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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867.

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Ein Blick auf das Leben der Gesammtheit.

Der Vogel, dem Stimme und Klang geworden, begrüßt den kommenden Morgen mit seinem
Gesange, thut Dies wenigstens während der Paarungszeit, in welcher die Liebe sein Wesen
erregt und vergeistigt; erst dann beginnt er Nahrung zu suchen. Fast alle nehmen zwei Mahlzeiten
zu sich, eine am Morgen, eine gegen Abend, und widmen die Mittagsstunden der Ruhe, der Reinigung
des Gefieders, der Ordnung ihrer Federn. Ausnahmen von dieser Regel bemerken wir bei allen
Vögeln, welche hinsichtlich ihrer Nahrung mehr als andere auf einen günstigen Zufall angewiesen
sind. Die Raubvögel fressen gewöhnlich nur einmal täglich; diejenigen unter ihnen, welche nicht
selbst Beute machen, sondern einfach Aas aufnehmen, sind nicht einmal immer so glücklich, jeden Tag
fressen zu können, sondern müssen oft tagelang hungern. Jn den meisten Fällen wird nur diejenige
Speise verzehrt, welche der Tag erwerben ließ; einzelne aber, beispielsweise die Würger und mehrere
Klettervögel, namentlich Spechte und Kleiber, tragen sich Speiseschätze zusammen und bewahren diese
an gewissen Orten auf, legen sich also förmlich Vorräthe an, nordamerikanische Spechte auch solche
für den Winter. Nach der Mahlzeit wird ein Trunk und dann ein Bad genommen, falls nicht Sand,
Staub und Schnee das Wasser ersetzen muß. Nach dieser Erquickung pflegt der Vogel in behaglicher
Ruhe der Verdauung; gegen das Ende derselben nestelt und putzt er seine Federn; dann tritt er einen
zweiten Jagdzug an. Fiel auch dieser günstig aus, so verfügt er sich gegen Abend nach bestimmten
Plätzen, um sich hier der Gesellschaft anderer zu widmen, oder der Singvogel läßt noch einmal seine
Lieder mit vollem Feuer ertönen; dann endlich begibt er sich zur Ruhe, entweder gemeinschaftlich mit
anderen nach bestimmten Schlafplätzen oder während der Brutzeit in die Nähe seines Nestes zur
brütenden Gattin oder zu den unmündigen Kindern, falls er nicht diese mit sich führt. Das Zubett-
gehen geschieht nicht ohne Weiteres, vielmehr erst nach längeren Berathungen, nach vielfachem
Schwatzen, Lärmen und Plärren, bis endlich die Müdigkeit ihr Recht verlangt. Ungünstige
Witterung stört und ändert die Regelmäßigkeit der Lebensweise, da das Wetter auf den Vogel über-
haupt den größten Einfluß übt.

Mit dem Aufleben der Natur erlebt auch der Vogel. Sein Fortpflanzungsgeschäft fällt überall
mit dem Frühlinge zusammen, in den Ländern unter den Wendekreisen also mit Beginn der Regen-
zeit, welche, wie ich schon wiederholt zu bemerken Gelegenheit nahm, nicht dem Winter, sondern
unserem Frühlinge entspricht. Abweichend von anderen Thieren leben die meisten Vögel in
geschlossener Ehe auf Lebenszeit und nur wenige von ihnen, wie die Säugethiere, in Vielweiberei oder
richtiger Vielehigkeit, da eine Vielweiberei nur bei den Kurzflüglern stattfinden soll. Das Pärchen,
welches sich einmal vereinigt, hält sich während des ganzen Lebens treuinnig zusammen, und nur aus-
nahmsweise geschieht es, daß einer der Gatten, von heftiger Brunst ergriffen, die Gesetze einer
geschlossenen Ehe mißachtet. Da es nun auch unter den Vögeln mehr Männchen als Weibchen gibt,
wird es erklärlich, daß von jeder Vogelart beständig einzelne Junggesellen oder Witwer umherstreifen,
in der Absicht, sich eine Gattin zu suchen, und läßt es sich entschuldigen, daß diese dann auf die
Heiligkeit der Ehe nicht immer gebührende Rücksicht nehmen, vielmehr einem Ehehalter sein
Gespons abwendig zu machen suchen. Die nothwendige Folge von solch frevelhaftem Beginnen und
Thun ist, daß der Eheherr dem frechen Eindringling mit allen seinen Kräften zurückzuweisen sucht,
unter Umständen also zu Thätlichkeiten übergehen muß: daher denn die beständigen Kämpfe
zwischen den männlichen Vögeln während der Paarungszeit. Wahrscheinlich macht jeder einzelne
Ehehalter böse Erfahrungen; vielleicht ist auch sein "Weib falscher Art, und die Arge liebt das
Neue": kurz, er hat alle seine Kräfte aufzubieten, um sich ihren Besitz zu erhalten. Eifersucht,
wüthende, rücksichtslose Eifersucht ist somit vollkommen entschuldigt. Allerdings gibt es einzelne
Vogelweibchen, welche dann, wenn sich ein solcher Eindringling zeigt, mit ihrem Gatten zu Schutz
und Trutz zusammenstehen und gemeinschaftlich mit letzterem über den Frevler herfallen; die meisten
aber lassen sich ablenken vom Pfade der Tugend und scheinen mehr am Manne als an dem Manne zu
hängen. Man hat sonderbare Beobachtungen gemacht. Vögel, deren Männchen getödtet wurde,
waren schon eine halbe Stunde später wieder verheirathet; der zweite Gespons wurde ebenfalls ein

Ein Blick auf das Leben der Geſammtheit.

Der Vogel, dem Stimme und Klang geworden, begrüßt den kommenden Morgen mit ſeinem
Geſange, thut Dies wenigſtens während der Paarungszeit, in welcher die Liebe ſein Weſen
erregt und vergeiſtigt; erſt dann beginnt er Nahrung zu ſuchen. Faſt alle nehmen zwei Mahlzeiten
zu ſich, eine am Morgen, eine gegen Abend, und widmen die Mittagsſtunden der Ruhe, der Reinigung
des Gefieders, der Ordnung ihrer Federn. Ausnahmen von dieſer Regel bemerken wir bei allen
Vögeln, welche hinſichtlich ihrer Nahrung mehr als andere auf einen günſtigen Zufall angewieſen
ſind. Die Raubvögel freſſen gewöhnlich nur einmal täglich; diejenigen unter ihnen, welche nicht
ſelbſt Beute machen, ſondern einfach Aas aufnehmen, ſind nicht einmal immer ſo glücklich, jeden Tag
freſſen zu können, ſondern müſſen oft tagelang hungern. Jn den meiſten Fällen wird nur diejenige
Speiſe verzehrt, welche der Tag erwerben ließ; einzelne aber, beiſpielsweiſe die Würger und mehrere
Klettervögel, namentlich Spechte und Kleiber, tragen ſich Speiſeſchätze zuſammen und bewahren dieſe
an gewiſſen Orten auf, legen ſich alſo förmlich Vorräthe an, nordamerikaniſche Spechte auch ſolche
für den Winter. Nach der Mahlzeit wird ein Trunk und dann ein Bad genommen, falls nicht Sand,
Staub und Schnee das Waſſer erſetzen muß. Nach dieſer Erquickung pflegt der Vogel in behaglicher
Ruhe der Verdauung; gegen das Ende derſelben neſtelt und putzt er ſeine Federn; dann tritt er einen
zweiten Jagdzug an. Fiel auch dieſer günſtig aus, ſo verfügt er ſich gegen Abend nach beſtimmten
Plätzen, um ſich hier der Geſellſchaft anderer zu widmen, oder der Singvogel läßt noch einmal ſeine
Lieder mit vollem Feuer ertönen; dann endlich begibt er ſich zur Ruhe, entweder gemeinſchaftlich mit
anderen nach beſtimmten Schlafplätzen oder während der Brutzeit in die Nähe ſeines Neſtes zur
brütenden Gattin oder zu den unmündigen Kindern, falls er nicht dieſe mit ſich führt. Das Zubett-
gehen geſchieht nicht ohne Weiteres, vielmehr erſt nach längeren Berathungen, nach vielfachem
Schwatzen, Lärmen und Plärren, bis endlich die Müdigkeit ihr Recht verlangt. Ungünſtige
Witterung ſtört und ändert die Regelmäßigkeit der Lebensweiſe, da das Wetter auf den Vogel über-
haupt den größten Einfluß übt.

Mit dem Aufleben der Natur erlebt auch der Vogel. Sein Fortpflanzungsgeſchäft fällt überall
mit dem Frühlinge zuſammen, in den Ländern unter den Wendekreiſen alſo mit Beginn der Regen-
zeit, welche, wie ich ſchon wiederholt zu bemerken Gelegenheit nahm, nicht dem Winter, ſondern
unſerem Frühlinge entſpricht. Abweichend von anderen Thieren leben die meiſten Vögel in
geſchloſſener Ehe auf Lebenszeit und nur wenige von ihnen, wie die Säugethiere, in Vielweiberei oder
richtiger Vielehigkeit, da eine Vielweiberei nur bei den Kurzflüglern ſtattfinden ſoll. Das Pärchen,
welches ſich einmal vereinigt, hält ſich während des ganzen Lebens treuinnig zuſammen, und nur aus-
nahmsweiſe geſchieht es, daß einer der Gatten, von heftiger Brunſt ergriffen, die Geſetze einer
geſchloſſenen Ehe mißachtet. Da es nun auch unter den Vögeln mehr Männchen als Weibchen gibt,
wird es erklärlich, daß von jeder Vogelart beſtändig einzelne Junggeſellen oder Witwer umherſtreifen,
in der Abſicht, ſich eine Gattin zu ſuchen, und läßt es ſich entſchuldigen, daß dieſe dann auf die
Heiligkeit der Ehe nicht immer gebührende Rückſicht nehmen, vielmehr einem Ehehalter ſein
Geſpons abwendig zu machen ſuchen. Die nothwendige Folge von ſolch frevelhaftem Beginnen und
Thun iſt, daß der Eheherr dem frechen Eindringling mit allen ſeinen Kräften zurückzuweiſen ſucht,
unter Umſtänden alſo zu Thätlichkeiten übergehen muß: daher denn die beſtändigen Kämpfe
zwiſchen den männlichen Vögeln während der Paarungszeit. Wahrſcheinlich macht jeder einzelne
Ehehalter böſe Erfahrungen; vielleicht iſt auch ſein „Weib falſcher Art, und die Arge liebt das
Neue“: kurz, er hat alle ſeine Kräfte aufzubieten, um ſich ihren Beſitz zu erhalten. Eiferſucht,
wüthende, rückſichtsloſe Eiferſucht iſt ſomit vollkommen entſchuldigt. Allerdings gibt es einzelne
Vogelweibchen, welche dann, wenn ſich ein ſolcher Eindringling zeigt, mit ihrem Gatten zu Schutz
und Trutz zuſammenſtehen und gemeinſchaftlich mit letzterem über den Frevler herfallen; die meiſten
aber laſſen ſich ablenken vom Pfade der Tugend und ſcheinen mehr am Manne als an dem Manne zu
hängen. Man hat ſonderbare Beobachtungen gemacht. Vögel, deren Männchen getödtet wurde,
waren ſchon eine halbe Stunde ſpäter wieder verheirathet; der zweite Geſpons wurde ebenfalls ein

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[990/1044] Ein Blick auf das Leben der Geſammtheit. Der Vogel, dem Stimme und Klang geworden, begrüßt den kommenden Morgen mit ſeinem Geſange, thut Dies wenigſtens während der Paarungszeit, in welcher die Liebe ſein Weſen erregt und vergeiſtigt; erſt dann beginnt er Nahrung zu ſuchen. Faſt alle nehmen zwei Mahlzeiten zu ſich, eine am Morgen, eine gegen Abend, und widmen die Mittagsſtunden der Ruhe, der Reinigung des Gefieders, der Ordnung ihrer Federn. Ausnahmen von dieſer Regel bemerken wir bei allen Vögeln, welche hinſichtlich ihrer Nahrung mehr als andere auf einen günſtigen Zufall angewieſen ſind. Die Raubvögel freſſen gewöhnlich nur einmal täglich; diejenigen unter ihnen, welche nicht ſelbſt Beute machen, ſondern einfach Aas aufnehmen, ſind nicht einmal immer ſo glücklich, jeden Tag freſſen zu können, ſondern müſſen oft tagelang hungern. Jn den meiſten Fällen wird nur diejenige Speiſe verzehrt, welche der Tag erwerben ließ; einzelne aber, beiſpielsweiſe die Würger und mehrere Klettervögel, namentlich Spechte und Kleiber, tragen ſich Speiſeſchätze zuſammen und bewahren dieſe an gewiſſen Orten auf, legen ſich alſo förmlich Vorräthe an, nordamerikaniſche Spechte auch ſolche für den Winter. Nach der Mahlzeit wird ein Trunk und dann ein Bad genommen, falls nicht Sand, Staub und Schnee das Waſſer erſetzen muß. Nach dieſer Erquickung pflegt der Vogel in behaglicher Ruhe der Verdauung; gegen das Ende derſelben neſtelt und putzt er ſeine Federn; dann tritt er einen zweiten Jagdzug an. Fiel auch dieſer günſtig aus, ſo verfügt er ſich gegen Abend nach beſtimmten Plätzen, um ſich hier der Geſellſchaft anderer zu widmen, oder der Singvogel läßt noch einmal ſeine Lieder mit vollem Feuer ertönen; dann endlich begibt er ſich zur Ruhe, entweder gemeinſchaftlich mit anderen nach beſtimmten Schlafplätzen oder während der Brutzeit in die Nähe ſeines Neſtes zur brütenden Gattin oder zu den unmündigen Kindern, falls er nicht dieſe mit ſich führt. Das Zubett- gehen geſchieht nicht ohne Weiteres, vielmehr erſt nach längeren Berathungen, nach vielfachem Schwatzen, Lärmen und Plärren, bis endlich die Müdigkeit ihr Recht verlangt. Ungünſtige Witterung ſtört und ändert die Regelmäßigkeit der Lebensweiſe, da das Wetter auf den Vogel über- haupt den größten Einfluß übt. Mit dem Aufleben der Natur erlebt auch der Vogel. Sein Fortpflanzungsgeſchäft fällt überall mit dem Frühlinge zuſammen, in den Ländern unter den Wendekreiſen alſo mit Beginn der Regen- zeit, welche, wie ich ſchon wiederholt zu bemerken Gelegenheit nahm, nicht dem Winter, ſondern unſerem Frühlinge entſpricht. Abweichend von anderen Thieren leben die meiſten Vögel in geſchloſſener Ehe auf Lebenszeit und nur wenige von ihnen, wie die Säugethiere, in Vielweiberei oder richtiger Vielehigkeit, da eine Vielweiberei nur bei den Kurzflüglern ſtattfinden ſoll. Das Pärchen, welches ſich einmal vereinigt, hält ſich während des ganzen Lebens treuinnig zuſammen, und nur aus- nahmsweiſe geſchieht es, daß einer der Gatten, von heftiger Brunſt ergriffen, die Geſetze einer geſchloſſenen Ehe mißachtet. Da es nun auch unter den Vögeln mehr Männchen als Weibchen gibt, wird es erklärlich, daß von jeder Vogelart beſtändig einzelne Junggeſellen oder Witwer umherſtreifen, in der Abſicht, ſich eine Gattin zu ſuchen, und läßt es ſich entſchuldigen, daß dieſe dann auf die Heiligkeit der Ehe nicht immer gebührende Rückſicht nehmen, vielmehr einem Ehehalter ſein Geſpons abwendig zu machen ſuchen. Die nothwendige Folge von ſolch frevelhaftem Beginnen und Thun iſt, daß der Eheherr dem frechen Eindringling mit allen ſeinen Kräften zurückzuweiſen ſucht, unter Umſtänden alſo zu Thätlichkeiten übergehen muß: daher denn die beſtändigen Kämpfe zwiſchen den männlichen Vögeln während der Paarungszeit. Wahrſcheinlich macht jeder einzelne Ehehalter böſe Erfahrungen; vielleicht iſt auch ſein „Weib falſcher Art, und die Arge liebt das Neue“: kurz, er hat alle ſeine Kräfte aufzubieten, um ſich ihren Beſitz zu erhalten. Eiferſucht, wüthende, rückſichtsloſe Eiferſucht iſt ſomit vollkommen entſchuldigt. Allerdings gibt es einzelne Vogelweibchen, welche dann, wenn ſich ein ſolcher Eindringling zeigt, mit ihrem Gatten zu Schutz und Trutz zuſammenſtehen und gemeinſchaftlich mit letzterem über den Frevler herfallen; die meiſten aber laſſen ſich ablenken vom Pfade der Tugend und ſcheinen mehr am Manne als an dem Manne zu hängen. Man hat ſonderbare Beobachtungen gemacht. Vögel, deren Männchen getödtet wurde, waren ſchon eine halbe Stunde ſpäter wieder verheirathet; der zweite Geſpons wurde ebenfalls ein

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867, S. 990. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben04_1867/1044>, abgerufen am 22.11.2024.