heulen, andere lachen, einige geben höchst klangvolle, wohlgerundete, volltönige Laute zum Besten, andere knurren abscheulich. Wie die Stimme aber auch sein möge, sie gehört allerorten zum Wald- konzert und trägt überall dazu bei, ihm ein gewisses Gepräge zu verleihen.
Unter den Sinnen steht unzweifelhaft das verhältnißmäßig große, wohlgebaute und oft sehr schön gefärbte, ausdrucksvolle Auge oben an; denn das Gesicht der Girrvögel ist ganz vorzüglich. Kaum minder ausgezeichnet ist das Gehör, über dessen Schärfe man leicht ein bestimmtes Urtheil gewinnen kann; verhältnißmäßig sehr entwickelt dürften auch Geschmack, Geruch und Gefühl sein. Den Verstand hat man oft überschätzt, bestochen von der mehr scheinbaren als wirklichen Anmuth des Wesens. Die Girrvögel sind regelmäßig scheu und vorsichtig, unterscheiden aber keineswegs mit demselben Urtheil, wie andere Vögel, zwischen wirklicher und vermeintlicher Gefahr, sondern nehmen stets das Gewisse für das Ungewisse, und weichen deshalb dem Bauer oder Schäfer ebenso ängstlich aus, wie dem Jäger. Es kommt vor, daß einzelne sich in der Nähe der Menschen ansiedeln; sie aber dürfen als Ausnahmen von der Regel gelten. Tauben wirklich zu zähmen, ist schwierig und wird, wie es scheint, erst möglich bei den Nachkommen mehrerer Geschlechter, welche bereits in Gefangenschaft gelebt haben. Jhre Beurtheilungsgabe ist gering, ihr Gedächtniß wenigstens nicht hervorragend; doch übertreffen die Girrvögel auch in geistiger Hinsicht entschieden alle übrigen Läufer.
Das Betragen der Tauben hat so viel Bestechendes, daß sie schon seit altersgrauer Zeit als Sinnbilder aller denkbaren guten Eigenschaften betrachtet und sogar der Ehre gewürdigt worden sind, übersinnlichen Begriffen Gestalt zu verleihen. Dem unbefangenen Auge stellt sich ihr Wesen in minder günstigem Lichte dar. Jhre Anmuth wird gewiß Niemand in Abrede stellen wollen, und auch an ihrer Zärtlichkeit gegen den Gatten kann sich ein gleichgestimmtes Gemüth erfreuen, da das Schnäbeln nun einmal an unser Küssen erinnert: die gerühmte eheliche Treue der Tauben ist jedoch keineswegs so außerordentlich und über jede Mißdeutung erhaben, als man gemeint hat, und von einer hingebenden Anhänglichkeit gegen die Kinder ist wenigstens bei vielen Nichts zu bemerken. Viele, jedoch keineswegs alle Girrvögel lieben die Geselligkeit und halten sich paarweise zusammen; ob aber ein Paar wirklich Zeitlebens verbunden bleibt, wie man gewöhnlich annimmt, ist sehr fraglich: es liegen auch Beobachtungen vor, welche kein günstiges Zeugniß abgeben für ihre eheliche Treue. Jhr Fortpflanzungstrieb ist zwar nicht so ausgeprägt, wie bei den Hühnern, immerhin aber noch sehr heftig, und wenn wir das Gebahren der verliebten Tauben im günstigsten Sinne auffassen, so lassen wir uns eben, wie bereits gesagt, bestechen durch ihr gegen- seitiges Schnäbeln, und vergessen andere in ihrer Zärtlichkeit noch viel anmuthiger erscheinende Vögel, wie z. B. Papageien. Wahrhaft abscheulich erscheint uns die Treulosigkeit vieler Tauben gegen ihre Brut: sie verlassen nicht blos ihre Eier, sondern sogar die bereits ausgeschlüpften Jungen, wenn sie gestört und in Folge davon mißtrauisch wurden. Auch Neid und Mißgunst kann man ihnen nicht absprechen; ihre Habgier überwiegt jede Rücksicht auf ihre Genossen: sie decken gefundenes Futter mit den Flügeln zu, während die verschrienen Hühner, wenn sie reichliche Nahrung entdecken, andere herbeirufen. Hingebung, Selbstverleugnung zu Gunsten anderer Wesen kennen die Girrvögel über- haupt nicht; sie schließen sich auch anderen Geschöpfen nur scheinbar an, da sie in Wirklichkeit blos mit Jhresgleichen gern verkehren. Sie betrachten die meisten Thiere mit Gleichgiltigkeit oder beachten sie gar nicht; die stärkeren Geschöpfe fürchten, vielen mißtrauen sie.
Die Girrvögel sind Weltbürger im weitesten Sinne des Worts. Sie leben in allen Erdtheilen, in jedem Gürtel derselben, in der Höhe, wie in der Tiefe, immer aber vorzugsweise im Walde; denn die wenigen, welche sich auf pflanzenlosen Felswänden ansiedeln, gehören zu den Ausnahmen. Die Nähe des Wassers lieben, wasserlose Strecken meiden sie, wenn auch damit nicht gesagt sein soll, daß sie hier gänzlich fehlen, da sie ihre Flugfertigkeit in den Stand setzt, täglich ferngelegene Tränkplätze zu besuchen. Jhre größte Entwicklung zeigt die Ordnung in Oceanien oder auf den großen und kleinen Jnseln des stillen Weltmeeres. Die Sundainseln, Philippinen, Molukken sind reich an verschiedenartigen und prachtvollen Tauben; in Neuholland und auf Neuguinea lebt eine namhafte
Brehm, Thierleben. IV. 17
Allgemeines
heulen, andere lachen, einige geben höchſt klangvolle, wohlgerundete, volltönige Laute zum Beſten, andere knurren abſcheulich. Wie die Stimme aber auch ſein möge, ſie gehört allerorten zum Wald- konzert und trägt überall dazu bei, ihm ein gewiſſes Gepräge zu verleihen.
Unter den Sinnen ſteht unzweifelhaft das verhältnißmäßig große, wohlgebaute und oft ſehr ſchön gefärbte, ausdrucksvolle Auge oben an; denn das Geſicht der Girrvögel iſt ganz vorzüglich. Kaum minder ausgezeichnet iſt das Gehör, über deſſen Schärfe man leicht ein beſtimmtes Urtheil gewinnen kann; verhältnißmäßig ſehr entwickelt dürften auch Geſchmack, Geruch und Gefühl ſein. Den Verſtand hat man oft überſchätzt, beſtochen von der mehr ſcheinbaren als wirklichen Anmuth des Weſens. Die Girrvögel ſind regelmäßig ſcheu und vorſichtig, unterſcheiden aber keineswegs mit demſelben Urtheil, wie andere Vögel, zwiſchen wirklicher und vermeintlicher Gefahr, ſondern nehmen ſtets das Gewiſſe für das Ungewiſſe, und weichen deshalb dem Bauer oder Schäfer ebenſo ängſtlich aus, wie dem Jäger. Es kommt vor, daß einzelne ſich in der Nähe der Menſchen anſiedeln; ſie aber dürfen als Ausnahmen von der Regel gelten. Tauben wirklich zu zähmen, iſt ſchwierig und wird, wie es ſcheint, erſt möglich bei den Nachkommen mehrerer Geſchlechter, welche bereits in Gefangenſchaft gelebt haben. Jhre Beurtheilungsgabe iſt gering, ihr Gedächtniß wenigſtens nicht hervorragend; doch übertreffen die Girrvögel auch in geiſtiger Hinſicht entſchieden alle übrigen Läufer.
Das Betragen der Tauben hat ſo viel Beſtechendes, daß ſie ſchon ſeit altersgrauer Zeit als Sinnbilder aller denkbaren guten Eigenſchaften betrachtet und ſogar der Ehre gewürdigt worden ſind, überſinnlichen Begriffen Geſtalt zu verleihen. Dem unbefangenen Auge ſtellt ſich ihr Weſen in minder günſtigem Lichte dar. Jhre Anmuth wird gewiß Niemand in Abrede ſtellen wollen, und auch an ihrer Zärtlichkeit gegen den Gatten kann ſich ein gleichgeſtimmtes Gemüth erfreuen, da das Schnäbeln nun einmal an unſer Küſſen erinnert: die gerühmte eheliche Treue der Tauben iſt jedoch keineswegs ſo außerordentlich und über jede Mißdeutung erhaben, als man gemeint hat, und von einer hingebenden Anhänglichkeit gegen die Kinder iſt wenigſtens bei vielen Nichts zu bemerken. Viele, jedoch keineswegs alle Girrvögel lieben die Geſelligkeit und halten ſich paarweiſe zuſammen; ob aber ein Paar wirklich Zeitlebens verbunden bleibt, wie man gewöhnlich annimmt, iſt ſehr fraglich: es liegen auch Beobachtungen vor, welche kein günſtiges Zeugniß abgeben für ihre eheliche Treue. Jhr Fortpflanzungstrieb iſt zwar nicht ſo ausgeprägt, wie bei den Hühnern, immerhin aber noch ſehr heftig, und wenn wir das Gebahren der verliebten Tauben im günſtigſten Sinne auffaſſen, ſo laſſen wir uns eben, wie bereits geſagt, beſtechen durch ihr gegen- ſeitiges Schnäbeln, und vergeſſen andere in ihrer Zärtlichkeit noch viel anmuthiger erſcheinende Vögel, wie z. B. Papageien. Wahrhaft abſcheulich erſcheint uns die Treuloſigkeit vieler Tauben gegen ihre Brut: ſie verlaſſen nicht blos ihre Eier, ſondern ſogar die bereits ausgeſchlüpften Jungen, wenn ſie geſtört und in Folge davon mißtrauiſch wurden. Auch Neid und Mißgunſt kann man ihnen nicht abſprechen; ihre Habgier überwiegt jede Rückſicht auf ihre Genoſſen: ſie decken gefundenes Futter mit den Flügeln zu, während die verſchrienen Hühner, wenn ſie reichliche Nahrung entdecken, andere herbeirufen. Hingebung, Selbſtverleugnung zu Gunſten anderer Weſen kennen die Girrvögel über- haupt nicht; ſie ſchließen ſich auch anderen Geſchöpfen nur ſcheinbar an, da ſie in Wirklichkeit blos mit Jhresgleichen gern verkehren. Sie betrachten die meiſten Thiere mit Gleichgiltigkeit oder beachten ſie gar nicht; die ſtärkeren Geſchöpfe fürchten, vielen mißtrauen ſie.
Die Girrvögel ſind Weltbürger im weiteſten Sinne des Worts. Sie leben in allen Erdtheilen, in jedem Gürtel derſelben, in der Höhe, wie in der Tiefe, immer aber vorzugsweiſe im Walde; denn die wenigen, welche ſich auf pflanzenloſen Felswänden anſiedeln, gehören zu den Ausnahmen. Die Nähe des Waſſers lieben, waſſerloſe Strecken meiden ſie, wenn auch damit nicht geſagt ſein ſoll, daß ſie hier gänzlich fehlen, da ſie ihre Flugfertigkeit in den Stand ſetzt, täglich ferngelegene Tränkplätze zu beſuchen. Jhre größte Entwicklung zeigt die Ordnung in Oceanien oder auf den großen und kleinen Jnſeln des ſtillen Weltmeeres. Die Sundainſeln, Philippinen, Molukken ſind reich an verſchiedenartigen und prachtvollen Tauben; in Neuholland und auf Neuguinea lebt eine namhafte
Brehm, Thierleben. IV. 17
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[257/0279]
Allgemeines
heulen, andere lachen, einige geben höchſt klangvolle, wohlgerundete, volltönige Laute zum Beſten,
andere knurren abſcheulich. Wie die Stimme aber auch ſein möge, ſie gehört allerorten zum Wald-
konzert und trägt überall dazu bei, ihm ein gewiſſes Gepräge zu verleihen.
Unter den Sinnen ſteht unzweifelhaft das verhältnißmäßig große, wohlgebaute und oft ſehr
ſchön gefärbte, ausdrucksvolle Auge oben an; denn das Geſicht der Girrvögel iſt ganz vorzüglich.
Kaum minder ausgezeichnet iſt das Gehör, über deſſen Schärfe man leicht ein beſtimmtes Urtheil
gewinnen kann; verhältnißmäßig ſehr entwickelt dürften auch Geſchmack, Geruch und Gefühl ſein.
Den Verſtand hat man oft überſchätzt, beſtochen von der mehr ſcheinbaren als wirklichen Anmuth des
Weſens. Die Girrvögel ſind regelmäßig ſcheu und vorſichtig, unterſcheiden aber keineswegs mit
demſelben Urtheil, wie andere Vögel, zwiſchen wirklicher und vermeintlicher Gefahr, ſondern
nehmen ſtets das Gewiſſe für das Ungewiſſe, und weichen deshalb dem Bauer oder Schäfer ebenſo
ängſtlich aus, wie dem Jäger. Es kommt vor, daß einzelne ſich in der Nähe der Menſchen anſiedeln;
ſie aber dürfen als Ausnahmen von der Regel gelten. Tauben wirklich zu zähmen, iſt ſchwierig und
wird, wie es ſcheint, erſt möglich bei den Nachkommen mehrerer Geſchlechter, welche bereits in
Gefangenſchaft gelebt haben. Jhre Beurtheilungsgabe iſt gering, ihr Gedächtniß wenigſtens nicht
hervorragend; doch übertreffen die Girrvögel auch in geiſtiger Hinſicht entſchieden alle übrigen Läufer.
Das Betragen der Tauben hat ſo viel Beſtechendes, daß ſie ſchon ſeit altersgrauer Zeit als
Sinnbilder aller denkbaren guten Eigenſchaften betrachtet und ſogar der Ehre gewürdigt worden
ſind, überſinnlichen Begriffen Geſtalt zu verleihen. Dem unbefangenen Auge ſtellt ſich ihr
Weſen in minder günſtigem Lichte dar. Jhre Anmuth wird gewiß Niemand in Abrede ſtellen
wollen, und auch an ihrer Zärtlichkeit gegen den Gatten kann ſich ein gleichgeſtimmtes
Gemüth erfreuen, da das Schnäbeln nun einmal an unſer Küſſen erinnert: die gerühmte eheliche
Treue der Tauben iſt jedoch keineswegs ſo außerordentlich und über jede Mißdeutung erhaben, als
man gemeint hat, und von einer hingebenden Anhänglichkeit gegen die Kinder iſt wenigſtens bei
vielen Nichts zu bemerken. Viele, jedoch keineswegs alle Girrvögel lieben die Geſelligkeit und halten
ſich paarweiſe zuſammen; ob aber ein Paar wirklich Zeitlebens verbunden bleibt, wie man gewöhnlich
annimmt, iſt ſehr fraglich: es liegen auch Beobachtungen vor, welche kein günſtiges Zeugniß abgeben
für ihre eheliche Treue. Jhr Fortpflanzungstrieb iſt zwar nicht ſo ausgeprägt, wie bei den
Hühnern, immerhin aber noch ſehr heftig, und wenn wir das Gebahren der verliebten Tauben im
günſtigſten Sinne auffaſſen, ſo laſſen wir uns eben, wie bereits geſagt, beſtechen durch ihr gegen-
ſeitiges Schnäbeln, und vergeſſen andere in ihrer Zärtlichkeit noch viel anmuthiger erſcheinende Vögel,
wie z. B. Papageien. Wahrhaft abſcheulich erſcheint uns die Treuloſigkeit vieler Tauben gegen
ihre Brut: ſie verlaſſen nicht blos ihre Eier, ſondern ſogar die bereits ausgeſchlüpften Jungen, wenn
ſie geſtört und in Folge davon mißtrauiſch wurden. Auch Neid und Mißgunſt kann man ihnen nicht
abſprechen; ihre Habgier überwiegt jede Rückſicht auf ihre Genoſſen: ſie decken gefundenes Futter
mit den Flügeln zu, während die verſchrienen Hühner, wenn ſie reichliche Nahrung entdecken, andere
herbeirufen. Hingebung, Selbſtverleugnung zu Gunſten anderer Weſen kennen die Girrvögel über-
haupt nicht; ſie ſchließen ſich auch anderen Geſchöpfen nur ſcheinbar an, da ſie in Wirklichkeit blos
mit Jhresgleichen gern verkehren. Sie betrachten die meiſten Thiere mit Gleichgiltigkeit oder
beachten ſie gar nicht; die ſtärkeren Geſchöpfe fürchten, vielen mißtrauen ſie.
Die Girrvögel ſind Weltbürger im weiteſten Sinne des Worts. Sie leben in allen Erdtheilen,
in jedem Gürtel derſelben, in der Höhe, wie in der Tiefe, immer aber vorzugsweiſe im Walde; denn
die wenigen, welche ſich auf pflanzenloſen Felswänden anſiedeln, gehören zu den Ausnahmen. Die
Nähe des Waſſers lieben, waſſerloſe Strecken meiden ſie, wenn auch damit nicht geſagt ſein ſoll, daß
ſie hier gänzlich fehlen, da ſie ihre Flugfertigkeit in den Stand ſetzt, täglich ferngelegene Tränkplätze
zu beſuchen. Jhre größte Entwicklung zeigt die Ordnung in Oceanien oder auf den großen und
kleinen Jnſeln des ſtillen Weltmeeres. Die Sundainſeln, Philippinen, Molukken ſind reich an
verſchiedenartigen und prachtvollen Tauben; in Neuholland und auf Neuguinea lebt eine namhafte
Brehm, Thierleben. IV. 17
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben04_1867/279>, abgerufen am 27.11.2024.
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