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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866.

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Allgemeines.
haben nun ausgeschlafen und ausgeträumt, und einer nach dem andern hat seinen Schlafplatz verlassen.
Zuerst waren sie niedrig längs dem Gebirge hingestrichen; da sie aber nichts Genießbares ersehen
konnten, stiegen sie in der Luft empor und erhoben sich zu einer unabsehbaren Höhe. Jn dieser ziehen
sie ihre Kreise weiter; einer folgt dem andern wenigstens mit den Blicken. Er steigt oder fällt mit
ihm; er wendet sich wie der Vorgänger nach dieser oder jener Seite. Von seinem Standpunkte aus
kann er ein ungeheures Gebiet, so zu sagen, mit einem Blicke überschauen, und das Auge ist so wunder-
voll scharf, daß ihm kaum Etwas entgeht. Der Geier, welcher das Gewimmel in der Tiefe erblickt,
gewinnt damit sofort ein klares Bild: er erkennt, daß er das Gesuchte gefunden. Nunmehr läßt er
sich zunächst in einigen Schraubenwindungen um mehrere hunderte Fuß tiefer herab, untersucht die
Sache näher, zieht, sobald er sich überzeugt, plötzlich die gewaltigen Flügel ein und überläßt seinen
Körper den Wirkungen der Schwere. Sausend stürzt er mehrere hunderte, ja tausende von Fußen
heruieder, und er würde zerschmettert werden, wenn er nicht rechtzeitig noch die Schwingen halb wieder
ausbreitete, um den Fall aufhalten und die Richtung regeln zu können. Bereits in ziemlicher Ent-
fernung von dem Boden strecken die schwerleibigen Arten jetzt die Ständer lang aus und senken sich
nunmehr, noch immer außerordentlich rasch, schief nach unten hernieder, während die langhälsigen,
leichter gebauten anscheinend mit der Gewandtheit und Zierlichkeit eines Falken herniederkommen und
durch verschiedene Schwenkungen, welche sie wechselseitig heben und senken, die Wucht des Falles zu
mildern wissen. Von der Trägheit und Unbehilflichkeit, welche die Geier sonst an den Tag zu legen
scheinen, ist jetzt nicht das Geringste mehr zu bemerken; sie überraschen im Gegentheile durch eine
Gewandtheit, welche man ihnen niemals zugetraut hätte.

Dem ersten Ankömmling folgen alle übrigen großen Geier, welche sich innerhalb gewisser
Grenzen befinden, rücksichtslos nach. Das Herabstürzen des ersteren ist für sie das Zeichen zur
sicheren Mahlzeit. Sie eilen jetzt von allen Seiten herbei und lassen sich auf eigene Untersuchung gar
nicht mehr ein. Man hört alle Minuten lang das sausende Geräusch, welches sie beim Herabstürzen
verursachen; man sieht von allen Richtungen her rasch sich vergrößernde Körper herniederfallen,
obgleich man wenige Minuten vorher die neun Fuß klafternden Vögel auch nicht einmal als Pünktchen
wahrgenommen hatte. Jetzt stört die Thiere Nichts mehr. Sobald einer von ihnen an der Tafel
sitzt, scheuen sie keine Gefahr; nicht einmal ein sichtbarer Jäger vertreibt sie. Sogleich nach
Ankunft am Boden eilen sie mit wagrecht vorgestrecktem Halse, erhobenem Schwanz und halb
ausgebreiteten, schleppenden Flügeln auf das Aas zu, und nunmehr bethätigen sie ihren Namen
Gierige, Giervögel. Es gibt für sie keine Rücksicht mehr. Das kleinere Gesindel macht mit Ehrfurcht
Platz; unter Gleichstarken entsteht wüthender Kampf und Streit. Von ihrem Arbeiten ein rechtes
Bild zu gewinnen, ist schwer. Das Gewimmel, welches entsteht, das Streiten, Zanken, Kämpfen
läßt sich kaum schildern; man muß es selbst gesehen haben, wenn man sich eine Vorstellung davon
machen will. Zwei bis drei Schnabelhiebe zerreißen die Lederhaut des Aases und verschaffen den
eingepreßten Gasen einen Ausgang. Dann machen sich die starkschnäbligen Arten über die Muskek-
lagen her, während die leichter bewassneten ihren langen Hals, so weit sie können, in die Höhlen ein-
schieben, um zu den Eingeweiden zu gelangen. Mit gieriger Hast wühlen sie zwischen diesen umher,
und einer sucht den andern fortwährend zu verdräugen, zu überbieten. Die Leber und die Lunge
werden selten herausgerissen, vielmehr in der Höhle selbst aufgefressen, die Därme hingegen heraus-
gezogen, durch schwer zu beschreibendes Zurückhüpfen weiter und weiter herausgefördert und dann
nach wüthendem Kampf mit andern stückweise verschlungen. Beständig stürzen sich noch hungrige
Geier von oben herab unter die bereits schmausenden, in der bestimmten Absicht, sie wo möglich von
der köstlichen Tafel zu vertreiben. Das gibt dann wieder neuen Kampf, neues Lärmen, Beißen und
ingrimmiges Gezwitscher; denn nur die bereits Gesättigten verlassen gutwillig das Mahl. Die
schwächeren Gäste sitzen, während die großen Herren beim Speisen sind, entsagend um die Gruppe,
sind aber höchst achtsam auf den Hergang, weil sie wissen, daß ihnen von jenen doch zuweilen
ein Bröcklein zugeworfen wird, natürlich ohne deren Willen, blos in der Hitze des Gefechts. Adler

Allgemeines.
haben nun ausgeſchlafen und ausgeträumt, und einer nach dem andern hat ſeinen Schlafplatz verlaſſen.
Zuerſt waren ſie niedrig längs dem Gebirge hingeſtrichen; da ſie aber nichts Genießbares erſehen
konnten, ſtiegen ſie in der Luft empor und erhoben ſich zu einer unabſehbaren Höhe. Jn dieſer ziehen
ſie ihre Kreiſe weiter; einer folgt dem andern wenigſtens mit den Blicken. Er ſteigt oder fällt mit
ihm; er wendet ſich wie der Vorgänger nach dieſer oder jener Seite. Von ſeinem Standpunkte aus
kann er ein ungeheures Gebiet, ſo zu ſagen, mit einem Blicke überſchauen, und das Auge iſt ſo wunder-
voll ſcharf, daß ihm kaum Etwas entgeht. Der Geier, welcher das Gewimmel in der Tiefe erblickt,
gewinnt damit ſofort ein klares Bild: er erkennt, daß er das Geſuchte gefunden. Nunmehr läßt er
ſich zunächſt in einigen Schraubenwindungen um mehrere hunderte Fuß tiefer herab, unterſucht die
Sache näher, zieht, ſobald er ſich überzeugt, plötzlich die gewaltigen Flügel ein und überläßt ſeinen
Körper den Wirkungen der Schwere. Sauſend ſtürzt er mehrere hunderte, ja tauſende von Fußen
heruieder, und er würde zerſchmettert werden, wenn er nicht rechtzeitig noch die Schwingen halb wieder
ausbreitete, um den Fall aufhalten und die Richtung regeln zu können. Bereits in ziemlicher Ent-
fernung von dem Boden ſtrecken die ſchwerleibigen Arten jetzt die Ständer lang aus und ſenken ſich
nunmehr, noch immer außerordentlich raſch, ſchief nach unten hernieder, während die langhälſigen,
leichter gebauten anſcheinend mit der Gewandtheit und Zierlichkeit eines Falken herniederkommen und
durch verſchiedene Schwenkungen, welche ſie wechſelſeitig heben und ſenken, die Wucht des Falles zu
mildern wiſſen. Von der Trägheit und Unbehilflichkeit, welche die Geier ſonſt an den Tag zu legen
ſcheinen, iſt jetzt nicht das Geringſte mehr zu bemerken; ſie überraſchen im Gegentheile durch eine
Gewandtheit, welche man ihnen niemals zugetraut hätte.

Dem erſten Ankömmling folgen alle übrigen großen Geier, welche ſich innerhalb gewiſſer
Grenzen befinden, rückſichtslos nach. Das Herabſtürzen des erſteren iſt für ſie das Zeichen zur
ſicheren Mahlzeit. Sie eilen jetzt von allen Seiten herbei und laſſen ſich auf eigene Unterſuchung gar
nicht mehr ein. Man hört alle Minuten lang das ſauſende Geräuſch, welches ſie beim Herabſtürzen
verurſachen; man ſieht von allen Richtungen her raſch ſich vergrößernde Körper herniederfallen,
obgleich man wenige Minuten vorher die neun Fuß klafternden Vögel auch nicht einmal als Pünktchen
wahrgenommen hatte. Jetzt ſtört die Thiere Nichts mehr. Sobald einer von ihnen an der Tafel
ſitzt, ſcheuen ſie keine Gefahr; nicht einmal ein ſichtbarer Jäger vertreibt ſie. Sogleich nach
Ankunft am Boden eilen ſie mit wagrecht vorgeſtrecktem Halſe, erhobenem Schwanz und halb
ausgebreiteten, ſchleppenden Flügeln auf das Aas zu, und nunmehr bethätigen ſie ihren Namen
Gierige, Giervögel. Es gibt für ſie keine Rückſicht mehr. Das kleinere Geſindel macht mit Ehrfurcht
Platz; unter Gleichſtarken entſteht wüthender Kampf und Streit. Von ihrem Arbeiten ein rechtes
Bild zu gewinnen, iſt ſchwer. Das Gewimmel, welches entſteht, das Streiten, Zanken, Kämpfen
läßt ſich kaum ſchildern; man muß es ſelbſt geſehen haben, wenn man ſich eine Vorſtellung davon
machen will. Zwei bis drei Schnabelhiebe zerreißen die Lederhaut des Aaſes und verſchaffen den
eingepreßten Gaſen einen Ausgang. Dann machen ſich die ſtarkſchnäbligen Arten über die Muskek-
lagen her, während die leichter bewaſſneten ihren langen Hals, ſo weit ſie können, in die Höhlen ein-
ſchieben, um zu den Eingeweiden zu gelangen. Mit gieriger Haſt wühlen ſie zwiſchen dieſen umher,
und einer ſucht den andern fortwährend zu verdräugen, zu überbieten. Die Leber und die Lunge
werden ſelten herausgeriſſen, vielmehr in der Höhle ſelbſt aufgefreſſen, die Därme hingegen heraus-
gezogen, durch ſchwer zu beſchreibendes Zurückhüpfen weiter und weiter herausgefördert und dann
nach wüthendem Kampf mit andern ſtückweiſe verſchlungen. Beſtändig ſtürzen ſich noch hungrige
Geier von oben herab unter die bereits ſchmauſenden, in der beſtimmten Abſicht, ſie wo möglich von
der köſtlichen Tafel zu vertreiben. Das gibt dann wieder neuen Kampf, neues Lärmen, Beißen und
ingrimmiges Gezwitſcher; denn nur die bereits Geſättigten verlaſſen gutwillig das Mahl. Die
ſchwächeren Gäſte ſitzen, während die großen Herren beim Speiſen ſind, entſagend um die Gruppe,
ſind aber höchſt achtſam auf den Hergang, weil ſie wiſſen, daß ihnen von jenen doch zuweilen
ein Bröcklein zugeworfen wird, natürlich ohne deren Willen, blos in der Hitze des Gefechts. Adler

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[537/0569] Allgemeines. haben nun ausgeſchlafen und ausgeträumt, und einer nach dem andern hat ſeinen Schlafplatz verlaſſen. Zuerſt waren ſie niedrig längs dem Gebirge hingeſtrichen; da ſie aber nichts Genießbares erſehen konnten, ſtiegen ſie in der Luft empor und erhoben ſich zu einer unabſehbaren Höhe. Jn dieſer ziehen ſie ihre Kreiſe weiter; einer folgt dem andern wenigſtens mit den Blicken. Er ſteigt oder fällt mit ihm; er wendet ſich wie der Vorgänger nach dieſer oder jener Seite. Von ſeinem Standpunkte aus kann er ein ungeheures Gebiet, ſo zu ſagen, mit einem Blicke überſchauen, und das Auge iſt ſo wunder- voll ſcharf, daß ihm kaum Etwas entgeht. Der Geier, welcher das Gewimmel in der Tiefe erblickt, gewinnt damit ſofort ein klares Bild: er erkennt, daß er das Geſuchte gefunden. Nunmehr läßt er ſich zunächſt in einigen Schraubenwindungen um mehrere hunderte Fuß tiefer herab, unterſucht die Sache näher, zieht, ſobald er ſich überzeugt, plötzlich die gewaltigen Flügel ein und überläßt ſeinen Körper den Wirkungen der Schwere. Sauſend ſtürzt er mehrere hunderte, ja tauſende von Fußen heruieder, und er würde zerſchmettert werden, wenn er nicht rechtzeitig noch die Schwingen halb wieder ausbreitete, um den Fall aufhalten und die Richtung regeln zu können. Bereits in ziemlicher Ent- fernung von dem Boden ſtrecken die ſchwerleibigen Arten jetzt die Ständer lang aus und ſenken ſich nunmehr, noch immer außerordentlich raſch, ſchief nach unten hernieder, während die langhälſigen, leichter gebauten anſcheinend mit der Gewandtheit und Zierlichkeit eines Falken herniederkommen und durch verſchiedene Schwenkungen, welche ſie wechſelſeitig heben und ſenken, die Wucht des Falles zu mildern wiſſen. Von der Trägheit und Unbehilflichkeit, welche die Geier ſonſt an den Tag zu legen ſcheinen, iſt jetzt nicht das Geringſte mehr zu bemerken; ſie überraſchen im Gegentheile durch eine Gewandtheit, welche man ihnen niemals zugetraut hätte. Dem erſten Ankömmling folgen alle übrigen großen Geier, welche ſich innerhalb gewiſſer Grenzen befinden, rückſichtslos nach. Das Herabſtürzen des erſteren iſt für ſie das Zeichen zur ſicheren Mahlzeit. Sie eilen jetzt von allen Seiten herbei und laſſen ſich auf eigene Unterſuchung gar nicht mehr ein. Man hört alle Minuten lang das ſauſende Geräuſch, welches ſie beim Herabſtürzen verurſachen; man ſieht von allen Richtungen her raſch ſich vergrößernde Körper herniederfallen, obgleich man wenige Minuten vorher die neun Fuß klafternden Vögel auch nicht einmal als Pünktchen wahrgenommen hatte. Jetzt ſtört die Thiere Nichts mehr. Sobald einer von ihnen an der Tafel ſitzt, ſcheuen ſie keine Gefahr; nicht einmal ein ſichtbarer Jäger vertreibt ſie. Sogleich nach Ankunft am Boden eilen ſie mit wagrecht vorgeſtrecktem Halſe, erhobenem Schwanz und halb ausgebreiteten, ſchleppenden Flügeln auf das Aas zu, und nunmehr bethätigen ſie ihren Namen Gierige, Giervögel. Es gibt für ſie keine Rückſicht mehr. Das kleinere Geſindel macht mit Ehrfurcht Platz; unter Gleichſtarken entſteht wüthender Kampf und Streit. Von ihrem Arbeiten ein rechtes Bild zu gewinnen, iſt ſchwer. Das Gewimmel, welches entſteht, das Streiten, Zanken, Kämpfen läßt ſich kaum ſchildern; man muß es ſelbſt geſehen haben, wenn man ſich eine Vorſtellung davon machen will. Zwei bis drei Schnabelhiebe zerreißen die Lederhaut des Aaſes und verſchaffen den eingepreßten Gaſen einen Ausgang. Dann machen ſich die ſtarkſchnäbligen Arten über die Muskek- lagen her, während die leichter bewaſſneten ihren langen Hals, ſo weit ſie können, in die Höhlen ein- ſchieben, um zu den Eingeweiden zu gelangen. Mit gieriger Haſt wühlen ſie zwiſchen dieſen umher, und einer ſucht den andern fortwährend zu verdräugen, zu überbieten. Die Leber und die Lunge werden ſelten herausgeriſſen, vielmehr in der Höhle ſelbſt aufgefreſſen, die Därme hingegen heraus- gezogen, durch ſchwer zu beſchreibendes Zurückhüpfen weiter und weiter herausgefördert und dann nach wüthendem Kampf mit andern ſtückweiſe verſchlungen. Beſtändig ſtürzen ſich noch hungrige Geier von oben herab unter die bereits ſchmauſenden, in der beſtimmten Abſicht, ſie wo möglich von der köſtlichen Tafel zu vertreiben. Das gibt dann wieder neuen Kampf, neues Lärmen, Beißen und ingrimmiges Gezwitſcher; denn nur die bereits Geſättigten verlaſſen gutwillig das Mahl. Die ſchwächeren Gäſte ſitzen, während die großen Herren beim Speiſen ſind, entſagend um die Gruppe, ſind aber höchſt achtſam auf den Hergang, weil ſie wiſſen, daß ihnen von jenen doch zuweilen ein Bröcklein zugeworfen wird, natürlich ohne deren Willen, blos in der Hitze des Gefechts. Adler

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 537. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/569>, abgerufen am 22.11.2024.