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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866.

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Urutaurana. Sperberadler.

Längere Zeit habe ich geglaubt, diesen Vogel in einem Gefangenen unseres Thiergartens vor mir zu
haben. Erst, als derselbe sein ausgefärbtes Kleid anlegte, erkannte ich den noch seltneren Würgadler
aus Mittelamerika (Pternura Isidori). Dieser ebenso schöngefärbte als zierliche Raubvogel war, als
er ankam, außerordentlich scheu und wüthend. Er machte nicht blos von seinen Fängen, sondern
auch von seinem Schnabel umfassenden Gebrauch, wie ich zu meiner nicht geringen Ueberraschung an
mir selbst zu erfahren hatte. Lange Zeit tobte er im Käfig umher, sobald sich diesem Jemand nahete,
und mit dem Wärter stand er monatelang auf gespanntem Fuße. Jetzt ist er einigermaßen zahm
geworden, sitzt wie andere Adler aufgerichtet auf seiner Stange stundenlang ruhig auf einem Beine, und
nur die lebhaften Augen beweisen, daß er seiner nächsten Umgebung vollkommene Aufmerksamkeit
widmet. Seine Holle richtet er fast immer auf, jedoch nicht so senkrecht, wie der Schopfadler es thut;
nur wenn er frißt, pflegt er sie platt auf den Nacken zu legen. Sein Blick ist wild und feurig, viel
mehr habichts- als adlerartig; demungeachtet sieht der Adler stolz und nicht tückisch aus. Seine
Stimme ist ebenfalls wohlklingend und im Vergleich zu der anderer Raubvögel leise. Nach meinen
bisherigen Erfahrungen darf man auch diesen Vogel keinen Kostverächter nennen; er nimmt alle
Fleischsorten ohne Unterschied an, Säugethiere ebenso gern als Vögel. Niemals aber frißt er, bevor
er sich von der Beschaffenheit der ihm vorgelegten Nahrung vollständig überzeugt hat. Jst er z. B.
längere Zeit mit rohem Fleisch gefüttert worden und erhält nun den Schenkel einer Katze mit dem harigen
Fell, so kostet es ihm einige Ueberwindung, ehe er an das Fressen geht, und ebenso besinnt er sich
längere Zeit, bevor er einen ihm gereichten Fisch zu sich nimmt. Auch er zeigt sich gegen die Kälte
wenig empfindlich und hat selbst bei Schneegestöber oder heftigem und kalten Regen seine hohe Sitz-
stange freiwillig nie verlassen, obwohl der geschützte Raum seines Käfigs ihm ein besseres Obdach bot.



Neben den Würgadlern beherbergen die brasilianischen Wälder noch andere eigenthümliche Raub-
vögel, welche von den meisten Naturforschern ebenfalls der Adlerfamilie, von andern aber auch den
Habichten zugezählt werden. Wir wollen sie, um ihnen einen Namen zu geben, Sperberadler
(Morphnus) nennen. Sie haben die Größe, die Stärke und den stolzen Anstand der Adler, aber die
Gestalt der Habichte. Jhr Leib ist dick; der Kopf ist groß; die Flügel sind ziemlich kurz; der
Schwanz ist breit und lang; der Lauf ist mindestens doppelt so lang, als die Mittelzehe und nur wenig
unter der Ferse herab befiedert, im Uebrigen mit Gürteltafeln bekleidet; die Zehen sind kurz, jedoch
nicht schwach und mit kräftigen, starken und spitzigen Krallen bewehrt; der Schnabel ist etwas
gestreckt, niedrig, aber verhältnißmäßig schwach, sein Obertheil scharfhakig übergebogen, der Kieferrand
wenig ausgebuchtet.

Die bekannteste Art dieser Gruppe ist der gehäubte Sperberadler (Morphnus guianensis).
Seine Länge beträgt 25 Zoll, die Breite 57 Zoll; der Fittig mißt 15 bis 16, der Schwanz 11 bis
12 Zoll. Das auffallend lockere, eulenartige Gefieder, welches sich am Hinterkopfe zu einem 6 Zoll
langen Federschopf verlängert, verändert sich mit dem Alter des Vogels. Nach Prinz von Wied sind
Kopf, Hals, Brust, Bauch, Steiß und Schenkel weiß, ungefleckt, nur hier und da ein wenig gelblich
beschmuzt, die Rücken-, Schulter- und Flügeldeckfedern blaßgrauröthlich, weil die einzelnen Federn
hier sehr fein grauröthlich quer gefleckt, punktirt und marmelirt sind. Die Schwingen sind schwarz-
braun mit schmalen grauröthlichen Querbinden. Die Schwanzfedern sind ihnen ähnlich gezeichnet.
Pelzeln dagegen meint, daß dieses Kleid das Jugendkleid sei, der Vogel im Alter aber dunkler
werde. Dann sollen Kopf und Kehle dunkelbraun, Nacken, Rücken, Oberseite, Flügel, Unterhals und
Brust grünlichschwarz und die obern Schwanzdecken mit unregelmäßigen, weißen Querbinden und
Endsäumen gezeichnet sein. Bis jetzt ist noch nicht entschieden, welche Ansicht die richtige genannt
werden darf.

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Urutaurana. Sperberadler.

Längere Zeit habe ich geglaubt, dieſen Vogel in einem Gefangenen unſeres Thiergartens vor mir zu
haben. Erſt, als derſelbe ſein ausgefärbtes Kleid anlegte, erkannte ich den noch ſeltneren Würgadler
aus Mittelamerika (Pternura Isidori). Dieſer ebenſo ſchöngefärbte als zierliche Raubvogel war, als
er ankam, außerordentlich ſcheu und wüthend. Er machte nicht blos von ſeinen Fängen, ſondern
auch von ſeinem Schnabel umfaſſenden Gebrauch, wie ich zu meiner nicht geringen Ueberraſchung an
mir ſelbſt zu erfahren hatte. Lange Zeit tobte er im Käfig umher, ſobald ſich dieſem Jemand nahete,
und mit dem Wärter ſtand er monatelang auf geſpanntem Fuße. Jetzt iſt er einigermaßen zahm
geworden, ſitzt wie andere Adler aufgerichtet auf ſeiner Stange ſtundenlang ruhig auf einem Beine, und
nur die lebhaften Augen beweiſen, daß er ſeiner nächſten Umgebung vollkommene Aufmerkſamkeit
widmet. Seine Holle richtet er faſt immer auf, jedoch nicht ſo ſenkrecht, wie der Schopfadler es thut;
nur wenn er frißt, pflegt er ſie platt auf den Nacken zu legen. Sein Blick iſt wild und feurig, viel
mehr habichts- als adlerartig; demungeachtet ſieht der Adler ſtolz und nicht tückiſch aus. Seine
Stimme iſt ebenfalls wohlklingend und im Vergleich zu der anderer Raubvögel leiſe. Nach meinen
bisherigen Erfahrungen darf man auch dieſen Vogel keinen Koſtverächter nennen; er nimmt alle
Fleiſchſorten ohne Unterſchied an, Säugethiere ebenſo gern als Vögel. Niemals aber frißt er, bevor
er ſich von der Beſchaffenheit der ihm vorgelegten Nahrung vollſtändig überzeugt hat. Jſt er z. B.
längere Zeit mit rohem Fleiſch gefüttert worden und erhält nun den Schenkel einer Katze mit dem harigen
Fell, ſo koſtet es ihm einige Ueberwindung, ehe er an das Freſſen geht, und ebenſo beſinnt er ſich
längere Zeit, bevor er einen ihm gereichten Fiſch zu ſich nimmt. Auch er zeigt ſich gegen die Kälte
wenig empfindlich und hat ſelbſt bei Schneegeſtöber oder heftigem und kalten Regen ſeine hohe Sitz-
ſtange freiwillig nie verlaſſen, obwohl der geſchützte Raum ſeines Käfigs ihm ein beſſeres Obdach bot.



Neben den Würgadlern beherbergen die braſilianiſchen Wälder noch andere eigenthümliche Raub-
vögel, welche von den meiſten Naturforſchern ebenfalls der Adlerfamilie, von andern aber auch den
Habichten zugezählt werden. Wir wollen ſie, um ihnen einen Namen zu geben, Sperberadler
(Morphnus) nennen. Sie haben die Größe, die Stärke und den ſtolzen Anſtand der Adler, aber die
Geſtalt der Habichte. Jhr Leib iſt dick; der Kopf iſt groß; die Flügel ſind ziemlich kurz; der
Schwanz iſt breit und lang; der Lauf iſt mindeſtens doppelt ſo lang, als die Mittelzehe und nur wenig
unter der Ferſe herab befiedert, im Uebrigen mit Gürteltafeln bekleidet; die Zehen ſind kurz, jedoch
nicht ſchwach und mit kräftigen, ſtarken und ſpitzigen Krallen bewehrt; der Schnabel iſt etwas
geſtreckt, niedrig, aber verhältnißmäßig ſchwach, ſein Obertheil ſcharfhakig übergebogen, der Kieferrand
wenig ausgebuchtet.

Die bekannteſte Art dieſer Gruppe iſt der gehäubte Sperberadler (Morphnus guianensis).
Seine Länge beträgt 25 Zoll, die Breite 57 Zoll; der Fittig mißt 15 bis 16, der Schwanz 11 bis
12 Zoll. Das auffallend lockere, eulenartige Gefieder, welches ſich am Hinterkopfe zu einem 6 Zoll
langen Federſchopf verlängert, verändert ſich mit dem Alter des Vogels. Nach Prinz von Wied ſind
Kopf, Hals, Bruſt, Bauch, Steiß und Schenkel weiß, ungefleckt, nur hier und da ein wenig gelblich
beſchmuzt, die Rücken-, Schulter- und Flügeldeckfedern blaßgrauröthlich, weil die einzelnen Federn
hier ſehr fein grauröthlich quer gefleckt, punktirt und marmelirt ſind. Die Schwingen ſind ſchwarz-
braun mit ſchmalen grauröthlichen Querbinden. Die Schwanzfedern ſind ihnen ähnlich gezeichnet.
Pelzeln dagegen meint, daß dieſes Kleid das Jugendkleid ſei, der Vogel im Alter aber dunkler
werde. Dann ſollen Kopf und Kehle dunkelbraun, Nacken, Rücken, Oberſeite, Flügel, Unterhals und
Bruſt grünlichſchwarz und die obern Schwanzdecken mit unregelmäßigen, weißen Querbinden und
Endſäumen gezeichnet ſein. Bis jetzt iſt noch nicht entſchieden, welche Anſicht die richtige genannt
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[467/0499] Urutaurana. Sperberadler. Längere Zeit habe ich geglaubt, dieſen Vogel in einem Gefangenen unſeres Thiergartens vor mir zu haben. Erſt, als derſelbe ſein ausgefärbtes Kleid anlegte, erkannte ich den noch ſeltneren Würgadler aus Mittelamerika (Pternura Isidori). Dieſer ebenſo ſchöngefärbte als zierliche Raubvogel war, als er ankam, außerordentlich ſcheu und wüthend. Er machte nicht blos von ſeinen Fängen, ſondern auch von ſeinem Schnabel umfaſſenden Gebrauch, wie ich zu meiner nicht geringen Ueberraſchung an mir ſelbſt zu erfahren hatte. Lange Zeit tobte er im Käfig umher, ſobald ſich dieſem Jemand nahete, und mit dem Wärter ſtand er monatelang auf geſpanntem Fuße. Jetzt iſt er einigermaßen zahm geworden, ſitzt wie andere Adler aufgerichtet auf ſeiner Stange ſtundenlang ruhig auf einem Beine, und nur die lebhaften Augen beweiſen, daß er ſeiner nächſten Umgebung vollkommene Aufmerkſamkeit widmet. Seine Holle richtet er faſt immer auf, jedoch nicht ſo ſenkrecht, wie der Schopfadler es thut; nur wenn er frißt, pflegt er ſie platt auf den Nacken zu legen. Sein Blick iſt wild und feurig, viel mehr habichts- als adlerartig; demungeachtet ſieht der Adler ſtolz und nicht tückiſch aus. Seine Stimme iſt ebenfalls wohlklingend und im Vergleich zu der anderer Raubvögel leiſe. Nach meinen bisherigen Erfahrungen darf man auch dieſen Vogel keinen Koſtverächter nennen; er nimmt alle Fleiſchſorten ohne Unterſchied an, Säugethiere ebenſo gern als Vögel. Niemals aber frißt er, bevor er ſich von der Beſchaffenheit der ihm vorgelegten Nahrung vollſtändig überzeugt hat. Jſt er z. B. längere Zeit mit rohem Fleiſch gefüttert worden und erhält nun den Schenkel einer Katze mit dem harigen Fell, ſo koſtet es ihm einige Ueberwindung, ehe er an das Freſſen geht, und ebenſo beſinnt er ſich längere Zeit, bevor er einen ihm gereichten Fiſch zu ſich nimmt. Auch er zeigt ſich gegen die Kälte wenig empfindlich und hat ſelbſt bei Schneegeſtöber oder heftigem und kalten Regen ſeine hohe Sitz- ſtange freiwillig nie verlaſſen, obwohl der geſchützte Raum ſeines Käfigs ihm ein beſſeres Obdach bot. Neben den Würgadlern beherbergen die braſilianiſchen Wälder noch andere eigenthümliche Raub- vögel, welche von den meiſten Naturforſchern ebenfalls der Adlerfamilie, von andern aber auch den Habichten zugezählt werden. Wir wollen ſie, um ihnen einen Namen zu geben, Sperberadler (Morphnus) nennen. Sie haben die Größe, die Stärke und den ſtolzen Anſtand der Adler, aber die Geſtalt der Habichte. Jhr Leib iſt dick; der Kopf iſt groß; die Flügel ſind ziemlich kurz; der Schwanz iſt breit und lang; der Lauf iſt mindeſtens doppelt ſo lang, als die Mittelzehe und nur wenig unter der Ferſe herab befiedert, im Uebrigen mit Gürteltafeln bekleidet; die Zehen ſind kurz, jedoch nicht ſchwach und mit kräftigen, ſtarken und ſpitzigen Krallen bewehrt; der Schnabel iſt etwas geſtreckt, niedrig, aber verhältnißmäßig ſchwach, ſein Obertheil ſcharfhakig übergebogen, der Kieferrand wenig ausgebuchtet. Die bekannteſte Art dieſer Gruppe iſt der gehäubte Sperberadler (Morphnus guianensis). Seine Länge beträgt 25 Zoll, die Breite 57 Zoll; der Fittig mißt 15 bis 16, der Schwanz 11 bis 12 Zoll. Das auffallend lockere, eulenartige Gefieder, welches ſich am Hinterkopfe zu einem 6 Zoll langen Federſchopf verlängert, verändert ſich mit dem Alter des Vogels. Nach Prinz von Wied ſind Kopf, Hals, Bruſt, Bauch, Steiß und Schenkel weiß, ungefleckt, nur hier und da ein wenig gelblich beſchmuzt, die Rücken-, Schulter- und Flügeldeckfedern blaßgrauröthlich, weil die einzelnen Federn hier ſehr fein grauröthlich quer gefleckt, punktirt und marmelirt ſind. Die Schwingen ſind ſchwarz- braun mit ſchmalen grauröthlichen Querbinden. Die Schwanzfedern ſind ihnen ähnlich gezeichnet. Pelzeln dagegen meint, daß dieſes Kleid das Jugendkleid ſei, der Vogel im Alter aber dunkler werde. Dann ſollen Kopf und Kehle dunkelbraun, Nacken, Rücken, Oberſeite, Flügel, Unterhals und Bruſt grünlichſchwarz und die obern Schwanzdecken mit unregelmäßigen, weißen Querbinden und Endſäumen gezeichnet ſein. Bis jetzt iſt noch nicht entſchieden, welche Anſicht die richtige genannt werden darf. 30*

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 467. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/499>, abgerufen am 22.11.2024.