Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Fänger. Raubvögel. Geier.
im Gegentheil, -- auch ein Lamm, ein Hase oder ein Huhn kommt ihm gelegen, obgleich die Kraft
seiner Klauen und seines Schnabels für einen so großen Vogel sehr schwach und er nicht fähig ist, in
derselben Weise wie ein Geier oder Adler die Beute zu zerreißen. Dies gleicht sich aber aus durch
sein außerordentliches Schlingvermögen. Die Griechen behaupten, daß er Alles verschlinge und
verdaue, aber die Geschichten, welche ich in dieser Hinsicht habe erzählen hören, sind zu wunderbar, als
daß ich sie weiter verbreiten möchte. Jch selbst sah einmal einen alten Geieradler, welcher einen
Knochen oder sonst einen ungewöhnlichen und schwer verdaulichen Gegenstand hinabgewürgt hatte.
Er befand sich in einer höchst ungemüthlichen Lage und mußte sich, um zu seinem Zweck zu kommen,
auf die langen Federn seines Schwanzes stemmen." --

"Aas", sagt Jrby (1861), "scheint die fast ausschließliche Nahrung des Geieradlers zu sein." --

"Dieser Vogel", bestätigt Gurney, "verschlingt große Knochen. Der Magen von dem, welchen
ich (an der Südostküste Afrikas) erlegte, war vollgestopft mit solchen. Die Knochen waren zweifellos
ohne jegliches Fleischanhängsel verschluckt worden, und ich selbst sah, daß einer einen dürren Knochen
nahm. Der größte von denen, welche ich fand, war ein Ochsenwirbel von 4 Zoll Länge, 3 Zoll Breite
und 2 Zoll Dicke. Eine Menge Haare vom Klippschliefer fand sich ebenfalls im Magen zwischen
den Knochen vor und bewies also, daß der Geieradler auch derartige Thiere raubt, wahrscheinlich, wenn
sie bei Tage außerhalb ihrer Höhle sich sonnen." --

"Der Bartgeier", erzählt Adams vom Bartgeier des Himalaya, "fängt viele Murmelthiere,
hält sich aber nicht ausschließlich an lebende Beute; denn man sieht ihn auch von dem ersten Morgen-
schimmer an längs der Bergseiten gemächlich dahin schweben und nach Aas und andern Abfällen
suchen. Jn dem Magen eines von mir in den Bergen von Kaschmir getödteten Vogels fand ich
verschiedene lange Knochen und einen Huf von einem Steinbock."

Hutton versichert, daß sich der asiatische Bartgeier regelmäßig von Aas nähre und selten eine
größere Beute erhebe, als ein Huhn, welches er zerreiße, während er fliege. Hodgson bestätigt diese
Angabe und fügt übereinstimmend mit meinen Beobachtungen hinzu, daß der Raubvogel, wenn er sich
einer Beute bemächtigen will, den Menschen durchaus nicht scheut.

Jch glaube, daß ich es nach obiger Zusammenstellung der Beobachtungen, welche in den
verschiedensten Ländern der alten Welt angestellt wurden, jedem meiner Leser überlassen kann, sich ein
Urtheil über die Jagdgeschichten der Schweizer zu bilden. Nach diesen neueren Beiträgen zur Natur-
geschichte des Vogels glaube ich an keine Verschiedenheit in der Lebensweise der verschiedenen Bartgeier
mehr, wie ich sie früher annahm, um zwischen den bisher bekannten und meinen so widersprechenden
Beobachtungen zu vermitteln. Verschweigen will ich nicht, daß auch anderwärts ähnliche Erzählungen
gang und gäbe sind, wie in der Schweiz. So berichten die Sardinier von Kämpfen auf Leben und
Tod zwischen Menschen und Geieradlern; so erzählten mir die Beduinen des steinigten Arabiens, daß
der "Büdj" ein arger Räuber und gefährlicher Feind ihrer Herde sei; so berichtet der Bischof Heber,
jedoch, wie es scheint, nur vom Hörensagen, daß der Bartgeier in den Straßen von Almora Kinder
weggetragen habe; so theilten die Eingebornen des Himalaya mit, daß der Raubvogel junge Böcke, Schafe,
Ziegen, ja sogar junge Bären (!) wegtrage. Jch will es sogar für möglich halten, daß unser Vogel
zuweilen erwachsene Säugethiere in den Abgrund stößt oder auch wohl Menschen erschreckt, indem er
hart über ihnen dahinfliegt, glaube aber aussprechen zu dürfen, daß dies Alles noch keineswegs auf einen
so außerordentlichen Muth und auf eine so große Raub- und Blutgier deutet, als man sie dem
Geieradler zugeschrieben hat. Jn den allermeisten Fällen, wo ein größeres Säugethier durch den
Bartgeier zu Schaden gekommen ist, mag die eigene Furcht desselben die Ursache gewesen sein. Ein
Milan würde möglicher Weise das Gleiche bewirkt haben. Jch bezweifle daher auch entschieden die
Meinung des berühmten Gemsenjägers Colani, welcher glaubte, daß ein dicht über ihm und Lenz
dahinschießender Bartgeier letztgedachten Naturforscher habe in den Abgrund stoßen wollen; denn der
Vogel streicht, wie ich bestimmt angeben kann, sehr häufig dicht über dem Menschen dahin, auch wenn
derselbe nicht an Abgründen steht. Ebenso wenig vermag ich Gloger beizustimmen. Dieser sucht in

Die Fänger. Raubvögel. Geier.
im Gegentheil, — auch ein Lamm, ein Haſe oder ein Huhn kommt ihm gelegen, obgleich die Kraft
ſeiner Klauen und ſeines Schnabels für einen ſo großen Vogel ſehr ſchwach und er nicht fähig iſt, in
derſelben Weiſe wie ein Geier oder Adler die Beute zu zerreißen. Dies gleicht ſich aber aus durch
ſein außerordentliches Schlingvermögen. Die Griechen behaupten, daß er Alles verſchlinge und
verdaue, aber die Geſchichten, welche ich in dieſer Hinſicht habe erzählen hören, ſind zu wunderbar, als
daß ich ſie weiter verbreiten möchte. Jch ſelbſt ſah einmal einen alten Geieradler, welcher einen
Knochen oder ſonſt einen ungewöhnlichen und ſchwer verdaulichen Gegenſtand hinabgewürgt hatte.
Er befand ſich in einer höchſt ungemüthlichen Lage und mußte ſich, um zu ſeinem Zweck zu kommen,
auf die langen Federn ſeines Schwanzes ſtemmen.‟ —

„Aas‟, ſagt Jrby (1861), „ſcheint die faſt ausſchließliche Nahrung des Geieradlers zu ſein.‟ —

„Dieſer Vogel‟, beſtätigt Gurney, „verſchlingt große Knochen. Der Magen von dem, welchen
ich (an der Südoſtküſte Afrikas) erlegte, war vollgeſtopft mit ſolchen. Die Knochen waren zweifellos
ohne jegliches Fleiſchanhängſel verſchluckt worden, und ich ſelbſt ſah, daß einer einen dürren Knochen
nahm. Der größte von denen, welche ich fand, war ein Ochſenwirbel von 4 Zoll Länge, 3 Zoll Breite
und 2 Zoll Dicke. Eine Menge Haare vom Klippſchliefer fand ſich ebenfalls im Magen zwiſchen
den Knochen vor und bewies alſo, daß der Geieradler auch derartige Thiere raubt, wahrſcheinlich, wenn
ſie bei Tage außerhalb ihrer Höhle ſich ſonnen.‟ —

„Der Bartgeier‟, erzählt Adams vom Bartgeier des Himalaya, „fängt viele Murmelthiere,
hält ſich aber nicht ausſchließlich an lebende Beute; denn man ſieht ihn auch von dem erſten Morgen-
ſchimmer an längs der Bergſeiten gemächlich dahin ſchweben und nach Aas und andern Abfällen
ſuchen. Jn dem Magen eines von mir in den Bergen von Kaſchmir getödteten Vogels fand ich
verſchiedene lange Knochen und einen Huf von einem Steinbock.‟

Hutton verſichert, daß ſich der aſiatiſche Bartgeier regelmäßig von Aas nähre und ſelten eine
größere Beute erhebe, als ein Huhn, welches er zerreiße, während er fliege. Hodgſon beſtätigt dieſe
Angabe und fügt übereinſtimmend mit meinen Beobachtungen hinzu, daß der Raubvogel, wenn er ſich
einer Beute bemächtigen will, den Menſchen durchaus nicht ſcheut.

Jch glaube, daß ich es nach obiger Zuſammenſtellung der Beobachtungen, welche in den
verſchiedenſten Ländern der alten Welt angeſtellt wurden, jedem meiner Leſer überlaſſen kann, ſich ein
Urtheil über die Jagdgeſchichten der Schweizer zu bilden. Nach dieſen neueren Beiträgen zur Natur-
geſchichte des Vogels glaube ich an keine Verſchiedenheit in der Lebensweiſe der verſchiedenen Bartgeier
mehr, wie ich ſie früher annahm, um zwiſchen den bisher bekannten und meinen ſo widerſprechenden
Beobachtungen zu vermitteln. Verſchweigen will ich nicht, daß auch anderwärts ähnliche Erzählungen
gang und gäbe ſind, wie in der Schweiz. So berichten die Sardinier von Kämpfen auf Leben und
Tod zwiſchen Menſchen und Geieradlern; ſo erzählten mir die Beduinen des ſteinigten Arabiens, daß
der „Büdj‟ ein arger Räuber und gefährlicher Feind ihrer Herde ſei; ſo berichtet der Biſchof Heber,
jedoch, wie es ſcheint, nur vom Hörenſagen, daß der Bartgeier in den Straßen von Almora Kinder
weggetragen habe; ſo theilten die Eingebornen des Himalaya mit, daß der Raubvogel junge Böcke, Schafe,
Ziegen, ja ſogar junge Bären (!) wegtrage. Jch will es ſogar für möglich halten, daß unſer Vogel
zuweilen erwachſene Säugethiere in den Abgrund ſtößt oder auch wohl Menſchen erſchreckt, indem er
hart über ihnen dahinfliegt, glaube aber ausſprechen zu dürfen, daß dies Alles noch keineswegs auf einen
ſo außerordentlichen Muth und auf eine ſo große Raub- und Blutgier deutet, als man ſie dem
Geieradler zugeſchrieben hat. Jn den allermeiſten Fällen, wo ein größeres Säugethier durch den
Bartgeier zu Schaden gekommen iſt, mag die eigene Furcht deſſelben die Urſache geweſen ſein. Ein
Milan würde möglicher Weiſe das Gleiche bewirkt haben. Jch bezweifle daher auch entſchieden die
Meinung des berühmten Gemſenjägers Colani, welcher glaubte, daß ein dicht über ihm und Lenz
dahinſchießender Bartgeier letztgedachten Naturforſcher habe in den Abgrund ſtoßen wollen; denn der
Vogel ſtreicht, wie ich beſtimmt angeben kann, ſehr häufig dicht über dem Menſchen dahin, auch wenn
derſelbe nicht an Abgründen ſteht. Ebenſo wenig vermag ich Gloger beizuſtimmen. Dieſer ſucht in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0580" n="548"/><fw place="top" type="header">Die Fänger. Raubvögel. Geier.</fw><lb/>
im Gegentheil, &#x2014; auch ein Lamm, ein Ha&#x017F;e oder ein Huhn kommt ihm gelegen, obgleich die Kraft<lb/>
&#x017F;einer Klauen und &#x017F;eines Schnabels für einen &#x017F;o großen Vogel &#x017F;ehr &#x017F;chwach und er nicht fähig i&#x017F;t, in<lb/>
der&#x017F;elben Wei&#x017F;e wie ein Geier oder Adler die Beute zu zerreißen. Dies gleicht &#x017F;ich aber aus durch<lb/>
&#x017F;ein außerordentliches Schlingvermögen. Die Griechen behaupten, daß er Alles ver&#x017F;chlinge und<lb/>
verdaue, aber die Ge&#x017F;chichten, welche ich in die&#x017F;er Hin&#x017F;icht habe erzählen hören, &#x017F;ind zu wunderbar, als<lb/>
daß ich &#x017F;ie weiter verbreiten möchte. Jch &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ah einmal einen alten Geieradler, welcher einen<lb/>
Knochen oder &#x017F;on&#x017F;t einen ungewöhnlichen und &#x017F;chwer verdaulichen Gegen&#x017F;tand hinabgewürgt hatte.<lb/>
Er befand &#x017F;ich in einer höch&#x017F;t ungemüthlichen Lage und mußte &#x017F;ich, um zu &#x017F;einem Zweck zu kommen,<lb/>
auf die langen Federn &#x017F;eines Schwanzes &#x017F;temmen.&#x201F; &#x2014;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Aas&#x201F;, &#x017F;agt <hi rendition="#g">Jrby</hi> (1861), &#x201E;&#x017F;cheint die fa&#x017F;t aus&#x017F;chließliche Nahrung des Geieradlers zu &#x017F;ein.&#x201F; &#x2014;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Die&#x017F;er Vogel&#x201F;, be&#x017F;tätigt <hi rendition="#g">Gurney,</hi> &#x201E;ver&#x017F;chlingt große Knochen. Der Magen von dem, welchen<lb/>
ich (an der Südo&#x017F;tkü&#x017F;te Afrikas) erlegte, war vollge&#x017F;topft mit &#x017F;olchen. Die Knochen waren zweifellos<lb/>
ohne jegliches Flei&#x017F;chanhäng&#x017F;el ver&#x017F;chluckt worden, und ich &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ah, daß einer einen dürren Knochen<lb/>
nahm. Der größte von denen, welche ich fand, war ein Och&#x017F;enwirbel von 4 Zoll Länge, 3 Zoll Breite<lb/>
und 2 Zoll Dicke. Eine Menge Haare vom <hi rendition="#g">Klipp&#x017F;chliefer</hi> fand &#x017F;ich ebenfalls im Magen zwi&#x017F;chen<lb/>
den Knochen vor und bewies al&#x017F;o, daß der Geieradler auch derartige Thiere raubt, wahr&#x017F;cheinlich, wenn<lb/>
&#x017F;ie bei Tage außerhalb ihrer Höhle &#x017F;ich &#x017F;onnen.&#x201F; &#x2014;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Der Bartgeier&#x201F;, erzählt <hi rendition="#g">Adams</hi> vom Bartgeier des Himalaya, &#x201E;fängt viele <hi rendition="#g">Murmelthiere,</hi><lb/>
hält &#x017F;ich aber nicht aus&#x017F;chließlich an lebende Beute; denn man &#x017F;ieht ihn auch von dem er&#x017F;ten Morgen-<lb/>
&#x017F;chimmer an längs der Berg&#x017F;eiten gemächlich dahin &#x017F;chweben und nach Aas und andern Abfällen<lb/>
&#x017F;uchen. Jn dem Magen eines von mir in den Bergen von Ka&#x017F;chmir getödteten Vogels fand ich<lb/>
ver&#x017F;chiedene lange Knochen und einen Huf von einem Steinbock.&#x201F;</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Hutton</hi> ver&#x017F;ichert, daß &#x017F;ich der a&#x017F;iati&#x017F;che Bartgeier regelmäßig von Aas nähre und &#x017F;elten eine<lb/>
größere Beute erhebe, als ein Huhn, welches er zerreiße, während er fliege. <hi rendition="#g">Hodg&#x017F;on</hi> be&#x017F;tätigt die&#x017F;e<lb/>
Angabe und fügt überein&#x017F;timmend mit meinen Beobachtungen hinzu, daß der Raubvogel, wenn er &#x017F;ich<lb/>
einer Beute bemächtigen will, den Men&#x017F;chen durchaus nicht &#x017F;cheut.</p><lb/>
          <p>Jch glaube, daß ich es nach obiger Zu&#x017F;ammen&#x017F;tellung der Beobachtungen, welche in den<lb/>
ver&#x017F;chieden&#x017F;ten Ländern der alten Welt ange&#x017F;tellt wurden, jedem meiner Le&#x017F;er überla&#x017F;&#x017F;en kann, &#x017F;ich ein<lb/>
Urtheil über die Jagdge&#x017F;chichten der Schweizer zu bilden. Nach die&#x017F;en neueren Beiträgen zur Natur-<lb/>
ge&#x017F;chichte des Vogels glaube ich an keine Ver&#x017F;chiedenheit in der Lebenswei&#x017F;e der ver&#x017F;chiedenen Bartgeier<lb/>
mehr, wie ich &#x017F;ie früher annahm, um zwi&#x017F;chen den bisher bekannten und meinen &#x017F;o wider&#x017F;prechenden<lb/>
Beobachtungen zu vermitteln. Ver&#x017F;chweigen will ich nicht, daß auch anderwärts ähnliche Erzählungen<lb/>
gang und gäbe &#x017F;ind, wie in der Schweiz. So berichten die Sardinier von Kämpfen auf Leben und<lb/>
Tod zwi&#x017F;chen Men&#x017F;chen und Geieradlern; &#x017F;o erzählten mir die Beduinen des &#x017F;teinigten Arabiens, daß<lb/>
der &#x201E;<hi rendition="#g">Büdj</hi>&#x201F; ein arger Räuber und gefährlicher Feind ihrer Herde &#x017F;ei; &#x017F;o berichtet der Bi&#x017F;chof <hi rendition="#g">Heber,</hi><lb/>
jedoch, wie es &#x017F;cheint, nur vom Hören&#x017F;agen, daß der Bartgeier in den Straßen von Almora Kinder<lb/>
weggetragen habe; &#x017F;o theilten die Eingebornen des Himalaya mit, daß der Raubvogel junge Böcke, Schafe,<lb/>
Ziegen, ja &#x017F;ogar junge <hi rendition="#g">Bären</hi> (!) wegtrage. Jch will es &#x017F;ogar für möglich halten, daß un&#x017F;er Vogel<lb/>
zuweilen erwach&#x017F;ene Säugethiere in den Abgrund &#x017F;tößt oder auch wohl Men&#x017F;chen er&#x017F;chreckt, indem er<lb/>
hart über ihnen dahinfliegt, glaube aber aus&#x017F;prechen zu dürfen, daß dies Alles noch keineswegs auf einen<lb/>
&#x017F;o außerordentlichen Muth und auf eine &#x017F;o große Raub- und Blutgier deutet, als man &#x017F;ie dem<lb/>
Geieradler zuge&#x017F;chrieben hat. Jn den allermei&#x017F;ten Fällen, wo ein größeres Säugethier durch den<lb/>
Bartgeier zu Schaden gekommen i&#x017F;t, mag die eigene Furcht de&#x017F;&#x017F;elben die Ur&#x017F;ache gewe&#x017F;en &#x017F;ein. Ein<lb/><hi rendition="#g">Milan</hi> würde möglicher Wei&#x017F;e das Gleiche bewirkt haben. Jch bezweifle daher auch ent&#x017F;chieden die<lb/>
Meinung des berühmten Gem&#x017F;enjägers <hi rendition="#g">Colani,</hi> welcher glaubte, daß ein dicht über ihm und <hi rendition="#g">Lenz</hi><lb/>
dahin&#x017F;chießender Bartgeier letztgedachten Naturfor&#x017F;cher habe in den Abgrund &#x017F;toßen wollen; denn der<lb/>
Vogel &#x017F;treicht, wie ich be&#x017F;timmt angeben kann, &#x017F;ehr häufig dicht über dem Men&#x017F;chen dahin, auch wenn<lb/>
der&#x017F;elbe nicht an Abgründen &#x017F;teht. Eben&#x017F;o wenig vermag ich <hi rendition="#g">Gloger</hi> beizu&#x017F;timmen. Die&#x017F;er &#x017F;ucht in<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[548/0580] Die Fänger. Raubvögel. Geier. im Gegentheil, — auch ein Lamm, ein Haſe oder ein Huhn kommt ihm gelegen, obgleich die Kraft ſeiner Klauen und ſeines Schnabels für einen ſo großen Vogel ſehr ſchwach und er nicht fähig iſt, in derſelben Weiſe wie ein Geier oder Adler die Beute zu zerreißen. Dies gleicht ſich aber aus durch ſein außerordentliches Schlingvermögen. Die Griechen behaupten, daß er Alles verſchlinge und verdaue, aber die Geſchichten, welche ich in dieſer Hinſicht habe erzählen hören, ſind zu wunderbar, als daß ich ſie weiter verbreiten möchte. Jch ſelbſt ſah einmal einen alten Geieradler, welcher einen Knochen oder ſonſt einen ungewöhnlichen und ſchwer verdaulichen Gegenſtand hinabgewürgt hatte. Er befand ſich in einer höchſt ungemüthlichen Lage und mußte ſich, um zu ſeinem Zweck zu kommen, auf die langen Federn ſeines Schwanzes ſtemmen.‟ — „Aas‟, ſagt Jrby (1861), „ſcheint die faſt ausſchließliche Nahrung des Geieradlers zu ſein.‟ — „Dieſer Vogel‟, beſtätigt Gurney, „verſchlingt große Knochen. Der Magen von dem, welchen ich (an der Südoſtküſte Afrikas) erlegte, war vollgeſtopft mit ſolchen. Die Knochen waren zweifellos ohne jegliches Fleiſchanhängſel verſchluckt worden, und ich ſelbſt ſah, daß einer einen dürren Knochen nahm. Der größte von denen, welche ich fand, war ein Ochſenwirbel von 4 Zoll Länge, 3 Zoll Breite und 2 Zoll Dicke. Eine Menge Haare vom Klippſchliefer fand ſich ebenfalls im Magen zwiſchen den Knochen vor und bewies alſo, daß der Geieradler auch derartige Thiere raubt, wahrſcheinlich, wenn ſie bei Tage außerhalb ihrer Höhle ſich ſonnen.‟ — „Der Bartgeier‟, erzählt Adams vom Bartgeier des Himalaya, „fängt viele Murmelthiere, hält ſich aber nicht ausſchließlich an lebende Beute; denn man ſieht ihn auch von dem erſten Morgen- ſchimmer an längs der Bergſeiten gemächlich dahin ſchweben und nach Aas und andern Abfällen ſuchen. Jn dem Magen eines von mir in den Bergen von Kaſchmir getödteten Vogels fand ich verſchiedene lange Knochen und einen Huf von einem Steinbock.‟ Hutton verſichert, daß ſich der aſiatiſche Bartgeier regelmäßig von Aas nähre und ſelten eine größere Beute erhebe, als ein Huhn, welches er zerreiße, während er fliege. Hodgſon beſtätigt dieſe Angabe und fügt übereinſtimmend mit meinen Beobachtungen hinzu, daß der Raubvogel, wenn er ſich einer Beute bemächtigen will, den Menſchen durchaus nicht ſcheut. Jch glaube, daß ich es nach obiger Zuſammenſtellung der Beobachtungen, welche in den verſchiedenſten Ländern der alten Welt angeſtellt wurden, jedem meiner Leſer überlaſſen kann, ſich ein Urtheil über die Jagdgeſchichten der Schweizer zu bilden. Nach dieſen neueren Beiträgen zur Natur- geſchichte des Vogels glaube ich an keine Verſchiedenheit in der Lebensweiſe der verſchiedenen Bartgeier mehr, wie ich ſie früher annahm, um zwiſchen den bisher bekannten und meinen ſo widerſprechenden Beobachtungen zu vermitteln. Verſchweigen will ich nicht, daß auch anderwärts ähnliche Erzählungen gang und gäbe ſind, wie in der Schweiz. So berichten die Sardinier von Kämpfen auf Leben und Tod zwiſchen Menſchen und Geieradlern; ſo erzählten mir die Beduinen des ſteinigten Arabiens, daß der „Büdj‟ ein arger Räuber und gefährlicher Feind ihrer Herde ſei; ſo berichtet der Biſchof Heber, jedoch, wie es ſcheint, nur vom Hörenſagen, daß der Bartgeier in den Straßen von Almora Kinder weggetragen habe; ſo theilten die Eingebornen des Himalaya mit, daß der Raubvogel junge Böcke, Schafe, Ziegen, ja ſogar junge Bären (!) wegtrage. Jch will es ſogar für möglich halten, daß unſer Vogel zuweilen erwachſene Säugethiere in den Abgrund ſtößt oder auch wohl Menſchen erſchreckt, indem er hart über ihnen dahinfliegt, glaube aber ausſprechen zu dürfen, daß dies Alles noch keineswegs auf einen ſo außerordentlichen Muth und auf eine ſo große Raub- und Blutgier deutet, als man ſie dem Geieradler zugeſchrieben hat. Jn den allermeiſten Fällen, wo ein größeres Säugethier durch den Bartgeier zu Schaden gekommen iſt, mag die eigene Furcht deſſelben die Urſache geweſen ſein. Ein Milan würde möglicher Weiſe das Gleiche bewirkt haben. Jch bezweifle daher auch entſchieden die Meinung des berühmten Gemſenjägers Colani, welcher glaubte, daß ein dicht über ihm und Lenz dahinſchießender Bartgeier letztgedachten Naturforſcher habe in den Abgrund ſtoßen wollen; denn der Vogel ſtreicht, wie ich beſtimmt angeben kann, ſehr häufig dicht über dem Menſchen dahin, auch wenn derſelbe nicht an Abgründen ſteht. Ebenſo wenig vermag ich Gloger beizuſtimmen. Dieſer ſucht in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/580
Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 548. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/580>, abgerufen am 22.07.2024.