ruhige Verhalten der Vögel im Neste. Jch wagte nicht, durch Neugier meinerseits zu stören. Woche auf Woche verging, die Thiere brüteten fort und fort. Endlich überzeugte ich mich, daß fünf Eier im Neste lagen. Noch eine Woche verging, es war die vierte, und schon reifte in Ungeduld der Ent- schluß, die Eier zu untersuchen und wenn taub, wie ich vermuthete, zu entfernen, als ich durch feine Stimmchen aus dem Neste heraus gewahr werden sollte, daß meine emsigen Brüter sich nicht umsonst gemüht hatten (14. Januar). Den Alten selbst glaubte ich die gleiche Freude anzusehen, wie ich sie mit ihnen empfand, ihre Munterkeit schien größer, als sonst, und ihre Zärtlichkeit war wirklich rührend. Am 30. Januar verließ eins der Jungen das Nest und am 3. Februar wagten sich die andern drei Geschwister auch heraus." --
"Zwei Tage später, am 5. Februar, arbeiteten die Eltern am neuen Nest, vollendeten es am andern Tage und richteten sich in demselben häuslich ein. Am 15. Februar entfernte ich die Jungen der letzten Brut. Am 19. Februar fand ich ein Ei im Nest und zwar dieses mal im zweiten Erker. Jetzt ging es an ein Brüten ununterbrochen (wenigstens habe ich keine Unterbrechung bemerkt) bis zum 18. März, und als ich endlich in Ungeduld und Neugierde nachsah, fand ich fünf Eier. Am 30. März bemerkte ich ein möglicherweise schon gestern dem Ei entschlüpftes Vögelchen neben und auf mehreren Eiern liegend. Am 6. April fiel mir auf, daß ich keine Stimmen aus dem Nest vernahm und daß die Alten ziemlich sorglos waren. Bei näherer Untersuchung fand sich, daß das eine und einzige ausgebrütete Thierchen unter den vier Eiern erdrückt und erstickt lag. Wahrscheinlich hatten die Alten die tauben Eier beseitigen wollen und bei dieser Arbeit das arme Kleine begraben. Das Nest wurde geleert." --
"Am 11. April legten sie wiederum ein Ei und am 15. April fand ich deren fünf vor. Am 27. April bemerkte ich zwei Junge darin, die schon ein bis zwei Tage alt sein mochten; die nicht aus- gebrüteten Eier waren verschwunden." --
"Am 1. Juni entfernte ich die beiden Jungen, denn die Alten brüteten wiederum. Am 20. Juni fand ich zwei Junge im Nest neben vier Eiern und am 24. Juni sechs Junge, welche bis zum 21. Juli bei den Eltern belassen wurden. Am 2. August waren wieder vier Eier gelegt und bis zum 6. August noch zwei. Alle sechs waren am 20. August ausgebrütet. Das Männchen muthete seinem Weibchen wirklich zuviel zu. Denn als die Jungen 10 Tage alt waren, trieb es schon wieder zu neuem Nestbau an. Da das Weibchen, sei es aus Erschöpfung oder weil sie ihre ungetheilte Auf- merksamkeit den Jungen annoch schuldig zu sein glaubte, den Anforderungen des feurigen Gemahls kein Gehör schenkte, so verfolgte er, der Vater von nunmehr schon 22 Kindern, die arme Mutter mit solchem Ungestüm, daß sie in größter Herzensangst zu ihren Jungen ins Nest flüchtete. Dem Wüthenden war aber auch diese Stätte nicht heilig. Er drang auf sie ein und wohin sollte das arme Thier flüchten! Da bot sich die schmale Oeffnung, die mein neugieriger Finger in die Faser- decke der Drahtkuppel des Nestes gebohrt, um die Geheimnisse ihrer Brütestätte zu belauschen, als einziger und günstiger Ausweg dar, der Zudringlichkeit des Männchens zu entrinnen, und husch! war mein Weibchen im Zimmer und immer weiter und weiter fliehend, zur offenen Thür hinaus in den Garten."
"Mein Schrecken war groß! Was sollte aus den sechs Jungen werden, die der Mutter noch gar sehr bedurften! Der Abend war vor der Thür, schon traf das Männchen Vorbereitungen zum Schlafengehen, nahm das Nachtessen und den Schlaftrunk ein und huschte sorglos, so schien es, zu den Jungen ins Nest. Vergeblich trug ich den Käfig in den Garten. Der Alte mit seinen Kindern schlief und schien nicht auf die wirklich jammernden Locktöne seines Weibchens zu achten, das aus dem Ge- zweige eines großen Nußbaumes sich vernehmen ließ, aber von uns nicht zu erspähen war. Jmmer stiller wurde es in der Natur, und immer matter und immer seltener wurde jener Klageton. Und zu- letzt verhallte er so eigenthümlich, als ob der Vogel, in wehmüthige Träume versunken, nur noch dann und wann mit einem abgebrochenen Weheruf sein Herz erleichterte. Endlich verstummte die Ver- stoßene ganz. Meine Gedanken waren freilich bei ihr! Mit dem grauenden Morgen verfügte ich mich
Die Knacker. Sperlingsvögel. Prachtfinken.
ruhige Verhalten der Vögel im Neſte. Jch wagte nicht, durch Neugier meinerſeits zu ſtören. Woche auf Woche verging, die Thiere brüteten fort und fort. Endlich überzeugte ich mich, daß fünf Eier im Neſte lagen. Noch eine Woche verging, es war die vierte, und ſchon reifte in Ungeduld der Ent- ſchluß, die Eier zu unterſuchen und wenn taub, wie ich vermuthete, zu entfernen, als ich durch feine Stimmchen aus dem Neſte heraus gewahr werden ſollte, daß meine emſigen Brüter ſich nicht umſonſt gemüht hatten (14. Januar). Den Alten ſelbſt glaubte ich die gleiche Freude anzuſehen, wie ich ſie mit ihnen empfand, ihre Munterkeit ſchien größer, als ſonſt, und ihre Zärtlichkeit war wirklich rührend. Am 30. Januar verließ eins der Jungen das Neſt und am 3. Februar wagten ſich die andern drei Geſchwiſter auch heraus.‟ —
„Zwei Tage ſpäter, am 5. Februar, arbeiteten die Eltern am neuen Neſt, vollendeten es am andern Tage und richteten ſich in demſelben häuslich ein. Am 15. Februar entfernte ich die Jungen der letzten Brut. Am 19. Februar fand ich ein Ei im Neſt und zwar dieſes mal im zweiten Erker. Jetzt ging es an ein Brüten ununterbrochen (wenigſtens habe ich keine Unterbrechung bemerkt) bis zum 18. März, und als ich endlich in Ungeduld und Neugierde nachſah, fand ich fünf Eier. Am 30. März bemerkte ich ein möglicherweiſe ſchon geſtern dem Ei entſchlüpftes Vögelchen neben und auf mehreren Eiern liegend. Am 6. April fiel mir auf, daß ich keine Stimmen aus dem Neſt vernahm und daß die Alten ziemlich ſorglos waren. Bei näherer Unterſuchung fand ſich, daß das eine und einzige ausgebrütete Thierchen unter den vier Eiern erdrückt und erſtickt lag. Wahrſcheinlich hatten die Alten die tauben Eier beſeitigen wollen und bei dieſer Arbeit das arme Kleine begraben. Das Neſt wurde geleert.‟ —
„Am 11. April legten ſie wiederum ein Ei und am 15. April fand ich deren fünf vor. Am 27. April bemerkte ich zwei Junge darin, die ſchon ein bis zwei Tage alt ſein mochten; die nicht aus- gebrüteten Eier waren verſchwunden.‟ —
„Am 1. Juni entfernte ich die beiden Jungen, denn die Alten brüteten wiederum. Am 20. Juni fand ich zwei Junge im Neſt neben vier Eiern und am 24. Juni ſechs Junge, welche bis zum 21. Juli bei den Eltern belaſſen wurden. Am 2. Auguſt waren wieder vier Eier gelegt und bis zum 6. Auguſt noch zwei. Alle ſechs waren am 20. Auguſt ausgebrütet. Das Männchen muthete ſeinem Weibchen wirklich zuviel zu. Denn als die Jungen 10 Tage alt waren, trieb es ſchon wieder zu neuem Neſtbau an. Da das Weibchen, ſei es aus Erſchöpfung oder weil ſie ihre ungetheilte Auf- merkſamkeit den Jungen annoch ſchuldig zu ſein glaubte, den Anforderungen des feurigen Gemahls kein Gehör ſchenkte, ſo verfolgte er, der Vater von nunmehr ſchon 22 Kindern, die arme Mutter mit ſolchem Ungeſtüm, daß ſie in größter Herzensangſt zu ihren Jungen ins Neſt flüchtete. Dem Wüthenden war aber auch dieſe Stätte nicht heilig. Er drang auf ſie ein und wohin ſollte das arme Thier flüchten! Da bot ſich die ſchmale Oeffnung, die mein neugieriger Finger in die Faſer- decke der Drahtkuppel des Neſtes gebohrt, um die Geheimniſſe ihrer Brüteſtätte zu belauſchen, als einziger und günſtiger Ausweg dar, der Zudringlichkeit des Männchens zu entrinnen, und huſch! war mein Weibchen im Zimmer und immer weiter und weiter fliehend, zur offenen Thür hinaus in den Garten.‟
„Mein Schrecken war groß! Was ſollte aus den ſechs Jungen werden, die der Mutter noch gar ſehr bedurften! Der Abend war vor der Thür, ſchon traf das Männchen Vorbereitungen zum Schlafengehen, nahm das Nachteſſen und den Schlaftrunk ein und huſchte ſorglos, ſo ſchien es, zu den Jungen ins Neſt. Vergeblich trug ich den Käfig in den Garten. Der Alte mit ſeinen Kindern ſchlief und ſchien nicht auf die wirklich jammernden Locktöne ſeines Weibchens zu achten, das aus dem Ge- zweige eines großen Nußbaumes ſich vernehmen ließ, aber von uns nicht zu erſpähen war. Jmmer ſtiller wurde es in der Natur, und immer matter und immer ſeltener wurde jener Klageton. Und zu- letzt verhallte er ſo eigenthümlich, als ob der Vogel, in wehmüthige Träume verſunken, nur noch dann und wann mit einem abgebrochenen Weheruf ſein Herz erleichterte. Endlich verſtummte die Ver- ſtoßene ganz. Meine Gedanken waren freilich bei ihr! Mit dem grauenden Morgen verfügte ich mich
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0224"n="204"/><fwplace="top"type="header">Die Knacker. Sperlingsvögel. Prachtfinken.</fw><lb/>
ruhige Verhalten der Vögel im Neſte. Jch wagte nicht, durch Neugier meinerſeits zu ſtören. Woche<lb/>
auf Woche verging, die Thiere brüteten fort und fort. Endlich überzeugte ich mich, daß <hirendition="#g">fünf Eier</hi><lb/>
im Neſte lagen. Noch eine Woche verging, es war die vierte, und ſchon reifte in Ungeduld der Ent-<lb/>ſchluß, die Eier zu unterſuchen und wenn taub, wie ich vermuthete, zu entfernen, als ich durch feine<lb/>
Stimmchen aus dem Neſte heraus gewahr werden ſollte, daß meine emſigen Brüter ſich nicht umſonſt<lb/>
gemüht hatten (14. Januar). Den Alten ſelbſt glaubte ich die gleiche Freude anzuſehen, wie ich ſie<lb/>
mit ihnen empfand, ihre Munterkeit ſchien größer, als ſonſt, und ihre Zärtlichkeit war wirklich<lb/>
rührend. Am 30. Januar verließ eins der Jungen das Neſt und am 3. Februar wagten ſich die<lb/>
andern drei Geſchwiſter auch heraus.‟—</p><lb/><p>„Zwei Tage ſpäter, am 5. Februar, arbeiteten die Eltern am <hirendition="#g">neuen Neſt,</hi> vollendeten es am<lb/>
andern Tage und richteten ſich in demſelben häuslich ein. Am 15. Februar entfernte ich die Jungen<lb/>
der letzten Brut. Am 19. Februar fand ich ein Ei im Neſt und zwar dieſes mal im zweiten Erker.<lb/>
Jetzt ging es an ein Brüten ununterbrochen (wenigſtens habe ich keine Unterbrechung bemerkt) bis<lb/>
zum 18. März, und als ich endlich in Ungeduld und Neugierde nachſah, fand ich fünf Eier. Am<lb/>
30. März bemerkte ich ein möglicherweiſe ſchon geſtern dem Ei entſchlüpftes Vögelchen neben und auf<lb/>
mehreren Eiern liegend. Am 6. April fiel mir auf, daß ich keine Stimmen aus dem Neſt vernahm<lb/>
und daß die Alten ziemlich ſorglos waren. Bei näherer Unterſuchung fand ſich, daß das eine und<lb/>
einzige ausgebrütete Thierchen unter den vier Eiern erdrückt und erſtickt lag. Wahrſcheinlich hatten<lb/>
die Alten die tauben Eier beſeitigen wollen und bei dieſer Arbeit das arme Kleine begraben. Das<lb/>
Neſt wurde geleert.‟—</p><lb/><p>„Am 11. April legten ſie wiederum ein Ei und am 15. April fand ich deren fünf vor. Am<lb/>
27. April bemerkte ich zwei Junge darin, die ſchon ein bis zwei Tage alt ſein mochten; die nicht aus-<lb/>
gebrüteten Eier waren verſchwunden.‟—</p><lb/><p>„Am 1. Juni entfernte ich die beiden Jungen, denn die Alten <hirendition="#g">brüteten wiederum.</hi> Am<lb/>
20. Juni fand ich zwei Junge im Neſt neben vier Eiern und am 24. Juni ſechs Junge, welche bis<lb/>
zum 21. Juli bei den Eltern belaſſen wurden. Am 2. Auguſt waren wieder vier Eier gelegt und bis<lb/>
zum 6. Auguſt noch zwei. Alle ſechs waren am 20. Auguſt ausgebrütet. Das Männchen muthete<lb/>ſeinem Weibchen wirklich zuviel zu. Denn als die Jungen 10 Tage alt waren, trieb es ſchon wieder<lb/>
zu neuem Neſtbau an. Da das Weibchen, ſei es aus Erſchöpfung oder weil ſie ihre ungetheilte Auf-<lb/>
merkſamkeit den Jungen annoch ſchuldig zu ſein glaubte, den Anforderungen des feurigen Gemahls<lb/>
kein Gehör ſchenkte, ſo verfolgte er, <hirendition="#g">der Vater von nunmehr ſchon</hi> 22 <hirendition="#g">Kindern,</hi> die arme<lb/>
Mutter mit ſolchem Ungeſtüm, daß ſie in größter Herzensangſt zu ihren Jungen ins Neſt flüchtete.<lb/>
Dem Wüthenden war aber auch dieſe Stätte nicht heilig. Er drang auf ſie ein und wohin ſollte das<lb/>
arme Thier flüchten! Da bot ſich die ſchmale Oeffnung, die mein neugieriger Finger in die Faſer-<lb/>
decke der Drahtkuppel des Neſtes gebohrt, um die Geheimniſſe ihrer Brüteſtätte zu belauſchen, als<lb/>
einziger und günſtiger Ausweg dar, der Zudringlichkeit des Männchens zu entrinnen, und huſch! war<lb/>
mein Weibchen im Zimmer und immer weiter und weiter fliehend, zur offenen Thür <hirendition="#g">hinaus in den<lb/>
Garten.</hi>‟</p><lb/><p>„Mein Schrecken war groß! Was ſollte aus den ſechs Jungen werden, die der Mutter noch gar<lb/>ſehr bedurften! Der Abend war vor der Thür, ſchon traf das Männchen Vorbereitungen zum<lb/>
Schlafengehen, nahm das Nachteſſen und den Schlaftrunk ein und huſchte ſorglos, ſo ſchien es, zu den<lb/>
Jungen ins Neſt. Vergeblich trug ich den Käfig in den Garten. Der Alte mit ſeinen Kindern ſchlief<lb/>
und ſchien nicht auf die wirklich jammernden Locktöne ſeines Weibchens zu achten, das aus dem Ge-<lb/>
zweige eines großen Nußbaumes ſich vernehmen ließ, aber von uns nicht zu erſpähen war. Jmmer<lb/>ſtiller wurde es in der Natur, und immer matter und immer ſeltener wurde jener Klageton. Und zu-<lb/>
letzt verhallte er ſo eigenthümlich, als ob der Vogel, in wehmüthige Träume verſunken, nur noch dann<lb/>
und wann mit einem abgebrochenen Weheruf ſein Herz erleichterte. Endlich verſtummte die Ver-<lb/>ſtoßene ganz. Meine Gedanken waren freilich bei ihr! Mit dem grauenden Morgen verfügte ich mich<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[204/0224]
Die Knacker. Sperlingsvögel. Prachtfinken.
ruhige Verhalten der Vögel im Neſte. Jch wagte nicht, durch Neugier meinerſeits zu ſtören. Woche
auf Woche verging, die Thiere brüteten fort und fort. Endlich überzeugte ich mich, daß fünf Eier
im Neſte lagen. Noch eine Woche verging, es war die vierte, und ſchon reifte in Ungeduld der Ent-
ſchluß, die Eier zu unterſuchen und wenn taub, wie ich vermuthete, zu entfernen, als ich durch feine
Stimmchen aus dem Neſte heraus gewahr werden ſollte, daß meine emſigen Brüter ſich nicht umſonſt
gemüht hatten (14. Januar). Den Alten ſelbſt glaubte ich die gleiche Freude anzuſehen, wie ich ſie
mit ihnen empfand, ihre Munterkeit ſchien größer, als ſonſt, und ihre Zärtlichkeit war wirklich
rührend. Am 30. Januar verließ eins der Jungen das Neſt und am 3. Februar wagten ſich die
andern drei Geſchwiſter auch heraus.‟ —
„Zwei Tage ſpäter, am 5. Februar, arbeiteten die Eltern am neuen Neſt, vollendeten es am
andern Tage und richteten ſich in demſelben häuslich ein. Am 15. Februar entfernte ich die Jungen
der letzten Brut. Am 19. Februar fand ich ein Ei im Neſt und zwar dieſes mal im zweiten Erker.
Jetzt ging es an ein Brüten ununterbrochen (wenigſtens habe ich keine Unterbrechung bemerkt) bis
zum 18. März, und als ich endlich in Ungeduld und Neugierde nachſah, fand ich fünf Eier. Am
30. März bemerkte ich ein möglicherweiſe ſchon geſtern dem Ei entſchlüpftes Vögelchen neben und auf
mehreren Eiern liegend. Am 6. April fiel mir auf, daß ich keine Stimmen aus dem Neſt vernahm
und daß die Alten ziemlich ſorglos waren. Bei näherer Unterſuchung fand ſich, daß das eine und
einzige ausgebrütete Thierchen unter den vier Eiern erdrückt und erſtickt lag. Wahrſcheinlich hatten
die Alten die tauben Eier beſeitigen wollen und bei dieſer Arbeit das arme Kleine begraben. Das
Neſt wurde geleert.‟ —
„Am 11. April legten ſie wiederum ein Ei und am 15. April fand ich deren fünf vor. Am
27. April bemerkte ich zwei Junge darin, die ſchon ein bis zwei Tage alt ſein mochten; die nicht aus-
gebrüteten Eier waren verſchwunden.‟ —
„Am 1. Juni entfernte ich die beiden Jungen, denn die Alten brüteten wiederum. Am
20. Juni fand ich zwei Junge im Neſt neben vier Eiern und am 24. Juni ſechs Junge, welche bis
zum 21. Juli bei den Eltern belaſſen wurden. Am 2. Auguſt waren wieder vier Eier gelegt und bis
zum 6. Auguſt noch zwei. Alle ſechs waren am 20. Auguſt ausgebrütet. Das Männchen muthete
ſeinem Weibchen wirklich zuviel zu. Denn als die Jungen 10 Tage alt waren, trieb es ſchon wieder
zu neuem Neſtbau an. Da das Weibchen, ſei es aus Erſchöpfung oder weil ſie ihre ungetheilte Auf-
merkſamkeit den Jungen annoch ſchuldig zu ſein glaubte, den Anforderungen des feurigen Gemahls
kein Gehör ſchenkte, ſo verfolgte er, der Vater von nunmehr ſchon 22 Kindern, die arme
Mutter mit ſolchem Ungeſtüm, daß ſie in größter Herzensangſt zu ihren Jungen ins Neſt flüchtete.
Dem Wüthenden war aber auch dieſe Stätte nicht heilig. Er drang auf ſie ein und wohin ſollte das
arme Thier flüchten! Da bot ſich die ſchmale Oeffnung, die mein neugieriger Finger in die Faſer-
decke der Drahtkuppel des Neſtes gebohrt, um die Geheimniſſe ihrer Brüteſtätte zu belauſchen, als
einziger und günſtiger Ausweg dar, der Zudringlichkeit des Männchens zu entrinnen, und huſch! war
mein Weibchen im Zimmer und immer weiter und weiter fliehend, zur offenen Thür hinaus in den
Garten.‟
„Mein Schrecken war groß! Was ſollte aus den ſechs Jungen werden, die der Mutter noch gar
ſehr bedurften! Der Abend war vor der Thür, ſchon traf das Männchen Vorbereitungen zum
Schlafengehen, nahm das Nachteſſen und den Schlaftrunk ein und huſchte ſorglos, ſo ſchien es, zu den
Jungen ins Neſt. Vergeblich trug ich den Käfig in den Garten. Der Alte mit ſeinen Kindern ſchlief
und ſchien nicht auf die wirklich jammernden Locktöne ſeines Weibchens zu achten, das aus dem Ge-
zweige eines großen Nußbaumes ſich vernehmen ließ, aber von uns nicht zu erſpähen war. Jmmer
ſtiller wurde es in der Natur, und immer matter und immer ſeltener wurde jener Klageton. Und zu-
letzt verhallte er ſo eigenthümlich, als ob der Vogel, in wehmüthige Träume verſunken, nur noch dann
und wann mit einem abgebrochenen Weheruf ſein Herz erleichterte. Endlich verſtummte die Ver-
ſtoßene ganz. Meine Gedanken waren freilich bei ihr! Mit dem grauenden Morgen verfügte ich mich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/224>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.