sie von den Müttern zu trennen. Dies hat seine großen Schwierigkeiten, weil die Kühe sich wüthend auf die Hirten zu stürzen pflegen und diese gar nicht selten arg verletzen oder sogar tödten. Noch heutzutage ist die Rindviehzucht in ganz Ungarn sehr bedeutend, obgleich der lohnenderen Schafzucht wegen im Abnehmen begriffen.
Selbst in Jtalien lebt noch ein großer Theil der Rinder im halbwilden Zustande. Jn der Ma- remma, jenem beinahe vollkommen flachen, hier und da fruchtbaren, sonst aber sumpfigen Küsten- strich zwischen Genua und Gaeta, welcher wegen seines ungesunden Klimas sehr verrufen und nur dünn bevölkert ist, treiben sich zahlreiche Herden des italienischen Rindes umher, welche jahraus jahr- ein unter freiem Himmel leben, weite Wanderungen ausführen und nur von den rohesten, abge- härtetsten Menschen beaufsichtigt werden.
Jn der Wallachei, in Serbien, Bosnien, Bulgarien und Syrien finden wir das Rind unter ähnlichen Verhältnissen.
Eine ganz andere Pflege genießt das geschätzte Hausthier in den Gebirgsländern Mittel- europas, namentlich in den Alpen, obgleich auch hier noch Manches zu wünschen übrig bleibt. Nach Tschudi's Angaben hält die Schweiz gegenwärtig etwa 850,000 Stück Rindvieh, und zwar nimmt sonderbarerweise in den ebenen Gegenden, wo der Weidegang nach den Alpen aufgehoben wurde, die Viehzucht zu, in den Alpen dagegen ab, "weil man," wie Tschudi sagt, "leider wenig Tröstliches von dem Zustande der Rinderherden auf den Alpen erzählen kann. Meistens fehlt eine zweckmäßige, mitunter sogar jede Stallung. Die Kühe treiben sich in ihrer Alp umher und weiden das kurze, würzige Gras ab, welches weder hoch, noch breit wächst. Fällt im Früh- oder Spätjahr plötzlich Schnee, so sammeln sich die brüllenden Herden vor den Hütten, wo sie kaum Obdach finden, wo ihnen der Senn oft nicht einmal eine Hand voll Heu zu bieten hat. Bei andauerndem kalten Regen suchen sie Schutz unter Felsen oder in Wäldern. Hochträchtige Kühe müssen oft weit entfernt vom menschlichen Beistande kalben und bringen am Abend dem überraschten Sennen ein volles Euter und ein munteres Kalb vor die Hütte. Nicht selten aber geht es auch schlimmer ab. Und doch ist auch dem schlecht geschützten Vieh die schöne, ruhige Zeit des Alpenaufenthaltes eine überaus liebe. Man bringe nur jene große Vorschelle, welche bei der Fahrt auf die Alp und bei der Rückkehr ihre weithin tönende Stimme erschallen läßt, im Frühling unter die Viehherde im Thal, so erregt Dies gleich die allgemeine Aufmerksamkeit. Die Kühe sammeln sich brüllend in freudigen Sprüngen und meinen das Zeichen zur Alpfahrt zu vernehmen, und wenn diese wirklich begonnen wird, wenn die schönste Kuh mit der größten Glocke am bunten Bande behangen und wohl mit einem Strauß zwi- schen den Hörnern geschmückt wird, wenn das Saumroß mit Käsekesseln und Vorrath bepackt ist, die Melkstühle den Rindern zwischen den Hörnern sitzen, die sauberen Sennen ihre Alpenlieder an- stimmen und der jauchzende Jodel weit durchs Thal schallt, dann soll man den trefflichen Humor beobachten, in dem die gut- und oft übermüthigen Thiere sich in den Zug reihen und brüllend den Bergen zu marschiren. Jm Thale zurückgehaltene Kühe folgen oft unversehens auf eigene Faust den Gefährten auf entfernte Alpen."
"Freilich ist es bei schönem Wetter für eine Kuh auch gar herrlich hoch in den Gebirgen. Frauen- mäntelchen, Mutterkraut und Alpenwegerich bieten dem schnoppernden Thiere die trefflichste und würzigste Nahrung. Die Sonne brennt nicht so heiß, wie im Thale, die lästigen Bremsen quälen das Rind während des Mittagsschläfchens nicht, und leidet es vielleicht noch von einem Ungeziefer, so sind die zwischen den Thieren ruhig herumlaufenden Staren und gelben Bachstelzen stets bereit, ihnen Liebesdienste zu erweisen: das Vieh ist munterer, frischer und gesünder, als das im Thale, und pflanzt sich regelmäßiger und naturgetreuer fort; das naturgemäße Leben bildet den natürlichen Ver- stand besser aus. Das Rind, welches ganz für sich zog, ist aufmerksamer, sorgfältiger, hat mehr Gedächtniß, als das stets verpflegte. Die Alpkuh weiß jede Staude, jede Pfütze, kennt genau die besseren Grasplätze, weiß die Zeit des Melkens, kennt von fern die Lockstimme des Hüters und naht ihm zutraulich; sie weiß, wann sie Salz bekommt, wann sie zur Hütte oder zur Tränke muß,
Die eigentlichen Rinder. — Das Alpenrindvieh.
ſie von den Müttern zu trennen. Dies hat ſeine großen Schwierigkeiten, weil die Kühe ſich wüthend auf die Hirten zu ſtürzen pflegen und dieſe gar nicht ſelten arg verletzen oder ſogar tödten. Noch heutzutage iſt die Rindviehzucht in ganz Ungarn ſehr bedeutend, obgleich der lohnenderen Schafzucht wegen im Abnehmen begriffen.
Selbſt in Jtalien lebt noch ein großer Theil der Rinder im halbwilden Zuſtande. Jn der Ma- remma, jenem beinahe vollkommen flachen, hier und da fruchtbaren, ſonſt aber ſumpfigen Küſten- ſtrich zwiſchen Genua und Gaëta, welcher wegen ſeines ungeſunden Klimas ſehr verrufen und nur dünn bevölkert iſt, treiben ſich zahlreiche Herden des italieniſchen Rindes umher, welche jahraus jahr- ein unter freiem Himmel leben, weite Wanderungen ausführen und nur von den roheſten, abge- härtetſten Menſchen beaufſichtigt werden.
Jn der Wallachei, in Serbien, Bosnien, Bulgarien und Syrien finden wir das Rind unter ähnlichen Verhältniſſen.
Eine ganz andere Pflege genießt das geſchätzte Hausthier in den Gebirgsländern Mittel- europas, namentlich in den Alpen, obgleich auch hier noch Manches zu wünſchen übrig bleibt. Nach Tſchudi’s Angaben hält die Schweiz gegenwärtig etwa 850,000 Stück Rindvieh, und zwar nimmt ſonderbarerweiſe in den ebenen Gegenden, wo der Weidegang nach den Alpen aufgehoben wurde, die Viehzucht zu, in den Alpen dagegen ab, „weil man,‟ wie Tſchudi ſagt, „leider wenig Tröſtliches von dem Zuſtande der Rinderherden auf den Alpen erzählen kann. Meiſtens fehlt eine zweckmäßige, mitunter ſogar jede Stallung. Die Kühe treiben ſich in ihrer Alp umher und weiden das kurze, würzige Gras ab, welches weder hoch, noch breit wächſt. Fällt im Früh- oder Spätjahr plötzlich Schnee, ſo ſammeln ſich die brüllenden Herden vor den Hütten, wo ſie kaum Obdach finden, wo ihnen der Senn oft nicht einmal eine Hand voll Heu zu bieten hat. Bei andauerndem kalten Regen ſuchen ſie Schutz unter Felſen oder in Wäldern. Hochträchtige Kühe müſſen oft weit entfernt vom menſchlichen Beiſtande kalben und bringen am Abend dem überraſchten Sennen ein volles Euter und ein munteres Kalb vor die Hütte. Nicht ſelten aber geht es auch ſchlimmer ab. Und doch iſt auch dem ſchlecht geſchützten Vieh die ſchöne, ruhige Zeit des Alpenaufenthaltes eine überaus liebe. Man bringe nur jene große Vorſchelle, welche bei der Fahrt auf die Alp und bei der Rückkehr ihre weithin tönende Stimme erſchallen läßt, im Frühling unter die Viehherde im Thal, ſo erregt Dies gleich die allgemeine Aufmerkſamkeit. Die Kühe ſammeln ſich brüllend in freudigen Sprüngen und meinen das Zeichen zur Alpfahrt zu vernehmen, und wenn dieſe wirklich begonnen wird, wenn die ſchönſte Kuh mit der größten Glocke am bunten Bande behangen und wohl mit einem Strauß zwi- ſchen den Hörnern geſchmückt wird, wenn das Saumroß mit Käſekeſſeln und Vorrath bepackt iſt, die Melkſtühle den Rindern zwiſchen den Hörnern ſitzen, die ſauberen Sennen ihre Alpenlieder an- ſtimmen und der jauchzende Jodel weit durchs Thal ſchallt, dann ſoll man den trefflichen Humor beobachten, in dem die gut- und oft übermüthigen Thiere ſich in den Zug reihen und brüllend den Bergen zu marſchiren. Jm Thale zurückgehaltene Kühe folgen oft unverſehens auf eigene Fauſt den Gefährten auf entfernte Alpen.‟
„Freilich iſt es bei ſchönem Wetter für eine Kuh auch gar herrlich hoch in den Gebirgen. Frauen- mäntelchen, Mutterkraut und Alpenwegerich bieten dem ſchnoppernden Thiere die trefflichſte und würzigſte Nahrung. Die Sonne brennt nicht ſo heiß, wie im Thale, die läſtigen Bremſen quälen das Rind während des Mittagsſchläfchens nicht, und leidet es vielleicht noch von einem Ungeziefer, ſo ſind die zwiſchen den Thieren ruhig herumlaufenden Staren und gelben Bachſtelzen ſtets bereit, ihnen Liebesdienſte zu erweiſen: das Vieh iſt munterer, friſcher und geſünder, als das im Thale, und pflanzt ſich regelmäßiger und naturgetreuer fort; das naturgemäße Leben bildet den natürlichen Ver- ſtand beſſer aus. Das Rind, welches ganz für ſich zog, iſt aufmerkſamer, ſorgfältiger, hat mehr Gedächtniß, als das ſtets verpflegte. Die Alpkuh weiß jede Staude, jede Pfütze, kennt genau die beſſeren Grasplätze, weiß die Zeit des Melkens, kennt von fern die Lockſtimme des Hüters und naht ihm zutraulich; ſie weiß, wann ſie Salz bekommt, wann ſie zur Hütte oder zur Tränke muß,
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[674/0708]
Die eigentlichen Rinder. — Das Alpenrindvieh.
ſie von den Müttern zu trennen. Dies hat ſeine großen Schwierigkeiten, weil die Kühe ſich wüthend
auf die Hirten zu ſtürzen pflegen und dieſe gar nicht ſelten arg verletzen oder ſogar tödten. Noch
heutzutage iſt die Rindviehzucht in ganz Ungarn ſehr bedeutend, obgleich der lohnenderen Schafzucht
wegen im Abnehmen begriffen.
Selbſt in Jtalien lebt noch ein großer Theil der Rinder im halbwilden Zuſtande. Jn der Ma-
remma, jenem beinahe vollkommen flachen, hier und da fruchtbaren, ſonſt aber ſumpfigen Küſten-
ſtrich zwiſchen Genua und Gaëta, welcher wegen ſeines ungeſunden Klimas ſehr verrufen und nur
dünn bevölkert iſt, treiben ſich zahlreiche Herden des italieniſchen Rindes umher, welche jahraus jahr-
ein unter freiem Himmel leben, weite Wanderungen ausführen und nur von den roheſten, abge-
härtetſten Menſchen beaufſichtigt werden.
Jn der Wallachei, in Serbien, Bosnien, Bulgarien und Syrien finden wir das Rind unter
ähnlichen Verhältniſſen.
Eine ganz andere Pflege genießt das geſchätzte Hausthier in den Gebirgsländern Mittel-
europas, namentlich in den Alpen, obgleich auch hier noch Manches zu wünſchen übrig bleibt. Nach
Tſchudi’s Angaben hält die Schweiz gegenwärtig etwa 850,000 Stück Rindvieh, und zwar nimmt
ſonderbarerweiſe in den ebenen Gegenden, wo der Weidegang nach den Alpen aufgehoben wurde, die
Viehzucht zu, in den Alpen dagegen ab, „weil man,‟ wie Tſchudi ſagt, „leider wenig Tröſtliches von
dem Zuſtande der Rinderherden auf den Alpen erzählen kann. Meiſtens fehlt eine zweckmäßige,
mitunter ſogar jede Stallung. Die Kühe treiben ſich in ihrer Alp umher und weiden das kurze,
würzige Gras ab, welches weder hoch, noch breit wächſt. Fällt im Früh- oder Spätjahr plötzlich
Schnee, ſo ſammeln ſich die brüllenden Herden vor den Hütten, wo ſie kaum Obdach finden, wo
ihnen der Senn oft nicht einmal eine Hand voll Heu zu bieten hat. Bei andauerndem kalten Regen
ſuchen ſie Schutz unter Felſen oder in Wäldern. Hochträchtige Kühe müſſen oft weit entfernt vom
menſchlichen Beiſtande kalben und bringen am Abend dem überraſchten Sennen ein volles Euter
und ein munteres Kalb vor die Hütte. Nicht ſelten aber geht es auch ſchlimmer ab. Und doch iſt
auch dem ſchlecht geſchützten Vieh die ſchöne, ruhige Zeit des Alpenaufenthaltes eine überaus liebe.
Man bringe nur jene große Vorſchelle, welche bei der Fahrt auf die Alp und bei der Rückkehr ihre
weithin tönende Stimme erſchallen läßt, im Frühling unter die Viehherde im Thal, ſo erregt Dies
gleich die allgemeine Aufmerkſamkeit. Die Kühe ſammeln ſich brüllend in freudigen Sprüngen und
meinen das Zeichen zur Alpfahrt zu vernehmen, und wenn dieſe wirklich begonnen wird, wenn die
ſchönſte Kuh mit der größten Glocke am bunten Bande behangen und wohl mit einem Strauß zwi-
ſchen den Hörnern geſchmückt wird, wenn das Saumroß mit Käſekeſſeln und Vorrath bepackt iſt,
die Melkſtühle den Rindern zwiſchen den Hörnern ſitzen, die ſauberen Sennen ihre Alpenlieder an-
ſtimmen und der jauchzende Jodel weit durchs Thal ſchallt, dann ſoll man den trefflichen Humor
beobachten, in dem die gut- und oft übermüthigen Thiere ſich in den Zug reihen und brüllend den
Bergen zu marſchiren. Jm Thale zurückgehaltene Kühe folgen oft unverſehens auf eigene Fauſt den
Gefährten auf entfernte Alpen.‟
„Freilich iſt es bei ſchönem Wetter für eine Kuh auch gar herrlich hoch in den Gebirgen. Frauen-
mäntelchen, Mutterkraut und Alpenwegerich bieten dem ſchnoppernden Thiere die trefflichſte und
würzigſte Nahrung. Die Sonne brennt nicht ſo heiß, wie im Thale, die läſtigen Bremſen quälen
das Rind während des Mittagsſchläfchens nicht, und leidet es vielleicht noch von einem Ungeziefer, ſo
ſind die zwiſchen den Thieren ruhig herumlaufenden Staren und gelben Bachſtelzen ſtets bereit,
ihnen Liebesdienſte zu erweiſen: das Vieh iſt munterer, friſcher und geſünder, als das im Thale, und
pflanzt ſich regelmäßiger und naturgetreuer fort; das naturgemäße Leben bildet den natürlichen Ver-
ſtand beſſer aus. Das Rind, welches ganz für ſich zog, iſt aufmerkſamer, ſorgfältiger, hat mehr
Gedächtniß, als das ſtets verpflegte. Die Alpkuh weiß jede Staude, jede Pfütze, kennt genau die
beſſeren Grasplätze, weiß die Zeit des Melkens, kennt von fern die Lockſtimme des Hüters und
naht ihm zutraulich; ſie weiß, wann ſie Salz bekommt, wann ſie zur Hütte oder zur Tränke muß,
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 674. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/708>, abgerufen am 23.11.2024.
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