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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866.

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Die Knacker. Rabenvögel. Baumkrähen.
ihre eigentlichen Wohnsitze. Sie siedelt sich gern in der Nähe des Menschen an und wird da, wo sie
Schonung erfährt, ungemein zutraulich oder richtiger aufdringlich. Jn Skandinavien, wo sie
gewissermaßen als heiliger Vogel des Landes angesehen wird, nimmt sie nicht in den Gärten, sondern
im Gehöft selbst ihre Wohnung und baut auf besonders für sie hergerichteten Vorsprüngen unter den
Dächern ihr Nest. Sie ist, wo sie vorkommt, Standvogel im vollsten Sinne des Worts. Jhr
eigentliches Wohngebiet ist klein, und sie verläßt dasselbe niemals. Wird sie in der Gemarkung eines
Dorfes ausgerottet, so währt es lange Jahre, bevor sie allgemach von den Grenzen her wieder ein-
rückt. Nur im Winter streift sie weiter umher, als sonst, obgleich immer noch in sehr beschränktem
Grade.

Jn Lebensweise und Betragen hat die Elster Manches mit den Raben gemein; die Aehnlich-
keit beider Vögel ist jedoch eine mehr scheinbare, als wirkliche. Sie geht ungefähr wie ein Rabe,

[Abbildung] Die Elster oder Aster (Pica caudata).
nämlich schrittweise, trägt sich dabei aber ganz anders; denn sie erhebt den langen Schwanz und
bewegt ihn wippend, wie die Drossel oder das Rothkehlchen. Jhr Flug ist durchaus von
dem der eigentlichen Raben verschieden: er ist schwerfällig und erfordert häufige Flügelschläge; schon
einigermaßen starker Wind macht ihn unsicher und langsam. Der Rabe fliegt zu seinem Vergnügen
stundenlang umher, die Elster gebraucht ihre Schwingen nur, wenn sie muß. Sie bewegt sich von
einem Baum zum andern oder von dem ersten Gebüsch zu dem nächsten, unnützer Weise niemals.
Jhre Sinne scheinen ebenso scharf zu sein, wie die der Raben, und an Verstand steht sie hinter diesen
durchaus nicht zurück. Sie unterscheidet genau zwischen gefährlichen und ungefährlichen Menschen
oder Thieren: den ersten gegenüber ist sie stets auf ihrer Hut, den letzteren gegenüber dreist und
unter Umständen grausam. Unter Verwandten zeigt sie sich sehr gesellig. Sie mischt sich z. B. gern

Die Knacker. Rabenvögel. Baumkrähen.
ihre eigentlichen Wohnſitze. Sie ſiedelt ſich gern in der Nähe des Menſchen an und wird da, wo ſie
Schonung erfährt, ungemein zutraulich oder richtiger aufdringlich. Jn Skandinavien, wo ſie
gewiſſermaßen als heiliger Vogel des Landes angeſehen wird, nimmt ſie nicht in den Gärten, ſondern
im Gehöft ſelbſt ihre Wohnung und baut auf beſonders für ſie hergerichteten Vorſprüngen unter den
Dächern ihr Neſt. Sie iſt, wo ſie vorkommt, Standvogel im vollſten Sinne des Worts. Jhr
eigentliches Wohngebiet iſt klein, und ſie verläßt daſſelbe niemals. Wird ſie in der Gemarkung eines
Dorfes ausgerottet, ſo währt es lange Jahre, bevor ſie allgemach von den Grenzen her wieder ein-
rückt. Nur im Winter ſtreift ſie weiter umher, als ſonſt, obgleich immer noch in ſehr beſchränktem
Grade.

Jn Lebensweiſe und Betragen hat die Elſter Manches mit den Raben gemein; die Aehnlich-
keit beider Vögel iſt jedoch eine mehr ſcheinbare, als wirkliche. Sie geht ungefähr wie ein Rabe,

[Abbildung] Die Elſter oder Aſter (Pica caudata).
nämlich ſchrittweiſe, trägt ſich dabei aber ganz anders; denn ſie erhebt den langen Schwanz und
bewegt ihn wippend, wie die Droſſel oder das Rothkehlchen. Jhr Flug iſt durchaus von
dem der eigentlichen Raben verſchieden: er iſt ſchwerfällig und erfordert häufige Flügelſchläge; ſchon
einigermaßen ſtarker Wind macht ihn unſicher und langſam. Der Rabe fliegt zu ſeinem Vergnügen
ſtundenlang umher, die Elſter gebraucht ihre Schwingen nur, wenn ſie muß. Sie bewegt ſich von
einem Baum zum andern oder von dem erſten Gebüſch zu dem nächſten, unnützer Weiſe niemals.
Jhre Sinne ſcheinen ebenſo ſcharf zu ſein, wie die der Raben, und an Verſtand ſteht ſie hinter dieſen
durchaus nicht zurück. Sie unterſcheidet genau zwiſchen gefährlichen und ungefährlichen Menſchen
oder Thieren: den erſten gegenüber iſt ſie ſtets auf ihrer Hut, den letzteren gegenüber dreiſt und
unter Umſtänden grauſam. Unter Verwandten zeigt ſie ſich ſehr geſellig. Sie miſcht ſich z. B. gern

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[372/0400] Die Knacker. Rabenvögel. Baumkrähen. ihre eigentlichen Wohnſitze. Sie ſiedelt ſich gern in der Nähe des Menſchen an und wird da, wo ſie Schonung erfährt, ungemein zutraulich oder richtiger aufdringlich. Jn Skandinavien, wo ſie gewiſſermaßen als heiliger Vogel des Landes angeſehen wird, nimmt ſie nicht in den Gärten, ſondern im Gehöft ſelbſt ihre Wohnung und baut auf beſonders für ſie hergerichteten Vorſprüngen unter den Dächern ihr Neſt. Sie iſt, wo ſie vorkommt, Standvogel im vollſten Sinne des Worts. Jhr eigentliches Wohngebiet iſt klein, und ſie verläßt daſſelbe niemals. Wird ſie in der Gemarkung eines Dorfes ausgerottet, ſo währt es lange Jahre, bevor ſie allgemach von den Grenzen her wieder ein- rückt. Nur im Winter ſtreift ſie weiter umher, als ſonſt, obgleich immer noch in ſehr beſchränktem Grade. Jn Lebensweiſe und Betragen hat die Elſter Manches mit den Raben gemein; die Aehnlich- keit beider Vögel iſt jedoch eine mehr ſcheinbare, als wirkliche. Sie geht ungefähr wie ein Rabe, [Abbildung Die Elſter oder Aſter (Pica caudata).] nämlich ſchrittweiſe, trägt ſich dabei aber ganz anders; denn ſie erhebt den langen Schwanz und bewegt ihn wippend, wie die Droſſel oder das Rothkehlchen. Jhr Flug iſt durchaus von dem der eigentlichen Raben verſchieden: er iſt ſchwerfällig und erfordert häufige Flügelſchläge; ſchon einigermaßen ſtarker Wind macht ihn unſicher und langſam. Der Rabe fliegt zu ſeinem Vergnügen ſtundenlang umher, die Elſter gebraucht ihre Schwingen nur, wenn ſie muß. Sie bewegt ſich von einem Baum zum andern oder von dem erſten Gebüſch zu dem nächſten, unnützer Weiſe niemals. Jhre Sinne ſcheinen ebenſo ſcharf zu ſein, wie die der Raben, und an Verſtand ſteht ſie hinter dieſen durchaus nicht zurück. Sie unterſcheidet genau zwiſchen gefährlichen und ungefährlichen Menſchen oder Thieren: den erſten gegenüber iſt ſie ſtets auf ihrer Hut, den letzteren gegenüber dreiſt und unter Umſtänden grauſam. Unter Verwandten zeigt ſie ſich ſehr geſellig. Sie miſcht ſich z. B. gern

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/400>, abgerufen am 22.11.2024.