ihm Jemand nahte, schüttelte den Kopf, leckte mit der Zunge und wies seine Hörner; aber nach zwei Monaten war auch er ziemlich zahm und zeigte Neigung zu dem Manne, welcher ihn bisher gefüttert hatte. Von nun an konnte man ihn freier halten.
Man bemerkte an allen diesen Thieren, daß sie gern mit den Füßen auf dem Boden scharren, Erde in die Höhe werfen und sich wie Pferde bäumen. Sobald sie aus dem Stalle kamen, wurden sie muthig, erhoben stolz den Kopf, öffneten ihre Nüstern, schnaubten und machten die lustigsten Sprünge. Sie merkten es sehr, daß sie eingesperrt waren, und blickten bald nach den ungeheuren Waldungen, bald nach den grünen Wiesen sehnsuchtsvoll hin; es schien fast, als ob sie Heimweh hätten oder sich ihre ungezwungene Freiheit zurückwünschten; denn immer kehrten sie gesenkten Hauptes und traurig in den Stall zurück. Gegen ihren Pfleger bewiesen sie eine große Zuneigung. Sie sahen ihm nach, wenn er ging, begrüßten ihn durch Entgegenkommen, wenn er sich nahte, scheuerten sich an ihm, leckten ihm die Hände und hörten auf seine Stimme.
Man hatte die sieben gefangenen Wisents an zwei von einander entfernten Orten eingestellt. Die beiden auf der ersten Jagd gefangenen Männchen vertrugen das ihnen gereichte Futter sehr gut, die übrigen, welche nur Milch tranken, aber säugten, litten eine Woche lang am Durchfall, wahr- scheinlich weil die Milch, welche von fern herbeigeschafft werden mußte, nicht immer frisch und süß war; denn ihr Unwohlsein verlor sich, als sie warme Milch vom Euter der Kuh weg erhielten. Die beiden Männchen leckten Salz, die übrigen verschmähten es, wie der ältere Stier die Milch. Er bekam vom ersten Tage an Hafer mit Häcksel gemengt, Heu aus den Waldwiesen, Rinden und Blätter der Esche und verschiedene Waldkräuter. Als die übrigen Kälber nicht mehr mit Milch ge- nährt wurden, erhielten sie dasselbe Futter. Sie tranken täglich mehrmals Wasser, die jüngeren Thiere aber erst, nachdem es mit Milch versetzt worden war. Jhren Hunger oder Durst gaben sie durch ein schweineähnliches Grunzen zu erkennen.
Das reichliche und abwechselnde Futter, ein Stall, welcher sie im Winter vor der Kälte und im Sommer vor den Kerbthierstichen schützte, war ihrem Gedeihen sehr förderlich. Sie wuchsen schnell heran.
Später brachte man die schon halb gezähmten Thiere von Bialowicza nach Grodno, zwanzig deutsche Meilen weit. Das für St. Petersburg bestimmte Paar, zwei Stiere, befand sich in einem läng- lichen Käfig, der mit Stroh bedeckt und in zwei Abtheilungen geschieden war, so daß sich die Thiere niederlegen konnten, ohne sich von einander zu entfernen. Der neue Käfig und das Schaukeln des Wagens schien sie mit Furcht zu erfüllen. Sie verhielten sich zwar ruhig, fraßen aber in den ersten vierundzwanzig Stunden nicht, legten sich auch nicht nieder. Schon am zweiten Tage jedoch be- trugen sie sich wie gewöhnlich. Das für London bestimmte Paar ward in einem geräumigeren und bedeckten Käfig fortgeschafft. Der Stier zeigte sich während der ganzen Reise aufs höchste verstimmt und brüllte fortwährend ingrimmig, wie ein Bulle. Zu Grodno brachte man beide Paare in einen geräu- migen Stall und trennte sie hier nur anfänglich durch Querbalken. Sie fielen aber so wüthend über einander her, daß man sie aus einander thun mußte; denn die Scheidewände hielten sie durch- aus nicht ab: sie zertrümmerten diese mit wenigen Stößen. Sonderbarerweise griffen die drei Stiere gleichzeitig die einzige Kuh an und würden ohne Hinzukommen der Wärter sie getödtet haben. Erst allmählich gewöhnten sie sich an einander. --
Jch sah die Wisents zuerst im Thiergarten zu Schönbrunn. Sie bewohnten dort seit einigen Jahren einen Stall, vor welchem sich ein mit dicken Stämmen umhegter Hof befand. Sehr starke Eichenpfosten trugen die Querbalken der Umhegung; sie staken viele Fuß tief in der Erde und waren noch außerdem durch Strebebalken befestigt. Als ich die Thiere besuchte, hatte die Kuh gerade ein noch saugendes Kalb, und ihre Besorgniß für dasselbe drückte sich deutlich in ihrem ganzen Wesen aus. Jch trat, um die seltenen Geschöpfe sogut als möglich zu sehen, etwas näher an die Umhegung, als dies den Wisents lieb sein mochte; denn plötzlich senkte die Kuh ihren Kopf nieder, schoß brüllend und die blaue Zunge lang aus dem Halse hervorstreckend, auf mich los
Der Wiſent.
ihm Jemand nahte, ſchüttelte den Kopf, leckte mit der Zunge und wies ſeine Hörner; aber nach zwei Monaten war auch er ziemlich zahm und zeigte Neigung zu dem Manne, welcher ihn bisher gefüttert hatte. Von nun an konnte man ihn freier halten.
Man bemerkte an allen dieſen Thieren, daß ſie gern mit den Füßen auf dem Boden ſcharren, Erde in die Höhe werfen und ſich wie Pferde bäumen. Sobald ſie aus dem Stalle kamen, wurden ſie muthig, erhoben ſtolz den Kopf, öffneten ihre Nüſtern, ſchnaubten und machten die luſtigſten Sprünge. Sie merkten es ſehr, daß ſie eingeſperrt waren, und blickten bald nach den ungeheuren Waldungen, bald nach den grünen Wieſen ſehnſuchtsvoll hin; es ſchien faſt, als ob ſie Heimweh hätten oder ſich ihre ungezwungene Freiheit zurückwünſchten; denn immer kehrten ſie geſenkten Hauptes und traurig in den Stall zurück. Gegen ihren Pfleger bewieſen ſie eine große Zuneigung. Sie ſahen ihm nach, wenn er ging, begrüßten ihn durch Entgegenkommen, wenn er ſich nahte, ſcheuerten ſich an ihm, leckten ihm die Hände und hörten auf ſeine Stimme.
Man hatte die ſieben gefangenen Wiſents an zwei von einander entfernten Orten eingeſtellt. Die beiden auf der erſten Jagd gefangenen Männchen vertrugen das ihnen gereichte Futter ſehr gut, die übrigen, welche nur Milch tranken, aber ſäugten, litten eine Woche lang am Durchfall, wahr- ſcheinlich weil die Milch, welche von fern herbeigeſchafft werden mußte, nicht immer friſch und ſüß war; denn ihr Unwohlſein verlor ſich, als ſie warme Milch vom Euter der Kuh weg erhielten. Die beiden Männchen leckten Salz, die übrigen verſchmähten es, wie der ältere Stier die Milch. Er bekam vom erſten Tage an Hafer mit Häckſel gemengt, Heu aus den Waldwieſen, Rinden und Blätter der Eſche und verſchiedene Waldkräuter. Als die übrigen Kälber nicht mehr mit Milch ge- nährt wurden, erhielten ſie daſſelbe Futter. Sie tranken täglich mehrmals Waſſer, die jüngeren Thiere aber erſt, nachdem es mit Milch verſetzt worden war. Jhren Hunger oder Durſt gaben ſie durch ein ſchweineähnliches Grunzen zu erkennen.
Das reichliche und abwechſelnde Futter, ein Stall, welcher ſie im Winter vor der Kälte und im Sommer vor den Kerbthierſtichen ſchützte, war ihrem Gedeihen ſehr förderlich. Sie wuchſen ſchnell heran.
Später brachte man die ſchon halb gezähmten Thiere von Bialowicza nach Grodno, zwanzig deutſche Meilen weit. Das für St. Petersburg beſtimmte Paar, zwei Stiere, befand ſich in einem läng- lichen Käfig, der mit Stroh bedeckt und in zwei Abtheilungen geſchieden war, ſo daß ſich die Thiere niederlegen konnten, ohne ſich von einander zu entfernen. Der neue Käfig und das Schaukeln des Wagens ſchien ſie mit Furcht zu erfüllen. Sie verhielten ſich zwar ruhig, fraßen aber in den erſten vierundzwanzig Stunden nicht, legten ſich auch nicht nieder. Schon am zweiten Tage jedoch be- trugen ſie ſich wie gewöhnlich. Das für London beſtimmte Paar ward in einem geräumigeren und bedeckten Käfig fortgeſchafft. Der Stier zeigte ſich während der ganzen Reiſe aufs höchſte verſtimmt und brüllte fortwährend ingrimmig, wie ein Bulle. Zu Grodno brachte man beide Paare in einen geräu- migen Stall und trennte ſie hier nur anfänglich durch Querbalken. Sie fielen aber ſo wüthend über einander her, daß man ſie aus einander thun mußte; denn die Scheidewände hielten ſie durch- aus nicht ab: ſie zertrümmerten dieſe mit wenigen Stößen. Sonderbarerweiſe griffen die drei Stiere gleichzeitig die einzige Kuh an und würden ohne Hinzukommen der Wärter ſie getödtet haben. Erſt allmählich gewöhnten ſie ſich an einander. —
Jch ſah die Wiſents zuerſt im Thiergarten zu Schönbrunn. Sie bewohnten dort ſeit einigen Jahren einen Stall, vor welchem ſich ein mit dicken Stämmen umhegter Hof befand. Sehr ſtarke Eichenpfoſten trugen die Querbalken der Umhegung; ſie ſtaken viele Fuß tief in der Erde und waren noch außerdem durch Strebebalken befeſtigt. Als ich die Thiere beſuchte, hatte die Kuh gerade ein noch ſaugendes Kalb, und ihre Beſorgniß für daſſelbe drückte ſich deutlich in ihrem ganzen Weſen aus. Jch trat, um die ſeltenen Geſchöpfe ſogut als möglich zu ſehen, etwas näher an die Umhegung, als dies den Wiſents lieb ſein mochte; denn plötzlich ſenkte die Kuh ihren Kopf nieder, ſchoß brüllend und die blaue Zunge lang aus dem Halſe hervorſtreckend, auf mich los
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[645/0679]
Der Wiſent.
ihm Jemand nahte, ſchüttelte den Kopf, leckte mit der Zunge und wies ſeine Hörner; aber nach
zwei Monaten war auch er ziemlich zahm und zeigte Neigung zu dem Manne, welcher ihn bisher
gefüttert hatte. Von nun an konnte man ihn freier halten.
Man bemerkte an allen dieſen Thieren, daß ſie gern mit den Füßen auf dem Boden ſcharren,
Erde in die Höhe werfen und ſich wie Pferde bäumen. Sobald ſie aus dem Stalle kamen, wurden
ſie muthig, erhoben ſtolz den Kopf, öffneten ihre Nüſtern, ſchnaubten und machten die luſtigſten
Sprünge. Sie merkten es ſehr, daß ſie eingeſperrt waren, und blickten bald nach den ungeheuren
Waldungen, bald nach den grünen Wieſen ſehnſuchtsvoll hin; es ſchien faſt, als ob ſie Heimweh
hätten oder ſich ihre ungezwungene Freiheit zurückwünſchten; denn immer kehrten ſie geſenkten
Hauptes und traurig in den Stall zurück. Gegen ihren Pfleger bewieſen ſie eine große Zuneigung.
Sie ſahen ihm nach, wenn er ging, begrüßten ihn durch Entgegenkommen, wenn er ſich nahte,
ſcheuerten ſich an ihm, leckten ihm die Hände und hörten auf ſeine Stimme.
Man hatte die ſieben gefangenen Wiſents an zwei von einander entfernten Orten eingeſtellt.
Die beiden auf der erſten Jagd gefangenen Männchen vertrugen das ihnen gereichte Futter ſehr gut,
die übrigen, welche nur Milch tranken, aber ſäugten, litten eine Woche lang am Durchfall, wahr-
ſcheinlich weil die Milch, welche von fern herbeigeſchafft werden mußte, nicht immer friſch und ſüß
war; denn ihr Unwohlſein verlor ſich, als ſie warme Milch vom Euter der Kuh weg erhielten. Die
beiden Männchen leckten Salz, die übrigen verſchmähten es, wie der ältere Stier die Milch. Er
bekam vom erſten Tage an Hafer mit Häckſel gemengt, Heu aus den Waldwieſen, Rinden und
Blätter der Eſche und verſchiedene Waldkräuter. Als die übrigen Kälber nicht mehr mit Milch ge-
nährt wurden, erhielten ſie daſſelbe Futter. Sie tranken täglich mehrmals Waſſer, die jüngeren
Thiere aber erſt, nachdem es mit Milch verſetzt worden war. Jhren Hunger oder Durſt gaben ſie
durch ein ſchweineähnliches Grunzen zu erkennen.
Das reichliche und abwechſelnde Futter, ein Stall, welcher ſie im Winter vor der Kälte und
im Sommer vor den Kerbthierſtichen ſchützte, war ihrem Gedeihen ſehr förderlich. Sie wuchſen
ſchnell heran.
Später brachte man die ſchon halb gezähmten Thiere von Bialowicza nach Grodno, zwanzig deutſche
Meilen weit. Das für St. Petersburg beſtimmte Paar, zwei Stiere, befand ſich in einem läng-
lichen Käfig, der mit Stroh bedeckt und in zwei Abtheilungen geſchieden war, ſo daß ſich die Thiere
niederlegen konnten, ohne ſich von einander zu entfernen. Der neue Käfig und das Schaukeln des
Wagens ſchien ſie mit Furcht zu erfüllen. Sie verhielten ſich zwar ruhig, fraßen aber in den erſten
vierundzwanzig Stunden nicht, legten ſich auch nicht nieder. Schon am zweiten Tage jedoch be-
trugen ſie ſich wie gewöhnlich. Das für London beſtimmte Paar ward in einem geräumigeren und
bedeckten Käfig fortgeſchafft. Der Stier zeigte ſich während der ganzen Reiſe aufs höchſte verſtimmt und
brüllte fortwährend ingrimmig, wie ein Bulle. Zu Grodno brachte man beide Paare in einen geräu-
migen Stall und trennte ſie hier nur anfänglich durch Querbalken. Sie fielen aber ſo wüthend
über einander her, daß man ſie aus einander thun mußte; denn die Scheidewände hielten ſie durch-
aus nicht ab: ſie zertrümmerten dieſe mit wenigen Stößen. Sonderbarerweiſe griffen die drei Stiere
gleichzeitig die einzige Kuh an und würden ohne Hinzukommen der Wärter ſie getödtet haben. Erſt
allmählich gewöhnten ſie ſich an einander. —
Jch ſah die Wiſents zuerſt im Thiergarten zu Schönbrunn. Sie bewohnten dort ſeit einigen
Jahren einen Stall, vor welchem ſich ein mit dicken Stämmen umhegter Hof befand. Sehr
ſtarke Eichenpfoſten trugen die Querbalken der Umhegung; ſie ſtaken viele Fuß tief in der Erde und
waren noch außerdem durch Strebebalken befeſtigt. Als ich die Thiere beſuchte, hatte die Kuh
gerade ein noch ſaugendes Kalb, und ihre Beſorgniß für daſſelbe drückte ſich deutlich in ihrem
ganzen Weſen aus. Jch trat, um die ſeltenen Geſchöpfe ſogut als möglich zu ſehen, etwas näher
an die Umhegung, als dies den Wiſents lieb ſein mochte; denn plötzlich ſenkte die Kuh ihren
Kopf nieder, ſchoß brüllend und die blaue Zunge lang aus dem Halſe hervorſtreckend, auf mich los
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 645. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/679>, abgerufen am 23.11.2024.
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