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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866.

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Die Fänger. Raubvögel. Geier.

Ueber das Brutgeschäft des fahlen Gänsegeiers haben neuerdings Baldamus, Krüper,
Simmpson
und mein Bruder berichtet. Es wird genügen, wenn ich letzteren seine Beobachtungen
erzählen lasse. Sie enthalten im wesentlichen Alles, was bisher festgestellt wurde.

"Die Brutzeit des Gänsegeiers fällt in Südeuropa in die letzte Hälfte des Februar oder in den
Anfang des März. Der Horst wird gewöhnlich in einer Felsenhöhle oder wenigstens unter einem
überhängenden Felsen errichtet und besteht aus einer dünnen Schicht nicht sehr starker Reiser. Jn
diesen Horst legt das Weibchen ein weißes Ei von der Größe eines Gänseeies mit dicker Schale, welches
es mit dem Männchen gemeinschaftlich bebrütet und zwar so, daß das Männchen in der Regel während
der Vormittags- und ersten Nachmittagsstunden dem Brutgeschäft obliegt, das Weibchen dagegen den
übrigen Theil des Tages im Neste verweilt. Auf Bäumen horstet der Gänsegeier nie. An einem
günstigen Brutplatze findet man immer mehrere Horste in einer Entfernung von etwa 100 bis 200
Schritt von einander. Eigenthümlich ist, daß die Nistgesellschaften an solchen Felswänden keineswegs
ausschließlich aus Geiern bestehen, sondern daß die Geier ruhig neben und unter sich auch den Geier-
adler
oder Bonelli's Habichtsadler dulden, ja selbst dem schwarzen Storch gestatten,
unmittelbar neben ihrem Horst sich anzusiedeln und zu nisten. Auf den Eiern sitzen die Geier ziemlich
fest, kommen erst auf lautes Anrufen aus der Höhle hervor, stellen sich auf den Rand derselben und
sehen sich neugierig nach dem Störer um, trippeln auch wohl, wenn dieser sich gut verborgen hatte,
nach dem Neste zurück und verlassen letzteres überhaupt nur, wenn sie sich wirklich von der ihnen
drohenden Gefahr überzeugt haben. Bei meinen Jagden in der Nähe des Escorial machte ich mir
oft das Vergnügen, die brütenden Geier vom Neste aufzurufen. Sie erschienen auf jedesmaligen
Anruf, schauten sich sorgfältig nach allen Seiten um und zogen sich dann, wenn sie mich nicht
gewahren konnten, wieder in das Nest zurück. Ein nach ihnen abgefeuerter Schuß scheucht freilich die
ganze brütende Gesellschaft auf, und jeder Einzelne sucht mit raschen Flügelschlägen das Weite.
Dann währt es lange Zeit, ehe sie sich wieder sehen lassen; man späht vergeblich nach allen Seiten
hin, die Gegend erscheint mit einem Male wie ausgestorben, und von den gewaltigen Vögeln ist auch
nicht das Geringste mehr zu entdecken. Erst nach ungefähr einer halben Stunde erscheint Einer nach
dem Andern. Jeder streicht mehrere Male am Nistplatze vorbei, hält sorgfältig Umschau und schießt
dann plötzlich, aber mit einer gewissen Heimlichkeit, nach dem Horste hernieder, verweilt noch eine Zeit
lang vorn auf dem Felsenrande, späht nochmals vorsichtig und mißtrauisch in die Runde und schleicht
sich nun erst wieder in das Junere seiner Felsenhöhle zurück. Es ist vielfach behauptet worden, daß
diese Geier den das Nest bedrohenden Jäger muthig angriffen; diese Angabe entbehrt jedoch nach
meinen Beobachtungen jedes Grundes."

"Noch ist es unbekannt, wie viel Tage der Bebrütung erforderlich sind, um das große Ei zu
zeitigen; man weiß nur, daß gegen Ende des März bereits einzelne der Jungen ausgeschlüpft sind.
Bezeichnend für diese Vögel, welche niemals Wohlgerüche verbreiten, ist, daß nicht blos das
ausgeschlüpfte Junge, sondern schon das sich im Ei entwickelnde, ja selbst Dotter und Eiweiß heftig
nach Moschus stinken. Das Ausblasen eines solchen Eies erfordert in der That die ganze Gleich-
müthigkeit eines begeisterten Naturforschers, und selbst dieser muß gewaltsam ankämpfen, um des
aufsteigenden Ekels sich zu erwehren."

"Das Junge, welches einem kleinen Wollklumpen gleicht, wird von beiden Alten mit vieler Liebe
behandelt und sorgfältig geäzt, zuerst mit den durch die Verwesung bereits gänzlich zersetzten Fleisch-
theilen eines Aases, später mit kräftigerer Nahrung, freilich immer mit solcher, welche derselben Quelle
entstammt. Daß diese Aezung nicht dazu beiträgt, den Geruch der Geier zu vermindern, kann man
sich denken. Dank der reichlichen Fütterung wächst das Junge verhältnißmäßig rasch heran; jedoch
währt es immerhin mindestens drei Monate, bevor es flugfähig und damit selbständig wird."

Baldamus nahm einen jungen Gänsegeier aus dem Horste. Der Vogel hatte die Größe eines
starken Hahns und war überall mit dichtem, schmuzigweißen, wolligen Flaum bedeckt. Namentlich
durch die Nasenlöcher verbreitete er einen höchst empfindlichen Geruch. Sein Hunger war unver-

Die Fänger. Raubvögel. Geier.

Ueber das Brutgeſchäft des fahlen Gänſegeiers haben neuerdings Baldamus, Krüper,
Simmpſon
und mein Bruder berichtet. Es wird genügen, wenn ich letzteren ſeine Beobachtungen
erzählen laſſe. Sie enthalten im weſentlichen Alles, was bisher feſtgeſtellt wurde.

„Die Brutzeit des Gänſegeiers fällt in Südeuropa in die letzte Hälfte des Februar oder in den
Anfang des März. Der Horſt wird gewöhnlich in einer Felſenhöhle oder wenigſtens unter einem
überhängenden Felſen errichtet und beſteht aus einer dünnen Schicht nicht ſehr ſtarker Reiſer. Jn
dieſen Horſt legt das Weibchen ein weißes Ei von der Größe eines Gänſeeies mit dicker Schale, welches
es mit dem Männchen gemeinſchaftlich bebrütet und zwar ſo, daß das Männchen in der Regel während
der Vormittags- und erſten Nachmittagsſtunden dem Brutgeſchäft obliegt, das Weibchen dagegen den
übrigen Theil des Tages im Neſte verweilt. Auf Bäumen horſtet der Gänſegeier nie. An einem
günſtigen Brutplatze findet man immer mehrere Horſte in einer Entfernung von etwa 100 bis 200
Schritt von einander. Eigenthümlich iſt, daß die Niſtgeſellſchaften an ſolchen Felswänden keineswegs
ausſchließlich aus Geiern beſtehen, ſondern daß die Geier ruhig neben und unter ſich auch den Geier-
adler
oder Bonelli’s Habichtsadler dulden, ja ſelbſt dem ſchwarzen Storch geſtatten,
unmittelbar neben ihrem Horſt ſich anzuſiedeln und zu niſten. Auf den Eiern ſitzen die Geier ziemlich
feſt, kommen erſt auf lautes Anrufen aus der Höhle hervor, ſtellen ſich auf den Rand derſelben und
ſehen ſich neugierig nach dem Störer um, trippeln auch wohl, wenn dieſer ſich gut verborgen hatte,
nach dem Neſte zurück und verlaſſen letzteres überhaupt nur, wenn ſie ſich wirklich von der ihnen
drohenden Gefahr überzeugt haben. Bei meinen Jagden in der Nähe des Escorial machte ich mir
oft das Vergnügen, die brütenden Geier vom Neſte aufzurufen. Sie erſchienen auf jedesmaligen
Anruf, ſchauten ſich ſorgfältig nach allen Seiten um und zogen ſich dann, wenn ſie mich nicht
gewahren konnten, wieder in das Neſt zurück. Ein nach ihnen abgefeuerter Schuß ſcheucht freilich die
ganze brütende Geſellſchaft auf, und jeder Einzelne ſucht mit raſchen Flügelſchlägen das Weite.
Dann währt es lange Zeit, ehe ſie ſich wieder ſehen laſſen; man ſpäht vergeblich nach allen Seiten
hin, die Gegend erſcheint mit einem Male wie ausgeſtorben, und von den gewaltigen Vögeln iſt auch
nicht das Geringſte mehr zu entdecken. Erſt nach ungefähr einer halben Stunde erſcheint Einer nach
dem Andern. Jeder ſtreicht mehrere Male am Niſtplatze vorbei, hält ſorgfältig Umſchau und ſchießt
dann plötzlich, aber mit einer gewiſſen Heimlichkeit, nach dem Horſte hernieder, verweilt noch eine Zeit
lang vorn auf dem Felſenrande, ſpäht nochmals vorſichtig und mißtrauiſch in die Runde und ſchleicht
ſich nun erſt wieder in das Junere ſeiner Felſenhöhle zurück. Es iſt vielfach behauptet worden, daß
dieſe Geier den das Neſt bedrohenden Jäger muthig angriffen; dieſe Angabe entbehrt jedoch nach
meinen Beobachtungen jedes Grundes.‟

„Noch iſt es unbekannt, wie viel Tage der Bebrütung erforderlich ſind, um das große Ei zu
zeitigen; man weiß nur, daß gegen Ende des März bereits einzelne der Jungen ausgeſchlüpft ſind.
Bezeichnend für dieſe Vögel, welche niemals Wohlgerüche verbreiten, iſt, daß nicht blos das
ausgeſchlüpfte Junge, ſondern ſchon das ſich im Ei entwickelnde, ja ſelbſt Dotter und Eiweiß heftig
nach Moſchus ſtinken. Das Ausblaſen eines ſolchen Eies erfordert in der That die ganze Gleich-
müthigkeit eines begeiſterten Naturforſchers, und ſelbſt dieſer muß gewaltſam ankämpfen, um des
aufſteigenden Ekels ſich zu erwehren.‟

„Das Junge, welches einem kleinen Wollklumpen gleicht, wird von beiden Alten mit vieler Liebe
behandelt und ſorgfältig geäzt, zuerſt mit den durch die Verweſung bereits gänzlich zerſetzten Fleiſch-
theilen eines Aaſes, ſpäter mit kräftigerer Nahrung, freilich immer mit ſolcher, welche derſelben Quelle
entſtammt. Daß dieſe Aezung nicht dazu beiträgt, den Geruch der Geier zu vermindern, kann man
ſich denken. Dank der reichlichen Fütterung wächſt das Junge verhältnißmäßig raſch heran; jedoch
währt es immerhin mindeſtens drei Monate, bevor es flugfähig und damit ſelbſtändig wird.‟

Baldamus nahm einen jungen Gänſegeier aus dem Horſte. Der Vogel hatte die Größe eines
ſtarken Hahns und war überall mit dichtem, ſchmuzigweißen, wolligen Flaum bedeckt. Namentlich
durch die Naſenlöcher verbreitete er einen höchſt empfindlichen Geruch. Sein Hunger war unver-

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[566/0598] Die Fänger. Raubvögel. Geier. Ueber das Brutgeſchäft des fahlen Gänſegeiers haben neuerdings Baldamus, Krüper, Simmpſon und mein Bruder berichtet. Es wird genügen, wenn ich letzteren ſeine Beobachtungen erzählen laſſe. Sie enthalten im weſentlichen Alles, was bisher feſtgeſtellt wurde. „Die Brutzeit des Gänſegeiers fällt in Südeuropa in die letzte Hälfte des Februar oder in den Anfang des März. Der Horſt wird gewöhnlich in einer Felſenhöhle oder wenigſtens unter einem überhängenden Felſen errichtet und beſteht aus einer dünnen Schicht nicht ſehr ſtarker Reiſer. Jn dieſen Horſt legt das Weibchen ein weißes Ei von der Größe eines Gänſeeies mit dicker Schale, welches es mit dem Männchen gemeinſchaftlich bebrütet und zwar ſo, daß das Männchen in der Regel während der Vormittags- und erſten Nachmittagsſtunden dem Brutgeſchäft obliegt, das Weibchen dagegen den übrigen Theil des Tages im Neſte verweilt. Auf Bäumen horſtet der Gänſegeier nie. An einem günſtigen Brutplatze findet man immer mehrere Horſte in einer Entfernung von etwa 100 bis 200 Schritt von einander. Eigenthümlich iſt, daß die Niſtgeſellſchaften an ſolchen Felswänden keineswegs ausſchließlich aus Geiern beſtehen, ſondern daß die Geier ruhig neben und unter ſich auch den Geier- adler oder Bonelli’s Habichtsadler dulden, ja ſelbſt dem ſchwarzen Storch geſtatten, unmittelbar neben ihrem Horſt ſich anzuſiedeln und zu niſten. Auf den Eiern ſitzen die Geier ziemlich feſt, kommen erſt auf lautes Anrufen aus der Höhle hervor, ſtellen ſich auf den Rand derſelben und ſehen ſich neugierig nach dem Störer um, trippeln auch wohl, wenn dieſer ſich gut verborgen hatte, nach dem Neſte zurück und verlaſſen letzteres überhaupt nur, wenn ſie ſich wirklich von der ihnen drohenden Gefahr überzeugt haben. Bei meinen Jagden in der Nähe des Escorial machte ich mir oft das Vergnügen, die brütenden Geier vom Neſte aufzurufen. Sie erſchienen auf jedesmaligen Anruf, ſchauten ſich ſorgfältig nach allen Seiten um und zogen ſich dann, wenn ſie mich nicht gewahren konnten, wieder in das Neſt zurück. Ein nach ihnen abgefeuerter Schuß ſcheucht freilich die ganze brütende Geſellſchaft auf, und jeder Einzelne ſucht mit raſchen Flügelſchlägen das Weite. Dann währt es lange Zeit, ehe ſie ſich wieder ſehen laſſen; man ſpäht vergeblich nach allen Seiten hin, die Gegend erſcheint mit einem Male wie ausgeſtorben, und von den gewaltigen Vögeln iſt auch nicht das Geringſte mehr zu entdecken. Erſt nach ungefähr einer halben Stunde erſcheint Einer nach dem Andern. Jeder ſtreicht mehrere Male am Niſtplatze vorbei, hält ſorgfältig Umſchau und ſchießt dann plötzlich, aber mit einer gewiſſen Heimlichkeit, nach dem Horſte hernieder, verweilt noch eine Zeit lang vorn auf dem Felſenrande, ſpäht nochmals vorſichtig und mißtrauiſch in die Runde und ſchleicht ſich nun erſt wieder in das Junere ſeiner Felſenhöhle zurück. Es iſt vielfach behauptet worden, daß dieſe Geier den das Neſt bedrohenden Jäger muthig angriffen; dieſe Angabe entbehrt jedoch nach meinen Beobachtungen jedes Grundes.‟ „Noch iſt es unbekannt, wie viel Tage der Bebrütung erforderlich ſind, um das große Ei zu zeitigen; man weiß nur, daß gegen Ende des März bereits einzelne der Jungen ausgeſchlüpft ſind. Bezeichnend für dieſe Vögel, welche niemals Wohlgerüche verbreiten, iſt, daß nicht blos das ausgeſchlüpfte Junge, ſondern ſchon das ſich im Ei entwickelnde, ja ſelbſt Dotter und Eiweiß heftig nach Moſchus ſtinken. Das Ausblaſen eines ſolchen Eies erfordert in der That die ganze Gleich- müthigkeit eines begeiſterten Naturforſchers, und ſelbſt dieſer muß gewaltſam ankämpfen, um des aufſteigenden Ekels ſich zu erwehren.‟ „Das Junge, welches einem kleinen Wollklumpen gleicht, wird von beiden Alten mit vieler Liebe behandelt und ſorgfältig geäzt, zuerſt mit den durch die Verweſung bereits gänzlich zerſetzten Fleiſch- theilen eines Aaſes, ſpäter mit kräftigerer Nahrung, freilich immer mit ſolcher, welche derſelben Quelle entſtammt. Daß dieſe Aezung nicht dazu beiträgt, den Geruch der Geier zu vermindern, kann man ſich denken. Dank der reichlichen Fütterung wächſt das Junge verhältnißmäßig raſch heran; jedoch währt es immerhin mindeſtens drei Monate, bevor es flugfähig und damit ſelbſtändig wird.‟ Baldamus nahm einen jungen Gänſegeier aus dem Horſte. Der Vogel hatte die Größe eines ſtarken Hahns und war überall mit dichtem, ſchmuzigweißen, wolligen Flaum bedeckt. Namentlich durch die Naſenlöcher verbreitete er einen höchſt empfindlichen Geruch. Sein Hunger war unver-

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 566. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/598>, abgerufen am 22.11.2024.