"Jm Herbst fing ich zwei junge Männchen und brachte sie nicht in einen Käfig, sondern in meinen Arbeitsraum, dessen Thüren und Fenster ich versichert hatte. Sie waren lebendig, aber nicht wild, zeigten sich spiellustig und mir gegenüber zutraulich, setzten sich z. B. ohne jegliche Zurückhaltung zeitweilig auf einen meiner Finger. Blumen, welche ich herbeigebracht hatte, wurden augenblicklich von ihnen besucht; aber ich sah auch sofort, daß sie einzelne mit Aufmerksamkeit betrachteten, andere hingegen vernachlässigten. Deshalb holte ich die ersteren in größerer Menge herbei, und als ich mit einem Strauß von ihnen in das Zimmer trat, hatte ich die Freude, zu sehen, daß sie die Blumen durchsuchten, während ich sie noch in meiner Hand hielt. Die liebenswürdigen Geschöpfe schwirrten jetzt kaum einen Zoll vor meinem Gesichte herum und untersuchten alle Blumen auf das genaueste. Als ich auch diese Blumen in einem Gefäß untergebracht hatte, besuchten sie bald den einen, bald den andern Strauß, und dazwischen unterhielten sie sich durch Spielereien im Zimmer oder setzten sich auf verschiedenen Gegenständen nieder. Obwohl sie gelegentlich den Fenstern sich näherten, flatterten sie doch nie an denselben. Wenn sie flogen, hörte ich oft das Schnappen ihres Schnabels: sie hatten dann unzweifelhaft ein kleines Kerbthier gefangen. Nach einiger Zeit fiel einer von ihnen plötzlich in einem Winkel zu Boden und starb. Der andere behielt seine Lebendigkeit bei. Da ich fürchtete, daß die Blumen geleert sein möchten, füllte ich ein kleines Glas mit Zuckersaft an, ver- schloß es durch einen Kork und steckte durch diesen eine Gänsespule, auf welche ich eine große, unten abgeschnittene Blüthe setzte. Der Vogel kam augenblicklich herbeigeschwirrt, hing sich an den Rand der Flasche und steckte seinen Schnabel in die Röhre. Es war augenscheinlich, daß ihm die Labung behagte; denn er leckte geraume Zeit, und als er aufgeflogen war, fand ich die Spule leer. Sehr bald kam er auch zu der nicht durch Blumen verzierten Spule, und noch im Verlauf des Tages kannte er seine neue Nahrungsquelle genau. Gegen Sonnenuntergang suchte er sich eine Leine zum Schlafen aus; am nächsten Morgen vor Sonnenaufgang war er aber schon wieder munter, hatte auch seinen Syrupstopf bereits geleert. Einige Stunden später flog er durch eine Thüre, welche ich unvorsichtiger Weise offen gelassen hatte und entkam zu meinem nicht geringen Aerger."
"Drei Männchen, welche im April gefangen worden waren, machten sich augenblicklich vertraut mit ihrem neuen Wohnraum. Der eine von ihnen fand auch sofort ein Glas mit Zuckersyrup auf und saugte wiederholt. Einer starb, die anderen wurden so zahm, daß der eine, noch ehe der Tag vorübergegangen war, mir ins Gesicht geflogen kam, sich auf meine Lippen oder mein Kinn setzte, seinen Schnabel mir in den Mund steckte und meinen Speichel leckte. Er wurde so kühn und wiederholte seine Besuche so oft, daß er schließlich geradezu belästigte; denn er war so eigensinnig, daß er seine vorschnellbare Zunge in alle Theile meines Mundes steckte, so, zwischen Kinnlade und Wange, unter die Zunge u. s. w. Wenn ich ihn belohnen wollte, nahm ich ein wenig Syrup in den Mund und lud ihn durch einen schwachen Laut, den er sehr bald verstehen lernte, zu mir ein. Frische Blumen schienen ihm nicht besonders zuzusagen, und auch, als ich die Blüthen der Moringa, welche von ihm im Freileben sonst beständig aufgesucht werden, ins Zimmer brachte, bemerkte ich, daß er sie nach einer kurzen Prüfung vernachlässigte.... Jeder einzelne erwählte sich seinen besondern Platz auf den Leinen, welche quer durch das Zimmer gezogen waren, und kehrte stets wieder zu demselben zurück. Ebenso suchte sich jeder noch einen oder zwei Plätze zur zeitweiligen Ruhe aus und benutzte sie regelmäßig, ohne den Nachbar zu verdrängen. Selbst wenn er gewaltsam vertrieben wurde, kehrte er immer wieder zu dem einmal erwählten Sitzorte zurück, dem in der Freiheit Gewohnten durchaus entsprechend. Deshalb konnten wir auch, wenn wir einen dieser beliebten Sitzplätze im Walde erkundet hatten, mit Bestimmtheit darauf rechnen, den betreffenden Juhaber innerhalb weniger Minuten vermittelst Vogelleim zu fangen."
"Der kühnste meiner Gefangenen war sehr kampflustig und griff gelegentlich seinen friedlicheren Gefährten an, welcher stets zurückwich. Nach solchem Fall setzte sich jener und stieß ein vergnügtes "Skrip" aus. Nach ein oder zwei Tagen aber bekam der Verfolgte das Spiel satt und wurde nun seinerseits zum Tyrannen, indem er zunächst den Gefährten vom Syrupglase vertrieb. Zwanzigmal
Die Späher. Schwirrvögel.
„Jm Herbſt fing ich zwei junge Männchen und brachte ſie nicht in einen Käfig, ſondern in meinen Arbeitsraum, deſſen Thüren und Fenſter ich verſichert hatte. Sie waren lebendig, aber nicht wild, zeigten ſich ſpielluſtig und mir gegenüber zutraulich, ſetzten ſich z. B. ohne jegliche Zurückhaltung zeitweilig auf einen meiner Finger. Blumen, welche ich herbeigebracht hatte, wurden augenblicklich von ihnen beſucht; aber ich ſah auch ſofort, daß ſie einzelne mit Aufmerkſamkeit betrachteten, andere hingegen vernachläſſigten. Deshalb holte ich die erſteren in größerer Menge herbei, und als ich mit einem Strauß von ihnen in das Zimmer trat, hatte ich die Freude, zu ſehen, daß ſie die Blumen durchſuchten, während ich ſie noch in meiner Hand hielt. Die liebenswürdigen Geſchöpfe ſchwirrten jetzt kaum einen Zoll vor meinem Geſichte herum und unterſuchten alle Blumen auf das genaueſte. Als ich auch dieſe Blumen in einem Gefäß untergebracht hatte, beſuchten ſie bald den einen, bald den andern Strauß, und dazwiſchen unterhielten ſie ſich durch Spielereien im Zimmer oder ſetzten ſich auf verſchiedenen Gegenſtänden nieder. Obwohl ſie gelegentlich den Fenſtern ſich näherten, flatterten ſie doch nie an denſelben. Wenn ſie flogen, hörte ich oft das Schnappen ihres Schnabels: ſie hatten dann unzweifelhaft ein kleines Kerbthier gefangen. Nach einiger Zeit fiel einer von ihnen plötzlich in einem Winkel zu Boden und ſtarb. Der andere behielt ſeine Lebendigkeit bei. Da ich fürchtete, daß die Blumen geleert ſein möchten, füllte ich ein kleines Glas mit Zuckerſaft an, ver- ſchloß es durch einen Kork und ſteckte durch dieſen eine Gänſeſpule, auf welche ich eine große, unten abgeſchnittene Blüthe ſetzte. Der Vogel kam augenblicklich herbeigeſchwirrt, hing ſich an den Rand der Flaſche und ſteckte ſeinen Schnabel in die Röhre. Es war augenſcheinlich, daß ihm die Labung behagte; denn er leckte geraume Zeit, und als er aufgeflogen war, fand ich die Spule leer. Sehr bald kam er auch zu der nicht durch Blumen verzierten Spule, und noch im Verlauf des Tages kannte er ſeine neue Nahrungsquelle genau. Gegen Sonnenuntergang ſuchte er ſich eine Leine zum Schlafen aus; am nächſten Morgen vor Sonnenaufgang war er aber ſchon wieder munter, hatte auch ſeinen Syrupstopf bereits geleert. Einige Stunden ſpäter flog er durch eine Thüre, welche ich unvorſichtiger Weiſe offen gelaſſen hatte und entkam zu meinem nicht geringen Aerger.“
„Drei Männchen, welche im April gefangen worden waren, machten ſich augenblicklich vertraut mit ihrem neuen Wohnraum. Der eine von ihnen fand auch ſofort ein Glas mit Zuckerſyrup auf und ſaugte wiederholt. Einer ſtarb, die anderen wurden ſo zahm, daß der eine, noch ehe der Tag vorübergegangen war, mir ins Geſicht geflogen kam, ſich auf meine Lippen oder mein Kinn ſetzte, ſeinen Schnabel mir in den Mund ſteckte und meinen Speichel leckte. Er wurde ſo kühn und wiederholte ſeine Beſuche ſo oft, daß er ſchließlich geradezu beläſtigte; denn er war ſo eigenſinnig, daß er ſeine vorſchnellbare Zunge in alle Theile meines Mundes ſteckte, ſo, zwiſchen Kinnlade und Wange, unter die Zunge u. ſ. w. Wenn ich ihn belohnen wollte, nahm ich ein wenig Syrup in den Mund und lud ihn durch einen ſchwachen Laut, den er ſehr bald verſtehen lernte, zu mir ein. Friſche Blumen ſchienen ihm nicht beſonders zuzuſagen, und auch, als ich die Blüthen der Moringa, welche von ihm im Freileben ſonſt beſtändig aufgeſucht werden, ins Zimmer brachte, bemerkte ich, daß er ſie nach einer kurzen Prüfung vernachläſſigte.... Jeder einzelne erwählte ſich ſeinen beſondern Platz auf den Leinen, welche quer durch das Zimmer gezogen waren, und kehrte ſtets wieder zu demſelben zurück. Ebenſo ſuchte ſich jeder noch einen oder zwei Plätze zur zeitweiligen Ruhe aus und benutzte ſie regelmäßig, ohne den Nachbar zu verdrängen. Selbſt wenn er gewaltſam vertrieben wurde, kehrte er immer wieder zu dem einmal erwählten Sitzorte zurück, dem in der Freiheit Gewohnten durchaus entſprechend. Deshalb konnten wir auch, wenn wir einen dieſer beliebten Sitzplätze im Walde erkundet hatten, mit Beſtimmtheit darauf rechnen, den betreffenden Juhaber innerhalb weniger Minuten vermittelſt Vogelleim zu fangen.“
„Der kühnſte meiner Gefangenen war ſehr kampfluſtig und griff gelegentlich ſeinen friedlicheren Gefährten an, welcher ſtets zurückwich. Nach ſolchem Fall ſetzte ſich jener und ſtieß ein vergnügtes „Skrip“ aus. Nach ein oder zwei Tagen aber bekam der Verfolgte das Spiel ſatt und wurde nun ſeinerſeits zum Tyrannen, indem er zunächſt den Gefährten vom Syrupglaſe vertrieb. Zwanzigmal
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Die Späher. Schwirrvögel.
„Jm Herbſt fing ich zwei junge Männchen und brachte ſie nicht in einen Käfig, ſondern in meinen
Arbeitsraum, deſſen Thüren und Fenſter ich verſichert hatte. Sie waren lebendig, aber nicht wild,
zeigten ſich ſpielluſtig und mir gegenüber zutraulich, ſetzten ſich z. B. ohne jegliche Zurückhaltung
zeitweilig auf einen meiner Finger. Blumen, welche ich herbeigebracht hatte, wurden augenblicklich
von ihnen beſucht; aber ich ſah auch ſofort, daß ſie einzelne mit Aufmerkſamkeit betrachteten, andere
hingegen vernachläſſigten. Deshalb holte ich die erſteren in größerer Menge herbei, und als ich mit
einem Strauß von ihnen in das Zimmer trat, hatte ich die Freude, zu ſehen, daß ſie die Blumen
durchſuchten, während ich ſie noch in meiner Hand hielt. Die liebenswürdigen Geſchöpfe ſchwirrten
jetzt kaum einen Zoll vor meinem Geſichte herum und unterſuchten alle Blumen auf das genaueſte.
Als ich auch dieſe Blumen in einem Gefäß untergebracht hatte, beſuchten ſie bald den einen, bald
den andern Strauß, und dazwiſchen unterhielten ſie ſich durch Spielereien im Zimmer oder ſetzten
ſich auf verſchiedenen Gegenſtänden nieder. Obwohl ſie gelegentlich den Fenſtern ſich näherten,
flatterten ſie doch nie an denſelben. Wenn ſie flogen, hörte ich oft das Schnappen ihres Schnabels:
ſie hatten dann unzweifelhaft ein kleines Kerbthier gefangen. Nach einiger Zeit fiel einer von ihnen
plötzlich in einem Winkel zu Boden und ſtarb. Der andere behielt ſeine Lebendigkeit bei. Da ich
fürchtete, daß die Blumen geleert ſein möchten, füllte ich ein kleines Glas mit Zuckerſaft an, ver-
ſchloß es durch einen Kork und ſteckte durch dieſen eine Gänſeſpule, auf welche ich eine große, unten
abgeſchnittene Blüthe ſetzte. Der Vogel kam augenblicklich herbeigeſchwirrt, hing ſich an den Rand
der Flaſche und ſteckte ſeinen Schnabel in die Röhre. Es war augenſcheinlich, daß ihm die Labung
behagte; denn er leckte geraume Zeit, und als er aufgeflogen war, fand ich die Spule leer. Sehr
bald kam er auch zu der nicht durch Blumen verzierten Spule, und noch im Verlauf des Tages
kannte er ſeine neue Nahrungsquelle genau. Gegen Sonnenuntergang ſuchte er ſich eine Leine
zum Schlafen aus; am nächſten Morgen vor Sonnenaufgang war er aber ſchon wieder munter,
hatte auch ſeinen Syrupstopf bereits geleert. Einige Stunden ſpäter flog er durch eine Thüre,
welche ich unvorſichtiger Weiſe offen gelaſſen hatte und entkam zu meinem nicht geringen Aerger.“
„Drei Männchen, welche im April gefangen worden waren, machten ſich augenblicklich vertraut
mit ihrem neuen Wohnraum. Der eine von ihnen fand auch ſofort ein Glas mit Zuckerſyrup auf
und ſaugte wiederholt. Einer ſtarb, die anderen wurden ſo zahm, daß der eine, noch ehe der Tag
vorübergegangen war, mir ins Geſicht geflogen kam, ſich auf meine Lippen oder mein Kinn ſetzte,
ſeinen Schnabel mir in den Mund ſteckte und meinen Speichel leckte. Er wurde ſo kühn und
wiederholte ſeine Beſuche ſo oft, daß er ſchließlich geradezu beläſtigte; denn er war ſo eigenſinnig,
daß er ſeine vorſchnellbare Zunge in alle Theile meines Mundes ſteckte, ſo, zwiſchen Kinnlade und
Wange, unter die Zunge u. ſ. w. Wenn ich ihn belohnen wollte, nahm ich ein wenig Syrup in
den Mund und lud ihn durch einen ſchwachen Laut, den er ſehr bald verſtehen lernte, zu mir ein.
Friſche Blumen ſchienen ihm nicht beſonders zuzuſagen, und auch, als ich die Blüthen der Moringa,
welche von ihm im Freileben ſonſt beſtändig aufgeſucht werden, ins Zimmer brachte, bemerkte ich,
daß er ſie nach einer kurzen Prüfung vernachläſſigte.... Jeder einzelne erwählte ſich ſeinen
beſondern Platz auf den Leinen, welche quer durch das Zimmer gezogen waren, und kehrte ſtets
wieder zu demſelben zurück. Ebenſo ſuchte ſich jeder noch einen oder zwei Plätze zur zeitweiligen
Ruhe aus und benutzte ſie regelmäßig, ohne den Nachbar zu verdrängen. Selbſt wenn er gewaltſam
vertrieben wurde, kehrte er immer wieder zu dem einmal erwählten Sitzorte zurück, dem in der
Freiheit Gewohnten durchaus entſprechend. Deshalb konnten wir auch, wenn wir einen dieſer
beliebten Sitzplätze im Walde erkundet hatten, mit Beſtimmtheit darauf rechnen, den betreffenden
Juhaber innerhalb weniger Minuten vermittelſt Vogelleim zu fangen.“
„Der kühnſte meiner Gefangenen war ſehr kampfluſtig und griff gelegentlich ſeinen friedlicheren
Gefährten an, welcher ſtets zurückwich. Nach ſolchem Fall ſetzte ſich jener und ſtieß ein vergnügtes
„Skrip“ aus. Nach ein oder zwei Tagen aber bekam der Verfolgte das Spiel ſatt und wurde nun
ſeinerſeits zum Tyrannen, indem er zunächſt den Gefährten vom Syrupglaſe vertrieb. Zwanzigmal
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben04_1867/144>, abgerufen am 23.11.2024.
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