ihn stundenlang fesseln und ihm volle Beschäftigung geben. Jm Herbst
ergreift auch ihn der Reisedrang, und er dehnt dann seine Streifereien etwas weiter aus. Unter allen
Umständen hält er sich an die Bäume, und nur im äußersten Nothfall entschließt er sich, eine baum-
leere Strecke zu überfliegen.

Am Kleiber muß Jedermann sein Wohlgefallen haben. Er zeichnet sich durch seine Regsamkeit
und Anspruchslosigkeit vor vielen andern Vögeln aus. Keinen Augenblick ist er ruhig. "Bald hüpft
er an einem Baume hinauf", sagt mein Vater, "bald an ihm herab, bald um ihn herum, bald läuft er

[Abbildung] Der Kleiber oder Blauspecht (Sitta caesia).
auf den Aesten vor oder hängt sich an sie an, bald spaltet er ein Stückchen Rinde ab, bald hackt er,
bald fliegt er: Dies geht ununterbrochen in Einem fort, sodaß er nur, um seine Stimme hören zu
lassen, zuweilen etwas ausruht. Seine Stellung ist gedrückt, er zieht fast immer den Hals ein, die
Füße an und trägt die weichen und langen Federn, locker auf einander liegend, wodurch er ein plumpes
und ungeschicktes Ansehen erhält. Daß er diesem Ansehen nicht entspricht, haben wir oben gesehen.
Sein Flug ist leicht, doch nicht sehr schnell, mit stark ausgebreiteten Schwingen und starker Flügel-
bewegung, nicht selten flatternd. Er fliegt gewöhnlich nicht weit in einem Zuge; daran ist aber nicht
Unvermögen, sondern der Umstand schuld, daß er, um von einem Baume zum andern zu kommen,
selten eine große Strecke in der Luft auszuführen braucht. Daß ihm der Flug nicht sauer wird, sieht
man deutlich daran, daß er sehr oft um die Wipfel der Bäume und ohne erkennbare Ursache zuweilen
von einem Berge zum andern fliegt. Auf dem Striche legt er oft eine Strecke von einer Viertelstunde
Wegs, ohne sich niederzusetzen, zurück... Zuweilen klettert er lange Zeit hoch auf den Bäumen

Die Späher. Klettervögel. Spechtmeiſen.
hochſtämmige Waldungen, in welchen es aber nicht gänzlich an Unterholz fehlt, bevorzugt er allen
übrigen Oertlichkeiten: hier kann er zuweilen gemein ſein. Er ſcheut die Nähe des Menſchen nicht
und findet ſich vor den Thoren der Städte oder in den belaubten Spaziergängen derſelben ebenſo
zahlreich, wie im einſamen Walde. Jm Sommer treibt er ſich in einem ſehr kleinen Gebiet umher:
eine einzige Eiche kann ihn ſtundenlang feſſeln und ihm volle Beſchäftigung geben. Jm Herbſt
ergreift auch ihn der Reiſedrang, und er dehnt dann ſeine Streifereien etwas weiter aus. Unter allen
Umſtänden hält er ſich an die Bäume, und nur im äußerſten Nothfall entſchließt er ſich, eine baum-
leere Strecke zu überfliegen.

Am Kleiber muß Jedermann ſein Wohlgefallen haben. Er zeichnet ſich durch ſeine Regſamkeit
und Anſpruchsloſigkeit vor vielen andern Vögeln aus. Keinen Augenblick iſt er ruhig. „Bald hüpft
er an einem Baume hinauf“, ſagt mein Vater, „bald an ihm herab, bald um ihn herum, bald läuft er

[Abbildung] Der Kleiber oder Blauſpecht (Sitta caesia).
auf den Aeſten vor oder hängt ſich an ſie an, bald ſpaltet er ein Stückchen Rinde ab, bald hackt er,
bald fliegt er: Dies geht ununterbrochen in Einem fort, ſodaß er nur, um ſeine Stimme hören zu
laſſen, zuweilen etwas ausruht. Seine Stellung iſt gedrückt, er zieht faſt immer den Hals ein, die
Füße an und trägt die weichen und langen Federn, locker auf einander liegend, wodurch er ein plumpes
und ungeſchicktes Anſehen erhält. Daß er dieſem Anſehen nicht entſpricht, haben wir oben geſehen.
Sein Flug iſt leicht, doch nicht ſehr ſchnell, mit ſtark ausgebreiteten Schwingen und ſtarker Flügel-
bewegung, nicht ſelten flatternd. Er fliegt gewöhnlich nicht weit in einem Zuge; daran iſt aber nicht
Unvermögen, ſondern der Umſtand ſchuld, daß er, um von einem Baume zum andern zu kommen,
ſelten eine große Strecke in der Luft auszuführen braucht. Daß ihm der Flug nicht ſauer wird, ſieht
man deutlich daran, daß er ſehr oft um die Wipfel der Bäume und ohne erkennbare Urſache zuweilen
von einem Berge zum andern fliegt. Auf dem Striche legt er oft eine Strecke von einer Viertelſtunde
Wegs, ohne ſich niederzuſetzen, zurück... Zuweilen klettert er lange Zeit hoch auf den Bäumen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0050" n="38"/><fw place="top" type="header">Die Späher. Klettervögel. Spechtmei&#x017F;en.</fw><lb/>
hoch&#x017F;tämmige Waldungen, in welchen es aber nicht gänzlich an Unterholz fehlt, bevorzugt er allen<lb/>
übrigen Oertlichkeiten: hier kann er zuweilen gemein &#x017F;ein. Er &#x017F;cheut die Nähe des Men&#x017F;chen nicht<lb/>
und findet &#x017F;ich vor den Thoren der Städte oder in den belaubten Spaziergängen der&#x017F;elben eben&#x017F;o<lb/>
zahlreich, wie im ein&#x017F;amen Walde. Jm Sommer treibt er &#x017F;ich in einem &#x017F;ehr kleinen Gebiet umher:<lb/>
eine einzige Eiche kann ihn &#x017F;tundenlang fe&#x017F;&#x017F;eln und ihm volle Be&#x017F;chäftigung geben. Jm Herb&#x017F;t<lb/>
ergreift auch ihn der Rei&#x017F;edrang, und er dehnt dann &#x017F;eine Streifereien etwas weiter aus. Unter allen<lb/>
Um&#x017F;tänden hält er &#x017F;ich an die Bäume, und nur im äußer&#x017F;ten Nothfall ent&#x017F;chließt er &#x017F;ich, eine baum-<lb/>
leere Strecke zu überfliegen.</p><lb/>
          <p>Am Kleiber muß Jedermann &#x017F;ein Wohlgefallen haben. Er zeichnet &#x017F;ich durch &#x017F;eine Reg&#x017F;amkeit<lb/>
und An&#x017F;pruchslo&#x017F;igkeit vor vielen andern Vögeln aus. Keinen Augenblick i&#x017F;t er ruhig. &#x201E;Bald hüpft<lb/>
er an einem Baume hinauf&#x201C;, &#x017F;agt mein Vater, &#x201E;bald an ihm herab, bald um ihn herum, bald läuft er<lb/><figure><head><hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Der Kleiber oder Blau&#x017F;pecht</hi><hi rendition="#aq">(Sitta caesia).</hi></hi></head></figure><lb/>
auf den Ae&#x017F;ten vor oder hängt &#x017F;ich an &#x017F;ie an, bald &#x017F;paltet er ein Stückchen Rinde ab, bald hackt er,<lb/>
bald fliegt er: Dies geht ununterbrochen in Einem fort, &#x017F;odaß er nur, um &#x017F;eine Stimme hören zu<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en, zuweilen etwas ausruht. Seine Stellung i&#x017F;t gedrückt, er zieht fa&#x017F;t immer den Hals ein, die<lb/>
Füße an und trägt die weichen und langen Federn, locker auf einander liegend, wodurch er ein plumpes<lb/>
und unge&#x017F;chicktes An&#x017F;ehen erhält. Daß er die&#x017F;em An&#x017F;ehen nicht ent&#x017F;pricht, haben wir oben ge&#x017F;ehen.<lb/>
Sein Flug i&#x017F;t leicht, doch nicht &#x017F;ehr &#x017F;chnell, mit &#x017F;tark ausgebreiteten Schwingen und &#x017F;tarker Flügel-<lb/>
bewegung, nicht &#x017F;elten flatternd. Er fliegt gewöhnlich nicht weit in einem Zuge; daran i&#x017F;t aber nicht<lb/>
Unvermögen, &#x017F;ondern der Um&#x017F;tand &#x017F;chuld, daß er, um von einem Baume zum andern zu kommen,<lb/>
&#x017F;elten eine große Strecke in der Luft auszuführen braucht. Daß ihm der Flug nicht &#x017F;auer wird, &#x017F;ieht<lb/>
man deutlich daran, daß er &#x017F;ehr oft um die Wipfel der Bäume und ohne erkennbare Ur&#x017F;ache zuweilen<lb/>
von einem Berge zum andern fliegt. Auf dem Striche legt er oft eine Strecke von einer Viertel&#x017F;tunde<lb/>
Wegs, ohne &#x017F;ich niederzu&#x017F;etzen, zurück... Zuweilen klettert er lange Zeit hoch auf den Bäumen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[38/0050] Die Späher. Klettervögel. Spechtmeiſen. hochſtämmige Waldungen, in welchen es aber nicht gänzlich an Unterholz fehlt, bevorzugt er allen übrigen Oertlichkeiten: hier kann er zuweilen gemein ſein. Er ſcheut die Nähe des Menſchen nicht und findet ſich vor den Thoren der Städte oder in den belaubten Spaziergängen derſelben ebenſo zahlreich, wie im einſamen Walde. Jm Sommer treibt er ſich in einem ſehr kleinen Gebiet umher: eine einzige Eiche kann ihn ſtundenlang feſſeln und ihm volle Beſchäftigung geben. Jm Herbſt ergreift auch ihn der Reiſedrang, und er dehnt dann ſeine Streifereien etwas weiter aus. Unter allen Umſtänden hält er ſich an die Bäume, und nur im äußerſten Nothfall entſchließt er ſich, eine baum- leere Strecke zu überfliegen. Am Kleiber muß Jedermann ſein Wohlgefallen haben. Er zeichnet ſich durch ſeine Regſamkeit und Anſpruchsloſigkeit vor vielen andern Vögeln aus. Keinen Augenblick iſt er ruhig. „Bald hüpft er an einem Baume hinauf“, ſagt mein Vater, „bald an ihm herab, bald um ihn herum, bald läuft er [Abbildung Der Kleiber oder Blauſpecht (Sitta caesia).] auf den Aeſten vor oder hängt ſich an ſie an, bald ſpaltet er ein Stückchen Rinde ab, bald hackt er, bald fliegt er: Dies geht ununterbrochen in Einem fort, ſodaß er nur, um ſeine Stimme hören zu laſſen, zuweilen etwas ausruht. Seine Stellung iſt gedrückt, er zieht faſt immer den Hals ein, die Füße an und trägt die weichen und langen Federn, locker auf einander liegend, wodurch er ein plumpes und ungeſchicktes Anſehen erhält. Daß er dieſem Anſehen nicht entſpricht, haben wir oben geſehen. Sein Flug iſt leicht, doch nicht ſehr ſchnell, mit ſtark ausgebreiteten Schwingen und ſtarker Flügel- bewegung, nicht ſelten flatternd. Er fliegt gewöhnlich nicht weit in einem Zuge; daran iſt aber nicht Unvermögen, ſondern der Umſtand ſchuld, daß er, um von einem Baume zum andern zu kommen, ſelten eine große Strecke in der Luft auszuführen braucht. Daß ihm der Flug nicht ſauer wird, ſieht man deutlich daran, daß er ſehr oft um die Wipfel der Bäume und ohne erkennbare Urſache zuweilen von einem Berge zum andern fliegt. Auf dem Striche legt er oft eine Strecke von einer Viertelſtunde Wegs, ohne ſich niederzuſetzen, zurück... Zuweilen klettert er lange Zeit hoch auf den Bäumen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben04_1867
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben04_1867/50
Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben04_1867/50>, abgerufen am 28.11.2024.