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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866.

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Gänsegeier.
wüstlich. Er fraß sofort nach seiner Gefangennahme zwei Steindrosseln, einen Kuckuck, am
andern Morgen einen Milan, einen halbgroßen Karpfen und die Eingeweide verschiedener Vögel.
Drei Wochen später war seine Freßlust so groß, daß er kaum mehr gesättigt werden konnte. Binnen
vierundzwanzig Stunden verzehrte er zwei Kalbseingeweide (Gekröse, Herz, Lunge, Leber u. s. w.),
verschlang daneben noch alles, was in seinen Bereich kam, Holz und Erdstückchen, und erhielt außerdem
noch manchen Biffen von den Reisenden des Dampfschisses. Wenn man ihm ein ganzes Thier
vorlegte, so suchte er schon jetzt die Bauchhöhle zu öffnen und verfuhr, wenn man ihm dabei geholfen
hatte, ganz nach Art seiner Bäter. Später ließ er den übrigen Körper der Vögel stets so lange
unberührt, bis er die Bauchhöhle geleert hatte. "Jn seinem Heißhunger", sagt Baldamus, "war
er stets so ungestüm, daß er, sobald er mich ohne Futter in den großen Hühnerstall kommen sah,
wüthend auf mich losstürzte, ein ununterbrochenes Geschrei hören ließ, den Kopf heftig schüttelte und
sobald er mich erreichen konnte, in die Füße und Kleider kniff. Bald wußte er mich sehr wohl von
andern zu unterscheiden und wendete sich auch, wenn ich mit mehreren Leuten eintrat, stets an mich."

Es ist eine Ausnahme, wenn ein Gänsegeier zahm wird, gewöhnlich bleibt er menschenscheu,
tückisch und bissig im Käfig, auch seinem Herrn gegenüber. "Man sagt nicht zu viel", meint mein
Bruder, "wenn man behauptet, daß er immer in gewissem Grade gefährlich bleibe. Nur ein einziges
Mal habe ich in dem Hofe eines Wirthshauses zu Bayonne einen wirklich gezähmten Gänsegeier
gesehen. Er hing freilich an einer langen, dünnen Kette und war in seinen Bewegungen hierdurch
wesentlich gehindert. Dieser Vogel kam auf den Ruf seines Pflegers von der Stange herab geflogen,
näherte sich vertraulich dem Manne und duldete es sogar, daß dieser ihn zwischen die Beine nahm und
ihm Kopf, Hals und Rücken streichelte. Mit den im Wirthshaus befindlichen Hunden lebte er eben-
falls in größter Einigkeit." Auch Lazar, welcher den Gänsegeier einen tückischen, traurigen Gesellen
nennt, der mit heimtückischen Blödsinnigen eine gewisse Aehnlichkeit habe, kannte zwei ausnahmsweise
zahme Vögel dieser Art. Der eine, welcher verwundet worden war, folgte seinem Herrn fliegend bis
auf das Feld hinaus, unternahm selbständig kleine Ausflüge und blieb zuweilen einen oder zwei Tage
aus, kam aber immer wieder zu seinem Herrn zurück. Ein Fleischer hielt einen andern Gänsegeier
mehrere Jahre lang lebend auf seinem Hofe. Dieser Geier lebte in größter Freundschaft mit einem
alten Fleischerhunde. Als letzterer starb, wurde der Leichnam dem Geier vorgeworfen, dieser aber
rührte seinen alten Freund, obgleich er hungrig war, nicht an, wurde traurig, verschmähte fortan alle
Nahrung und lag am achten Tage verendet neben dem todten Hunde.

Jn Egypten wird der Gänsegeier nicht selten gefangen, weil man die Federn in vielfacher Weise
benutzt. Namentlich die Schwung- und Steuerfedern finden mancherlei Verwendung zu Schmuck-
und Wirthschaftsgegenständen. Auf Kreta und Arabien soll der Balg an Kürschner verkauft und
von diesen gegerbt und zu einem Pelzwerk zubereitet werden, welchen man theuer bezahlt. Die
arabischen und türkischen Herren verwendeten nach Belon große Summen auf derartige Pelze.
Gegenwärtig scheint wenigstens diese Benutzung des Geierbalges in Egypten nicht mehr üblich zu sein,
ich meinestheils habe nie Etwas davon vernommen.



Die Schopfgeier (Vultures) unterscheiden sich von den Gänsegeiern durch kräftigeren Leib,
kürzeren, stärkeren Hals, größeren Kopf mit kräftigerem, mehr adlerartigen Schnabel und breiten
Flügeln. Auch das Gefieder ist von dem der Gänsegeier verschieden; es ist dichter und weicher. Der
Kopf ist mit kurzem, krausen und wolligen Flaum bekleidet, welcher am Hinterkopf einen wenig
hervortretenden Schopf bildet. Der Hinterhals und einige Stellen des Vorderhalses sind nackt. Die
Krause besteht aus kurzen, breiten, kaum zerschlissenen Federn von dunkler Farbe.

Europa beherbergt einen Vertreter dieser Sippe, den Kuttengeier (Vultur cinereus), welcher
sonst auch grauer, gemeiner, großer und brauner Geier genannt wird. Er ist der größte Vogel

Gänſegeier.
wüſtlich. Er fraß ſofort nach ſeiner Gefangennahme zwei Steindroſſeln, einen Kuckuck, am
andern Morgen einen Milan, einen halbgroßen Karpfen und die Eingeweide verſchiedener Vögel.
Drei Wochen ſpäter war ſeine Freßluſt ſo groß, daß er kaum mehr geſättigt werden konnte. Binnen
vierundzwanzig Stunden verzehrte er zwei Kalbseingeweide (Gekröſe, Herz, Lunge, Leber u. ſ. w.),
verſchlang daneben noch alles, was in ſeinen Bereich kam, Holz und Erdſtückchen, und erhielt außerdem
noch manchen Biffen von den Reiſenden des Dampfſchiſſes. Wenn man ihm ein ganzes Thier
vorlegte, ſo ſuchte er ſchon jetzt die Bauchhöhle zu öffnen und verfuhr, wenn man ihm dabei geholfen
hatte, ganz nach Art ſeiner Bäter. Später ließ er den übrigen Körper der Vögel ſtets ſo lange
unberührt, bis er die Bauchhöhle geleert hatte. „Jn ſeinem Heißhunger‟, ſagt Baldamus, „war
er ſtets ſo ungeſtüm, daß er, ſobald er mich ohne Futter in den großen Hühnerſtall kommen ſah,
wüthend auf mich losſtürzte, ein ununterbrochenes Geſchrei hören ließ, den Kopf heftig ſchüttelte und
ſobald er mich erreichen konnte, in die Füße und Kleider kniff. Bald wußte er mich ſehr wohl von
andern zu unterſcheiden und wendete ſich auch, wenn ich mit mehreren Leuten eintrat, ſtets an mich.‟

Es iſt eine Ausnahme, wenn ein Gänſegeier zahm wird, gewöhnlich bleibt er menſchenſcheu,
tückiſch und biſſig im Käfig, auch ſeinem Herrn gegenüber. „Man ſagt nicht zu viel‟, meint mein
Bruder, „wenn man behauptet, daß er immer in gewiſſem Grade gefährlich bleibe. Nur ein einziges
Mal habe ich in dem Hofe eines Wirthshauſes zu Bayonne einen wirklich gezähmten Gänſegeier
geſehen. Er hing freilich an einer langen, dünnen Kette und war in ſeinen Bewegungen hierdurch
weſentlich gehindert. Dieſer Vogel kam auf den Ruf ſeines Pflegers von der Stange herab geflogen,
näherte ſich vertraulich dem Manne und duldete es ſogar, daß dieſer ihn zwiſchen die Beine nahm und
ihm Kopf, Hals und Rücken ſtreichelte. Mit den im Wirthshaus befindlichen Hunden lebte er eben-
falls in größter Einigkeit.‟ Auch Lázár, welcher den Gänſegeier einen tückiſchen, traurigen Geſellen
nennt, der mit heimtückiſchen Blödſinnigen eine gewiſſe Aehnlichkeit habe, kannte zwei ausnahmsweiſe
zahme Vögel dieſer Art. Der eine, welcher verwundet worden war, folgte ſeinem Herrn fliegend bis
auf das Feld hinaus, unternahm ſelbſtändig kleine Ausflüge und blieb zuweilen einen oder zwei Tage
aus, kam aber immer wieder zu ſeinem Herrn zurück. Ein Fleiſcher hielt einen andern Gänſegeier
mehrere Jahre lang lebend auf ſeinem Hofe. Dieſer Geier lebte in größter Freundſchaft mit einem
alten Fleiſcherhunde. Als letzterer ſtarb, wurde der Leichnam dem Geier vorgeworfen, dieſer aber
rührte ſeinen alten Freund, obgleich er hungrig war, nicht an, wurde traurig, verſchmähte fortan alle
Nahrung und lag am achten Tage verendet neben dem todten Hunde.

Jn Egypten wird der Gänſegeier nicht ſelten gefangen, weil man die Federn in vielfacher Weiſe
benutzt. Namentlich die Schwung- und Steuerfedern finden mancherlei Verwendung zu Schmuck-
und Wirthſchaftsgegenſtänden. Auf Kreta und Arabien ſoll der Balg an Kürſchner verkauft und
von dieſen gegerbt und zu einem Pelzwerk zubereitet werden, welchen man theuer bezahlt. Die
arabiſchen und türkiſchen Herren verwendeten nach Belon große Summen auf derartige Pelze.
Gegenwärtig ſcheint wenigſtens dieſe Benutzung des Geierbalges in Egypten nicht mehr üblich zu ſein,
ich meinestheils habe nie Etwas davon vernommen.



Die Schopfgeier (Vultures) unterſcheiden ſich von den Gänſegeiern durch kräftigeren Leib,
kürzeren, ſtärkeren Hals, größeren Kopf mit kräftigerem, mehr adlerartigen Schnabel und breiten
Flügeln. Auch das Gefieder iſt von dem der Gänſegeier verſchieden; es iſt dichter und weicher. Der
Kopf iſt mit kurzem, krauſen und wolligen Flaum bekleidet, welcher am Hinterkopf einen wenig
hervortretenden Schopf bildet. Der Hinterhals und einige Stellen des Vorderhalſes ſind nackt. Die
Krauſe beſteht aus kurzen, breiten, kaum zerſchliſſenen Federn von dunkler Farbe.

Europa beherbergt einen Vertreter dieſer Sippe, den Kuttengeier (Vultur cinereus), welcher
ſonſt auch grauer, gemeiner, großer und brauner Geier genannt wird. Er iſt der größte Vogel

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[567/0599] Gänſegeier. wüſtlich. Er fraß ſofort nach ſeiner Gefangennahme zwei Steindroſſeln, einen Kuckuck, am andern Morgen einen Milan, einen halbgroßen Karpfen und die Eingeweide verſchiedener Vögel. Drei Wochen ſpäter war ſeine Freßluſt ſo groß, daß er kaum mehr geſättigt werden konnte. Binnen vierundzwanzig Stunden verzehrte er zwei Kalbseingeweide (Gekröſe, Herz, Lunge, Leber u. ſ. w.), verſchlang daneben noch alles, was in ſeinen Bereich kam, Holz und Erdſtückchen, und erhielt außerdem noch manchen Biffen von den Reiſenden des Dampfſchiſſes. Wenn man ihm ein ganzes Thier vorlegte, ſo ſuchte er ſchon jetzt die Bauchhöhle zu öffnen und verfuhr, wenn man ihm dabei geholfen hatte, ganz nach Art ſeiner Bäter. Später ließ er den übrigen Körper der Vögel ſtets ſo lange unberührt, bis er die Bauchhöhle geleert hatte. „Jn ſeinem Heißhunger‟, ſagt Baldamus, „war er ſtets ſo ungeſtüm, daß er, ſobald er mich ohne Futter in den großen Hühnerſtall kommen ſah, wüthend auf mich losſtürzte, ein ununterbrochenes Geſchrei hören ließ, den Kopf heftig ſchüttelte und ſobald er mich erreichen konnte, in die Füße und Kleider kniff. Bald wußte er mich ſehr wohl von andern zu unterſcheiden und wendete ſich auch, wenn ich mit mehreren Leuten eintrat, ſtets an mich.‟ Es iſt eine Ausnahme, wenn ein Gänſegeier zahm wird, gewöhnlich bleibt er menſchenſcheu, tückiſch und biſſig im Käfig, auch ſeinem Herrn gegenüber. „Man ſagt nicht zu viel‟, meint mein Bruder, „wenn man behauptet, daß er immer in gewiſſem Grade gefährlich bleibe. Nur ein einziges Mal habe ich in dem Hofe eines Wirthshauſes zu Bayonne einen wirklich gezähmten Gänſegeier geſehen. Er hing freilich an einer langen, dünnen Kette und war in ſeinen Bewegungen hierdurch weſentlich gehindert. Dieſer Vogel kam auf den Ruf ſeines Pflegers von der Stange herab geflogen, näherte ſich vertraulich dem Manne und duldete es ſogar, daß dieſer ihn zwiſchen die Beine nahm und ihm Kopf, Hals und Rücken ſtreichelte. Mit den im Wirthshaus befindlichen Hunden lebte er eben- falls in größter Einigkeit.‟ Auch Lázár, welcher den Gänſegeier einen tückiſchen, traurigen Geſellen nennt, der mit heimtückiſchen Blödſinnigen eine gewiſſe Aehnlichkeit habe, kannte zwei ausnahmsweiſe zahme Vögel dieſer Art. Der eine, welcher verwundet worden war, folgte ſeinem Herrn fliegend bis auf das Feld hinaus, unternahm ſelbſtändig kleine Ausflüge und blieb zuweilen einen oder zwei Tage aus, kam aber immer wieder zu ſeinem Herrn zurück. Ein Fleiſcher hielt einen andern Gänſegeier mehrere Jahre lang lebend auf ſeinem Hofe. Dieſer Geier lebte in größter Freundſchaft mit einem alten Fleiſcherhunde. Als letzterer ſtarb, wurde der Leichnam dem Geier vorgeworfen, dieſer aber rührte ſeinen alten Freund, obgleich er hungrig war, nicht an, wurde traurig, verſchmähte fortan alle Nahrung und lag am achten Tage verendet neben dem todten Hunde. Jn Egypten wird der Gänſegeier nicht ſelten gefangen, weil man die Federn in vielfacher Weiſe benutzt. Namentlich die Schwung- und Steuerfedern finden mancherlei Verwendung zu Schmuck- und Wirthſchaftsgegenſtänden. Auf Kreta und Arabien ſoll der Balg an Kürſchner verkauft und von dieſen gegerbt und zu einem Pelzwerk zubereitet werden, welchen man theuer bezahlt. Die arabiſchen und türkiſchen Herren verwendeten nach Belon große Summen auf derartige Pelze. Gegenwärtig ſcheint wenigſtens dieſe Benutzung des Geierbalges in Egypten nicht mehr üblich zu ſein, ich meinestheils habe nie Etwas davon vernommen. Die Schopfgeier (Vultures) unterſcheiden ſich von den Gänſegeiern durch kräftigeren Leib, kürzeren, ſtärkeren Hals, größeren Kopf mit kräftigerem, mehr adlerartigen Schnabel und breiten Flügeln. Auch das Gefieder iſt von dem der Gänſegeier verſchieden; es iſt dichter und weicher. Der Kopf iſt mit kurzem, krauſen und wolligen Flaum bekleidet, welcher am Hinterkopf einen wenig hervortretenden Schopf bildet. Der Hinterhals und einige Stellen des Vorderhalſes ſind nackt. Die Krauſe beſteht aus kurzen, breiten, kaum zerſchliſſenen Federn von dunkler Farbe. Europa beherbergt einen Vertreter dieſer Sippe, den Kuttengeier (Vultur cinereus), welcher ſonſt auch grauer, gemeiner, großer und brauner Geier genannt wird. Er iſt der größte Vogel

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 567. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/599>, abgerufen am 26.11.2024.