Nachdem die Jungen groß gezogen sind, schlagen sie sich mit Tausenden anderer ihrer Art zusam- men und treiben sich selbständig umher, während die Eltern zu einer zweiten Brut Anstalt machen. Die ersten Jungen entfliegen Anfangs Juni dem Neste; die zweiten folgen ihnen in den ersten Tagen des August. Zu dieser Zeit ist das Getreide der mittleren Staaten der Reife nahe gekommen, und nun fallen die gescharten Rothflügel in unschätzbarer Masse in den Feldern ein und machen ernste Abwehr des sorglichen Landmannes nöthig. Doch ist auch der größte Eifer des Menschen gewöhnlich erfolglos; die Masse der Vögel vereitelt jegliche Anstrengung. Sobald das Getreide wirklich reif geworden ist, verlassen die Plünderer die Felder und sammeln sich jetzt auf Wiesen und an Stromrändern, auch wohl im Rohre, vereinigen sich dabei mit Drosseln, Paperlings und ähnlichen Verwandten und bilden mit ihnen Flüge, welche die Luft verdunkeln. Jhre Verfolgung währt noch immer fort, und es ist kaum glaublich, in welchen Massen diese Vögel getödtet werden. Audubon versichert, vernommen zu haben, daß ein einziger Schuß mehr als funfzig von ihnen zu
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Der Rothflügel (Agelaius phoeniceus).
Boden gestreckt und erzählt, daß er selbst Hunderte in einem Nachmittage erlegt habe. Dennoch neh- men die Massen an Anzahl nicht ab. Nach Art unserer Staaren, fallen sie mit Einbruch der Nacht in geschlossenen Flügen in den Rohrwäldern ein, um hier, wenigstens einigermaßen gegen die sie ewig bedrohenden Gegner geschützt, die Nacht zu verbringen.
Es ist kein Wunder, daß die amerikanischen Landleute auf den prächtigen Vogel nicht wohl zu sprechen sind, daß sie für seine Schönheit kein Auge und für seine Thätigkeiten nur Verwünschungen haben. Demungeachtet dürfte es auch hinsichtlich dieser Thätigkeit fraglich sein, ob der Nutzen, wel- chen sie bringen, den Schaden, den sie verursachen, nicht aufwiegt. Nur während das Getreide reift, schaden sie, in allen übrigen Monaten des Jahres machen sie sich hoch verdient durch Wegfangen von schädlichen Kerbthieren aller Art, welche sie in den Gärten, auf den Wiesen erbeuten oder auflesen, indem sie wie unsere Staaren und Krähen anmuthigen Schrittes hinter den Pflügern daherlaufen. Aber für diese Dienste hat der Amerikaner kein Verständniß.
Rothflügel.
Nachdem die Jungen groß gezogen ſind, ſchlagen ſie ſich mit Tauſenden anderer ihrer Art zuſam- men und treiben ſich ſelbſtändig umher, während die Eltern zu einer zweiten Brut Anſtalt machen. Die erſten Jungen entfliegen Anfangs Juni dem Neſte; die zweiten folgen ihnen in den erſten Tagen des Auguſt. Zu dieſer Zeit iſt das Getreide der mittleren Staaten der Reife nahe gekommen, und nun fallen die geſcharten Rothflügel in unſchätzbarer Maſſe in den Feldern ein und machen ernſte Abwehr des ſorglichen Landmannes nöthig. Doch iſt auch der größte Eifer des Menſchen gewöhnlich erfolglos; die Maſſe der Vögel vereitelt jegliche Anſtrengung. Sobald das Getreide wirklich reif geworden iſt, verlaſſen die Plünderer die Felder und ſammeln ſich jetzt auf Wieſen und an Stromrändern, auch wohl im Rohre, vereinigen ſich dabei mit Droſſeln, Paperlings und ähnlichen Verwandten und bilden mit ihnen Flüge, welche die Luft verdunkeln. Jhre Verfolgung währt noch immer fort, und es iſt kaum glaublich, in welchen Maſſen dieſe Vögel getödtet werden. Audubon verſichert, vernommen zu haben, daß ein einziger Schuß mehr als funfzig von ihnen zu
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Der Rothflügel (Agelaius phoeniceus).
Boden geſtreckt und erzählt, daß er ſelbſt Hunderte in einem Nachmittage erlegt habe. Dennoch neh- men die Maſſen an Anzahl nicht ab. Nach Art unſerer Staaren, fallen ſie mit Einbruch der Nacht in geſchloſſenen Flügen in den Rohrwäldern ein, um hier, wenigſtens einigermaßen gegen die ſie ewig bedrohenden Gegner geſchützt, die Nacht zu verbringen.
Es iſt kein Wunder, daß die amerikaniſchen Landleute auf den prächtigen Vogel nicht wohl zu ſprechen ſind, daß ſie für ſeine Schönheit kein Auge und für ſeine Thätigkeiten nur Verwünſchungen haben. Demungeachtet dürfte es auch hinſichtlich dieſer Thätigkeit fraglich ſein, ob der Nutzen, wel- chen ſie bringen, den Schaden, den ſie verurſachen, nicht aufwiegt. Nur während das Getreide reift, ſchaden ſie, in allen übrigen Monaten des Jahres machen ſie ſich hoch verdient durch Wegfangen von ſchädlichen Kerbthieren aller Art, welche ſie in den Gärten, auf den Wieſen erbeuten oder aufleſen, indem ſie wie unſere Staaren und Krähen anmuthigen Schrittes hinter den Pflügern daherlaufen. Aber für dieſe Dienſte hat der Amerikaner kein Verſtändniß.
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Rothflügel.
Nachdem die Jungen groß gezogen ſind, ſchlagen ſie ſich mit Tauſenden anderer ihrer Art zuſam-
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Die erſten Jungen entfliegen Anfangs Juni dem Neſte; die zweiten folgen ihnen in den erſten Tagen
des Auguſt. Zu dieſer Zeit iſt das Getreide der mittleren Staaten der Reife nahe gekommen, und
nun fallen die geſcharten Rothflügel in unſchätzbarer Maſſe in den Feldern ein und machen
ernſte Abwehr des ſorglichen Landmannes nöthig. Doch iſt auch der größte Eifer des Menſchen
gewöhnlich erfolglos; die Maſſe der Vögel vereitelt jegliche Anſtrengung. Sobald das Getreide
wirklich reif geworden iſt, verlaſſen die Plünderer die Felder und ſammeln ſich jetzt auf Wieſen und
an Stromrändern, auch wohl im Rohre, vereinigen ſich dabei mit Droſſeln, Paperlings und
ähnlichen Verwandten und bilden mit ihnen Flüge, welche die Luft verdunkeln. Jhre Verfolgung
währt noch immer fort, und es iſt kaum glaublich, in welchen Maſſen dieſe Vögel getödtet werden.
Audubon verſichert, vernommen zu haben, daß ein einziger Schuß mehr als funfzig von ihnen zu
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Boden geſtreckt und erzählt, daß er ſelbſt Hunderte in einem Nachmittage erlegt habe. Dennoch neh-
men die Maſſen an Anzahl nicht ab. Nach Art unſerer Staaren, fallen ſie mit Einbruch der Nacht in
geſchloſſenen Flügen in den Rohrwäldern ein, um hier, wenigſtens einigermaßen gegen die ſie ewig
bedrohenden Gegner geſchützt, die Nacht zu verbringen.
Es iſt kein Wunder, daß die amerikaniſchen Landleute auf den prächtigen Vogel nicht wohl zu
ſprechen ſind, daß ſie für ſeine Schönheit kein Auge und für ſeine Thätigkeiten nur Verwünſchungen
haben. Demungeachtet dürfte es auch hinſichtlich dieſer Thätigkeit fraglich ſein, ob der Nutzen, wel-
chen ſie bringen, den Schaden, den ſie verurſachen, nicht aufwiegt. Nur während das Getreide reift,
ſchaden ſie, in allen übrigen Monaten des Jahres machen ſie ſich hoch verdient durch Wegfangen von
ſchädlichen Kerbthieren aller Art, welche ſie in den Gärten, auf den Wieſen erbeuten oder aufleſen,
indem ſie wie unſere Staaren und Krähen anmuthigen Schrittes hinter den Pflügern daherlaufen.
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/305>, abgerufen am 25.11.2024.
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