erspäht hat; sie haben mir endlich dargethan, daß die Vögel auf einem verdeckten Aase erst dann erscheinen, wenn dasselbe von den Raben und Aasgeiern aufgefunden worden ist und deren Gewimmel sie aufmerksam gemacht hat. Jch glaube deshalb mit aller Bestimmtheit behaupten zu dürfen, daß das Gesicht der vorzüglichste und wichtigste ihrer Sinne, daß es das Auge ist, welches ihr Leben ihnen möglich macht.
Die Geier horsten vor Beginn des Frühlings ihrer betreffenden Heimatsländer, demgemäß in Europa in den ersten Monaten unseres Jahres. Nur diejenigen Arten, welche selten vorkommen, gründen einzeln einen Horst; alle übrigen bilden Siedelungen. Sie erwählen deshalb eine geeignete Felswand oder einen entsprechenden Wald, und hier ist dann jeder passende Platz besetzt. Einige Arten horsten nur auf Felsen, andere blos auf Bäumen, andere endlich auf dem flachen Boden. Einige dulden auch innerhalb ihrer Ansiedlung gänzlich verschiedene Vögel, Störche z. B., ohne sie irgendwie zu belästigen. Der Horst selbst ist, wenn er auf Bäumen steht, ein gewaltiger Bau, welcher im ganzen andern Raubvögelhorsten entspricht. Armsdicke Knüppel bilden die Unterlage, feineres Reißig den Mittelbau, schwache Zweige und dünne Wurzeln, welche sehr oft mit Thierhaaren unter- mischt und regelmäßig mit folchen ausgekleidet werden, die Nestmulde. Steht er dagegen auf dem Boden einer Felshöhle oder eines Felsenvorsprunges, so ist er meist kaum noch Horst zu nennen. Daß alle Geier da, wo sie sich verfolgt wähnen, möglichst unersteigliche Felsenwände oder Bäume zu ihrer Ansiedlung sich aussuchen, braucht kaum erwähnt zu werden. Da, wo sie sich vollständig sicher fühlen, ist Dies nicht der Fall: im Jnnern Afrikas z. B. horstet manche Art ohne Bedenken auf niedern, leicht zu erklimmenden Bäumen, welche man richtiger Sträucher nennen könnte. Das Gelege enthält ein bis zwei Eier von rundlicher Gestalt, rauhem Korn und graulicher oder gilblicher Grundfarbe, welche durch dunklere Schalenflecke, Punkte, Tüpfel und Schmitzen bezeichnet sind. Es ist wahr- scheinlich, daß beide Geschlechter abwechselnd brüten; von einzelnen Arten weiß ich ganz bestimmt, daß es der Fall ist. Wie lange die Brutzeit währt, hat man noch nicht ermittelt; jedenfalls bedarf das Ei mehrere Wochen, bevor es gezeitigt ist. Die Jungen oder in den meisten Fällen das Junge entschlüpft, wie die übrigen Raubvögel, in einem wolligen Dunenkleide dem Ei. Es ist häßlich und hilflos im hohen Grade und braucht mehrere Monate, bevor es fähig wird, selbständig seine Wege durchs Leben zu wandeln. Die Eltern lieben es sehr und vertheidigen es möglicher Weise gegen schwächere Feinde, nicht aber ernstlich auch gegen den Menschen, wie so oft behauptet worden ist, in der Absicht, einfache Thatsachen durch prickelnde Beigaben zu würzen. Anfänglich erhält die kleine Mißgestalt halb verfaultes und im Kropfe der Eltern verdautes Aas in den Rachen gespieen; später wird ihr kräf- tigere Kost in reicher Menge zugetragen. Ein Elternpaar hat aber immer seine Noth, sein Junges zu befriedigen; denn die Freßlust desselben übertrifft, falls Dies möglich, noch die Gier der ausge- wachsenen Vögel. Nach dem Ausfliegen bedarf der junge Geier noch einige Wochen lang der Pflege, Führung und Lehre seiner Eltern; bald aber lernt er es, sich ohne diese zu behelfen, und damit ist der Zeitpunkt gekommen, wo angesichts eines Aases alle verwandtschaftlichen Gefühle ihr Ende erreichen.
Die Geier haben manche Gegner, aber eigentlich wenig Feinde. Schmarotzer plagen sie, Adler, Fallen, Krähen und andere geflügelte Quälgeister der Raubvögel stoßen auf sie herab und ärgern sie, sobald sie ihrer ansichtig werden; auf dem Aase kommen sie mit Hunden und Marabus in Streit, niemals jedoch auch mit Hiänen, wie gewisse schöne Bilder uns glauben machen wollen. Der Mensch befehdet die großen Räuber, deren Nutzen er überall erkennt, nur dann, wenn sie vom Pfade der Tugend abweichen und anstatt Todtengräber zu bleiben, auch einmal andern Räu- bern ins Handwerk pfuschen d. h. sich über lebende Thiere, welche dem Menschen theuer sind, her- machen. Der Geieradler und Kondor sind die beiden Unglücklichen, welche büßen müssen, was ihre Zunft nicht blos, sondern was die gesammte fliegende Räuberwelt verschuldet hat. Die eigent- lichen Geier hingegen werden mit einer beinah heiligen Scheu betrachtet. Einer wahren Freund- schaft genießen sie nicht, und in den "Vermächtnissen reicher und wohlwollender Mahammedaner" werden sie wenigstens jetzt nicht mehr bedacht. Der Hindu sieht in ihnen, weil sie die Leichname seiner Todten
Die Fänger. Raubvögel. Geier.
erſpäht hat; ſie haben mir endlich dargethan, daß die Vögel auf einem verdeckten Aaſe erſt dann erſcheinen, wenn daſſelbe von den Raben und Aasgeiern aufgefunden worden iſt und deren Gewimmel ſie aufmerkſam gemacht hat. Jch glaube deshalb mit aller Beſtimmtheit behaupten zu dürfen, daß das Geſicht der vorzüglichſte und wichtigſte ihrer Sinne, daß es das Auge iſt, welches ihr Leben ihnen möglich macht.
Die Geier horſten vor Beginn des Frühlings ihrer betreffenden Heimatsländer, demgemäß in Europa in den erſten Monaten unſeres Jahres. Nur diejenigen Arten, welche ſelten vorkommen, gründen einzeln einen Horſt; alle übrigen bilden Siedelungen. Sie erwählen deshalb eine geeignete Felswand oder einen entſprechenden Wald, und hier iſt dann jeder paſſende Platz beſetzt. Einige Arten horſten nur auf Felſen, andere blos auf Bäumen, andere endlich auf dem flachen Boden. Einige dulden auch innerhalb ihrer Anſiedlung gänzlich verſchiedene Vögel, Störche z. B., ohne ſie irgendwie zu beläſtigen. Der Horſt ſelbſt iſt, wenn er auf Bäumen ſteht, ein gewaltiger Bau, welcher im ganzen andern Raubvögelhorſten entſpricht. Armsdicke Knüppel bilden die Unterlage, feineres Reißig den Mittelbau, ſchwache Zweige und dünne Wurzeln, welche ſehr oft mit Thierhaaren unter- miſcht und regelmäßig mit folchen ausgekleidet werden, die Neſtmulde. Steht er dagegen auf dem Boden einer Felshöhle oder eines Felſenvorſprunges, ſo iſt er meiſt kaum noch Horſt zu nennen. Daß alle Geier da, wo ſie ſich verfolgt wähnen, möglichſt unerſteigliche Felſenwände oder Bäume zu ihrer Anſiedlung ſich ausſuchen, braucht kaum erwähnt zu werden. Da, wo ſie ſich vollſtändig ſicher fühlen, iſt Dies nicht der Fall: im Jnnern Afrikas z. B. horſtet manche Art ohne Bedenken auf niedern, leicht zu erklimmenden Bäumen, welche man richtiger Sträucher nennen könnte. Das Gelege enthält ein bis zwei Eier von rundlicher Geſtalt, rauhem Korn und graulicher oder gilblicher Grundfarbe, welche durch dunklere Schalenflecke, Punkte, Tüpfel und Schmitzen bezeichnet ſind. Es iſt wahr- ſcheinlich, daß beide Geſchlechter abwechſelnd brüten; von einzelnen Arten weiß ich ganz beſtimmt, daß es der Fall iſt. Wie lange die Brutzeit währt, hat man noch nicht ermittelt; jedenfalls bedarf das Ei mehrere Wochen, bevor es gezeitigt iſt. Die Jungen oder in den meiſten Fällen das Junge entſchlüpft, wie die übrigen Raubvögel, in einem wolligen Dunenkleide dem Ei. Es iſt häßlich und hilflos im hohen Grade und braucht mehrere Monate, bevor es fähig wird, ſelbſtändig ſeine Wege durchs Leben zu wandeln. Die Eltern lieben es ſehr und vertheidigen es möglicher Weiſe gegen ſchwächere Feinde, nicht aber ernſtlich auch gegen den Menſchen, wie ſo oft behauptet worden iſt, in der Abſicht, einfache Thatſachen durch prickelnde Beigaben zu würzen. Anfänglich erhält die kleine Mißgeſtalt halb verfaultes und im Kropfe der Eltern verdautes Aas in den Rachen geſpieen; ſpäter wird ihr kräf- tigere Koſt in reicher Menge zugetragen. Ein Elternpaar hat aber immer ſeine Noth, ſein Junges zu befriedigen; denn die Freßluſt deſſelben übertrifft, falls Dies möglich, noch die Gier der ausge- wachſenen Vögel. Nach dem Ausfliegen bedarf der junge Geier noch einige Wochen lang der Pflege, Führung und Lehre ſeiner Eltern; bald aber lernt er es, ſich ohne dieſe zu behelfen, und damit iſt der Zeitpunkt gekommen, wo angeſichts eines Aaſes alle verwandtſchaftlichen Gefühle ihr Ende erreichen.
Die Geier haben manche Gegner, aber eigentlich wenig Feinde. Schmarotzer plagen ſie, Adler, Fallen, Krähen und andere geflügelte Quälgeiſter der Raubvögel ſtoßen auf ſie herab und ärgern ſie, ſobald ſie ihrer anſichtig werden; auf dem Aaſe kommen ſie mit Hunden und Marabus in Streit, niemals jedoch auch mit Hiänen, wie gewiſſe ſchöne Bilder uns glauben machen wollen. Der Menſch befehdet die großen Räuber, deren Nutzen er überall erkennt, nur dann, wenn ſie vom Pfade der Tugend abweichen und anſtatt Todtengräber zu bleiben, auch einmal andern Räu- bern ins Handwerk pfuſchen d. h. ſich über lebende Thiere, welche dem Menſchen theuer ſind, her- machen. Der Geieradler und Kondor ſind die beiden Unglücklichen, welche büßen müſſen, was ihre Zunft nicht blos, ſondern was die geſammte fliegende Räuberwelt verſchuldet hat. Die eigent- lichen Geier hingegen werden mit einer beinah heiligen Scheu betrachtet. Einer wahren Freund- ſchaft genießen ſie nicht, und in den „Vermächtniſſen reicher und wohlwollender Mahammedaner‟ werden ſie wenigſtens jetzt nicht mehr bedacht. Der Hindu ſieht in ihnen, weil ſie die Leichname ſeiner Todten
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Die Fänger. Raubvögel. Geier.
erſpäht hat; ſie haben mir endlich dargethan, daß die Vögel auf einem verdeckten Aaſe erſt dann
erſcheinen, wenn daſſelbe von den Raben und Aasgeiern aufgefunden worden iſt und deren Gewimmel
ſie aufmerkſam gemacht hat. Jch glaube deshalb mit aller Beſtimmtheit behaupten zu dürfen, daß das
Geſicht der vorzüglichſte und wichtigſte ihrer Sinne, daß es das Auge iſt, welches ihr Leben
ihnen möglich macht.
Die Geier horſten vor Beginn des Frühlings ihrer betreffenden Heimatsländer, demgemäß in
Europa in den erſten Monaten unſeres Jahres. Nur diejenigen Arten, welche ſelten vorkommen,
gründen einzeln einen Horſt; alle übrigen bilden Siedelungen. Sie erwählen deshalb eine geeignete
Felswand oder einen entſprechenden Wald, und hier iſt dann jeder paſſende Platz beſetzt. Einige
Arten horſten nur auf Felſen, andere blos auf Bäumen, andere endlich auf dem flachen Boden.
Einige dulden auch innerhalb ihrer Anſiedlung gänzlich verſchiedene Vögel, Störche z. B., ohne ſie
irgendwie zu beläſtigen. Der Horſt ſelbſt iſt, wenn er auf Bäumen ſteht, ein gewaltiger Bau, welcher
im ganzen andern Raubvögelhorſten entſpricht. Armsdicke Knüppel bilden die Unterlage, feineres
Reißig den Mittelbau, ſchwache Zweige und dünne Wurzeln, welche ſehr oft mit Thierhaaren unter-
miſcht und regelmäßig mit folchen ausgekleidet werden, die Neſtmulde. Steht er dagegen auf dem
Boden einer Felshöhle oder eines Felſenvorſprunges, ſo iſt er meiſt kaum noch Horſt zu nennen.
Daß alle Geier da, wo ſie ſich verfolgt wähnen, möglichſt unerſteigliche Felſenwände oder Bäume zu ihrer
Anſiedlung ſich ausſuchen, braucht kaum erwähnt zu werden. Da, wo ſie ſich vollſtändig ſicher fühlen,
iſt Dies nicht der Fall: im Jnnern Afrikas z. B. horſtet manche Art ohne Bedenken auf niedern,
leicht zu erklimmenden Bäumen, welche man richtiger Sträucher nennen könnte. Das Gelege enthält
ein bis zwei Eier von rundlicher Geſtalt, rauhem Korn und graulicher oder gilblicher Grundfarbe,
welche durch dunklere Schalenflecke, Punkte, Tüpfel und Schmitzen bezeichnet ſind. Es iſt wahr-
ſcheinlich, daß beide Geſchlechter abwechſelnd brüten; von einzelnen Arten weiß ich ganz beſtimmt, daß
es der Fall iſt. Wie lange die Brutzeit währt, hat man noch nicht ermittelt; jedenfalls bedarf das Ei
mehrere Wochen, bevor es gezeitigt iſt. Die Jungen oder in den meiſten Fällen das Junge entſchlüpft,
wie die übrigen Raubvögel, in einem wolligen Dunenkleide dem Ei. Es iſt häßlich und hilflos im
hohen Grade und braucht mehrere Monate, bevor es fähig wird, ſelbſtändig ſeine Wege durchs
Leben zu wandeln. Die Eltern lieben es ſehr und vertheidigen es möglicher Weiſe gegen ſchwächere
Feinde, nicht aber ernſtlich auch gegen den Menſchen, wie ſo oft behauptet worden iſt, in der Abſicht,
einfache Thatſachen durch prickelnde Beigaben zu würzen. Anfänglich erhält die kleine Mißgeſtalt halb
verfaultes und im Kropfe der Eltern verdautes Aas in den Rachen geſpieen; ſpäter wird ihr kräf-
tigere Koſt in reicher Menge zugetragen. Ein Elternpaar hat aber immer ſeine Noth, ſein Junges
zu befriedigen; denn die Freßluſt deſſelben übertrifft, falls Dies möglich, noch die Gier der ausge-
wachſenen Vögel. Nach dem Ausfliegen bedarf der junge Geier noch einige Wochen lang der Pflege,
Führung und Lehre ſeiner Eltern; bald aber lernt er es, ſich ohne dieſe zu behelfen, und damit iſt der
Zeitpunkt gekommen, wo angeſichts eines Aaſes alle verwandtſchaftlichen Gefühle ihr Ende erreichen.
Die Geier haben manche Gegner, aber eigentlich wenig Feinde. Schmarotzer plagen ſie, Adler,
Fallen, Krähen und andere geflügelte Quälgeiſter der Raubvögel ſtoßen auf ſie herab und ärgern ſie,
ſobald ſie ihrer anſichtig werden; auf dem Aaſe kommen ſie mit Hunden und Marabus in Streit,
niemals jedoch auch mit Hiänen, wie gewiſſe ſchöne Bilder uns glauben machen wollen. Der
Menſch befehdet die großen Räuber, deren Nutzen er überall erkennt, nur dann, wenn ſie vom
Pfade der Tugend abweichen und anſtatt Todtengräber zu bleiben, auch einmal andern Räu-
bern ins Handwerk pfuſchen d. h. ſich über lebende Thiere, welche dem Menſchen theuer ſind, her-
machen. Der Geieradler und Kondor ſind die beiden Unglücklichen, welche büßen müſſen, was
ihre Zunft nicht blos, ſondern was die geſammte fliegende Räuberwelt verſchuldet hat. Die eigent-
lichen Geier hingegen werden mit einer beinah heiligen Scheu betrachtet. Einer wahren Freund-
ſchaft genießen ſie nicht, und in den „Vermächtniſſen reicher und wohlwollender Mahammedaner‟ werden
ſie wenigſtens jetzt nicht mehr bedacht. Der Hindu ſieht in ihnen, weil ſie die Leichname ſeiner Todten
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 540. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/572>, abgerufen am 22.11.2024.
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