Schönheit dem der meisten deutschen Sänger gar sehr nachsteht; er dient aber doch dazu, eine Gegend zu beleben und bringt in die flötenden Gesänge der Gartengrasmücke, des Weidenlaubsängers und anderer eine angenehme Manchfaltigkeit." Naumann nennt den Gesang angenehm und sagt, daß man ihn für kurz halten könnte, weil man in der Entfernung nur die hellpfeifende, flötenartige, wohl- tönende Schlußstrophe höre, während er in der That aus einem langen Piano und jenem kurzen Schlußforte bestehe. "Das Piano ist zusammengesetzt aus vielerlei abwechselnden, pfeifenden und zirpenden Tönen, welche sehr schnell auf einander folgen und leise hergeleiert werden; aber das beschließende Forte wird mit schöner Flötenstimme und mit voller Kehle gesungen." "Die Doru- grasmücke", fährt mein Vater fort, "läßt ihren Gesang nicht blos im Sitzen und Hüpfen, sondern
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Die Dorngrasmücke (Curruca cinerea).
auch im Fluge hören. Sie kommt nämlich singend auf die höchste Spitze eines Busches herauf, steigt flatternd funfzehn bis dreißig Ellen in die Höhe und stürzt sich, immer singend, entweder flatternd in schiefer, oder mit angezogenen Schwingen fast in senkrechter Richtung wieder herab." Hierdurch macht sie sich dem kundigen Beobachter schon von Weitem kenntlich. Vor dem Menschen nimmt sie sich wohl in Acht. Bei uns ist sie zwar nicht gerade scheu, aber doch vorsichtig genug. "Merkt sie, daß man sie verfolgt, dann verbirgt sie sich so sorgfältig in dichtem Gesträuch oder hohem Grase, daß man ihr oft lange vergeblich nachjagen muß;" sie sucht sich, wie Naumann bemerkt, "durch das Gebüsch fortzuschleichen". Jn Spanien habe ich sie so scheu gefunden, daß ich wochenlang ihr ver- geblich nachstellte. Aeußerst angenehm ist die Heiterkeit dieses Vogels. "Jch erinnere mich nicht",
Dorngrasmücke.
Schönheit dem der meiſten deutſchen Sänger gar ſehr nachſteht; er dient aber doch dazu, eine Gegend zu beleben und bringt in die flötenden Geſänge der Gartengrasmücke, des Weidenlaubſängers und anderer eine angenehme Manchfaltigkeit.‟ Naumann nennt den Geſang angenehm und ſagt, daß man ihn für kurz halten könnte, weil man in der Entfernung nur die hellpfeifende, flötenartige, wohl- tönende Schlußſtrophe höre, während er in der That aus einem langen Piano und jenem kurzen Schlußforte beſtehe. „Das Piano iſt zuſammengeſetzt aus vielerlei abwechſelnden, pfeifenden und zirpenden Tönen, welche ſehr ſchnell auf einander folgen und leiſe hergeleiert werden; aber das beſchließende Forte wird mit ſchöner Flötenſtimme und mit voller Kehle geſungen.‟ „Die Doru- grasmücke‟, fährt mein Vater fort, „läßt ihren Geſang nicht blos im Sitzen und Hüpfen, ſondern
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Die Dorngrasmücke (Curruca cinerea).
auch im Fluge hören. Sie kommt nämlich ſingend auf die höchſte Spitze eines Buſches herauf, ſteigt flatternd funfzehn bis dreißig Ellen in die Höhe und ſtürzt ſich, immer ſingend, entweder flatternd in ſchiefer, oder mit angezogenen Schwingen faſt in ſenkrechter Richtung wieder herab.‟ Hierdurch macht ſie ſich dem kundigen Beobachter ſchon von Weitem kenntlich. Vor dem Menſchen nimmt ſie ſich wohl in Acht. Bei uns iſt ſie zwar nicht gerade ſcheu, aber doch vorſichtig genug. „Merkt ſie, daß man ſie verfolgt, dann verbirgt ſie ſich ſo ſorgfältig in dichtem Geſträuch oder hohem Graſe, daß man ihr oft lange vergeblich nachjagen muß;‟ ſie ſucht ſich, wie Naumann bemerkt, „durch das Gebüſch fortzuſchleichen‟. Jn Spanien habe ich ſie ſo ſcheu gefunden, daß ich wochenlang ihr ver- geblich nachſtellte. Aeußerſt angenehm iſt die Heiterkeit dieſes Vogels. „Jch erinnere mich nicht‟,
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Dorngrasmücke.
Schönheit dem der meiſten deutſchen Sänger gar ſehr nachſteht; er dient aber doch dazu, eine Gegend
zu beleben und bringt in die flötenden Geſänge der Gartengrasmücke, des Weidenlaubſängers und
anderer eine angenehme Manchfaltigkeit.‟ Naumann nennt den Geſang angenehm und ſagt, daß
man ihn für kurz halten könnte, weil man in der Entfernung nur die hellpfeifende, flötenartige, wohl-
tönende Schlußſtrophe höre, während er in der That aus einem langen Piano und jenem kurzen
Schlußforte beſtehe. „Das Piano iſt zuſammengeſetzt aus vielerlei abwechſelnden, pfeifenden und
zirpenden Tönen, welche ſehr ſchnell auf einander folgen und leiſe hergeleiert werden; aber das
beſchließende Forte wird mit ſchöner Flötenſtimme und mit voller Kehle geſungen.‟ „Die Doru-
grasmücke‟, fährt mein Vater fort, „läßt ihren Geſang nicht blos im Sitzen und Hüpfen, ſondern
[Abbildung Die Dorngrasmücke (Curruca cinerea).]
auch im Fluge hören. Sie kommt nämlich ſingend auf die höchſte Spitze eines Buſches herauf, ſteigt
flatternd funfzehn bis dreißig Ellen in die Höhe und ſtürzt ſich, immer ſingend, entweder flatternd in
ſchiefer, oder mit angezogenen Schwingen faſt in ſenkrechter Richtung wieder herab.‟ Hierdurch
macht ſie ſich dem kundigen Beobachter ſchon von Weitem kenntlich. Vor dem Menſchen nimmt ſie
ſich wohl in Acht. Bei uns iſt ſie zwar nicht gerade ſcheu, aber doch vorſichtig genug. „Merkt ſie,
daß man ſie verfolgt, dann verbirgt ſie ſich ſo ſorgfältig in dichtem Geſträuch oder hohem Graſe, daß
man ihr oft lange vergeblich nachjagen muß;‟ ſie ſucht ſich, wie Naumann bemerkt, „durch das
Gebüſch fortzuſchleichen‟. Jn Spanien habe ich ſie ſo ſcheu gefunden, daß ich wochenlang ihr ver-
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 847. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/895>, abgerufen am 22.11.2024.
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