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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Die Rinder. -- Der Wisent.

Jn den ältesten Zeiten jagte der gemeine Mann den Wisent zu Fuß und mit Lanzen. Die
Jäger gingen immer selbander aus; der eine rückte dem wüthenden Thiere kühn zu Leibe und suchte
ihm einen tödtlichen Stoß beizubringen, der andere bemühte sich, durch Schreien und Schwenken
rother Tücher die Aufmerksamkeit des Wisents oder Auers von dem Angreifer ab und auf sich zu
lenken; die Hunde halfen treulich mit, und so wurde es möglich, im rechten Augenblicke dem gewal-
tigen Stier eine tödtliche Wunde beizubringen.

Ueber den Fang der Wisents hat Dimitri Dolmatow, Aufseher der kaiserlichen Wälder
der Provinz Grodno, im Jahre 1849 in einer englischen Zeitschrift eine sehr lehrreiche Schil-
derung gegeben. Jch will das Wichtigste davon der deutschen Uebersetzung entnehmen, welche sich in
Froriep's "Notizen" findet.

Der Kaiser hatte der Königin Victoria zwei lebende Wisents für den Thiergarten in London
versprochen und gab deshalb den Befehl, daß einige der seltenen Thiere gefangen wurden. Graf
Kisselew, der über die kaiserlichen Güter gestellte Minister, überbrachte eigenhändig hierzu den Be-
fehl. Die Jagd wurde auf den 20. Juli festgesetzt. Mit Tagesanbruch versammelten sich dreihun-
dert Treiber und achtzig von den Jägern des Waldes, deren Flinten blos mit Pulver geladen
waren, und suchten zunächst die nächtliche Fährte der Wisents. Es war ein heiterer, windstiller
Tag. Die dreihundertundachtzig Menschen umstellten in aller Stille das einsame Thal, in dem sich
die Wisentherde aufhielt. Schritt für Schritt drang man mit der größten Ruhe in das umstellte
Dickicht. Als die Grenze des Thales erreicht wurde, erblickte Dolmatow und sein Begleiter die
Wisentherde auf einem Hügel gelagert. Die Kälber hüpften und sprangen, den Sand mit ihren
flinken Füßen hoch aufwerfend, munter umher, kehrten bisweilen zu ihren Müttern zurück, rieben
sich an ihnen, leckten sie und hüpften wieder ebenso munter davon. Ein Stoß ins Horn endete ur-
plötzlich dies Stillleben. Von entsetzlichem Schrecken ergriffen, sprang die Herde auf und schien
durch Gehör und Gesicht den Feind erkundschaften zu wollen. Die Kälber schmiegten sich furchtsam
an ihre Mutter. Als das Gebell der Hunde erschallte, ordnete sich die Herde eiligst in der gewohn-
ten Weise. Die Kälber wurden vorangestellt, und der ganze Trupp bildete die Nachhut, erstere vor
einem Angriff der Hunde schützend.

Als die Herde an die Treiberlinien kam, wurde sie mit gellendem Geschrei und mit blinden
Schüssen empfangen. Die alten Wisents durchbrachen wüthend die Treiberlinie und stürzten weiter,
ohne sich um die Menschen, welche sich ängstlich gegen die Bäume drückten, viel zu kümmern. Die
Jäger waren so glücklich, zwei Junge zu fangen. Ein etwa drei Monate altes Kalb wurde ohne
große Mühe gebändigt, ein anderes, etwa funfzehn Monate altes, warf acht Mann zu Boden und
entfloh, ward aber von den Hunden verfolgt und im Garten eines Försters zum zweiten Male ge-
fangen. Noch vier andere Kälber, ein Männchen und drei Weibchen, wurden erhascht. Eins der
weiblichen Jungen war erst einige Tage alt. Man brachte es sogleich zu einer Kuh, deren graue
Farbe dem Fell des Wisents entsprach. Die Kuh nahm sich des wilden, bärtigen Jungen mit vieler
Zärtlichkeit an, und das Kalb säugte zum allgemeinen Erstaunen vortrefflich, starb aber leider nach
sechs Tagen an einer Geschwulst im Nacken, welche es schon, als es gefangen wurde, besessen hatte.
Die übrigen Kälber nahmen am ersten Tage ihrer Gefangenschaft keine Nahrung zu sich. Das drei
Monate alte Junge begann am folgenden Tage an der Kuh, zu welcher man es geführt hatte, zu
säugen, und war sehr munter und lebendig. Alle anderen, mit Ausnahme des älteren, schlürften
zuerst die Milch aus der Hand eines Mannes, und tranken sie dann begierig aus einem Eimer. Nach
kurzer Frist verlor sich ihr wilder Blick; sie legten ihre Scheu ab und wurden munter und muth-
willig. Wenn man sie aus dem Stall in den geräumigen Hof gelassen hatte, freute sich Jedermann
über die Schnelligkeit ihrer Bewegungen. Sie sprangen mit der Leichtigkeit einer Ziege oder eines
Hirsches umher, spielten aus freiem Antriebe mit den Kälbern zahmer Kühe, kämpften mit ihnen
und schienen, obwohl stärker, ihnen großmüthig den Sieg zu überlassen. Der männliche funfzehn
Monate alte Wisent behielt längere Zeit seinen wilden, drohenden Blick, erzürnte sich, sobald sich

Die Rinder. — Der Wiſent.

Jn den älteſten Zeiten jagte der gemeine Mann den Wiſent zu Fuß und mit Lanzen. Die
Jäger gingen immer ſelbander aus; der eine rückte dem wüthenden Thiere kühn zu Leibe und ſuchte
ihm einen tödtlichen Stoß beizubringen, der andere bemühte ſich, durch Schreien und Schwenken
rother Tücher die Aufmerkſamkeit des Wiſents oder Auers von dem Angreifer ab und auf ſich zu
lenken; die Hunde halfen treulich mit, und ſo wurde es möglich, im rechten Augenblicke dem gewal-
tigen Stier eine tödtliche Wunde beizubringen.

Ueber den Fang der Wiſents hat Dimitri Dolmatow, Aufſeher der kaiſerlichen Wälder
der Provinz Grodno, im Jahre 1849 in einer engliſchen Zeitſchrift eine ſehr lehrreiche Schil-
derung gegeben. Jch will das Wichtigſte davon der deutſchen Ueberſetzung entnehmen, welche ſich in
Froriep’s „Notizen‟ findet.

Der Kaiſer hatte der Königin Victoria zwei lebende Wiſents für den Thiergarten in London
verſprochen und gab deshalb den Befehl, daß einige der ſeltenen Thiere gefangen wurden. Graf
Kiſſelew, der über die kaiſerlichen Güter geſtellte Miniſter, überbrachte eigenhändig hierzu den Be-
fehl. Die Jagd wurde auf den 20. Juli feſtgeſetzt. Mit Tagesanbruch verſammelten ſich dreihun-
dert Treiber und achtzig von den Jägern des Waldes, deren Flinten blos mit Pulver geladen
waren, und ſuchten zunächſt die nächtliche Fährte der Wiſents. Es war ein heiterer, windſtiller
Tag. Die dreihundertundachtzig Menſchen umſtellten in aller Stille das einſame Thal, in dem ſich
die Wiſentherde aufhielt. Schritt für Schritt drang man mit der größten Ruhe in das umſtellte
Dickicht. Als die Grenze des Thales erreicht wurde, erblickte Dolmatow und ſein Begleiter die
Wiſentherde auf einem Hügel gelagert. Die Kälber hüpften und ſprangen, den Sand mit ihren
flinken Füßen hoch aufwerfend, munter umher, kehrten bisweilen zu ihren Müttern zurück, rieben
ſich an ihnen, leckten ſie und hüpften wieder ebenſo munter davon. Ein Stoß ins Horn endete ur-
plötzlich dies Stillleben. Von entſetzlichem Schrecken ergriffen, ſprang die Herde auf und ſchien
durch Gehör und Geſicht den Feind erkundſchaften zu wollen. Die Kälber ſchmiegten ſich furchtſam
an ihre Mutter. Als das Gebell der Hunde erſchallte, ordnete ſich die Herde eiligſt in der gewohn-
ten Weiſe. Die Kälber wurden vorangeſtellt, und der ganze Trupp bildete die Nachhut, erſtere vor
einem Angriff der Hunde ſchützend.

Als die Herde an die Treiberlinien kam, wurde ſie mit gellendem Geſchrei und mit blinden
Schüſſen empfangen. Die alten Wiſents durchbrachen wüthend die Treiberlinie und ſtürzten weiter,
ohne ſich um die Menſchen, welche ſich ängſtlich gegen die Bäume drückten, viel zu kümmern. Die
Jäger waren ſo glücklich, zwei Junge zu fangen. Ein etwa drei Monate altes Kalb wurde ohne
große Mühe gebändigt, ein anderes, etwa funfzehn Monate altes, warf acht Mann zu Boden und
entfloh, ward aber von den Hunden verfolgt und im Garten eines Förſters zum zweiten Male ge-
fangen. Noch vier andere Kälber, ein Männchen und drei Weibchen, wurden erhaſcht. Eins der
weiblichen Jungen war erſt einige Tage alt. Man brachte es ſogleich zu einer Kuh, deren graue
Farbe dem Fell des Wiſents entſprach. Die Kuh nahm ſich des wilden, bärtigen Jungen mit vieler
Zärtlichkeit an, und das Kalb ſäugte zum allgemeinen Erſtaunen vortrefflich, ſtarb aber leider nach
ſechs Tagen an einer Geſchwulſt im Nacken, welche es ſchon, als es gefangen wurde, beſeſſen hatte.
Die übrigen Kälber nahmen am erſten Tage ihrer Gefangenſchaft keine Nahrung zu ſich. Das drei
Monate alte Junge begann am folgenden Tage an der Kuh, zu welcher man es geführt hatte, zu
ſäugen, und war ſehr munter und lebendig. Alle anderen, mit Ausnahme des älteren, ſchlürften
zuerſt die Milch aus der Hand eines Mannes, und tranken ſie dann begierig aus einem Eimer. Nach
kurzer Friſt verlor ſich ihr wilder Blick; ſie legten ihre Scheu ab und wurden munter und muth-
willig. Wenn man ſie aus dem Stall in den geräumigen Hof gelaſſen hatte, freute ſich Jedermann
über die Schnelligkeit ihrer Bewegungen. Sie ſprangen mit der Leichtigkeit einer Ziege oder eines
Hirſches umher, ſpielten aus freiem Antriebe mit den Kälbern zahmer Kühe, kämpften mit ihnen
und ſchienen, obwohl ſtärker, ihnen großmüthig den Sieg zu überlaſſen. Der männliche funfzehn
Monate alte Wiſent behielt längere Zeit ſeinen wilden, drohenden Blick, erzürnte ſich, ſobald ſich

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[644/0678] Die Rinder. — Der Wiſent. Jn den älteſten Zeiten jagte der gemeine Mann den Wiſent zu Fuß und mit Lanzen. Die Jäger gingen immer ſelbander aus; der eine rückte dem wüthenden Thiere kühn zu Leibe und ſuchte ihm einen tödtlichen Stoß beizubringen, der andere bemühte ſich, durch Schreien und Schwenken rother Tücher die Aufmerkſamkeit des Wiſents oder Auers von dem Angreifer ab und auf ſich zu lenken; die Hunde halfen treulich mit, und ſo wurde es möglich, im rechten Augenblicke dem gewal- tigen Stier eine tödtliche Wunde beizubringen. Ueber den Fang der Wiſents hat Dimitri Dolmatow, Aufſeher der kaiſerlichen Wälder der Provinz Grodno, im Jahre 1849 in einer engliſchen Zeitſchrift eine ſehr lehrreiche Schil- derung gegeben. Jch will das Wichtigſte davon der deutſchen Ueberſetzung entnehmen, welche ſich in Froriep’s „Notizen‟ findet. Der Kaiſer hatte der Königin Victoria zwei lebende Wiſents für den Thiergarten in London verſprochen und gab deshalb den Befehl, daß einige der ſeltenen Thiere gefangen wurden. Graf Kiſſelew, der über die kaiſerlichen Güter geſtellte Miniſter, überbrachte eigenhändig hierzu den Be- fehl. Die Jagd wurde auf den 20. Juli feſtgeſetzt. Mit Tagesanbruch verſammelten ſich dreihun- dert Treiber und achtzig von den Jägern des Waldes, deren Flinten blos mit Pulver geladen waren, und ſuchten zunächſt die nächtliche Fährte der Wiſents. Es war ein heiterer, windſtiller Tag. Die dreihundertundachtzig Menſchen umſtellten in aller Stille das einſame Thal, in dem ſich die Wiſentherde aufhielt. Schritt für Schritt drang man mit der größten Ruhe in das umſtellte Dickicht. Als die Grenze des Thales erreicht wurde, erblickte Dolmatow und ſein Begleiter die Wiſentherde auf einem Hügel gelagert. Die Kälber hüpften und ſprangen, den Sand mit ihren flinken Füßen hoch aufwerfend, munter umher, kehrten bisweilen zu ihren Müttern zurück, rieben ſich an ihnen, leckten ſie und hüpften wieder ebenſo munter davon. Ein Stoß ins Horn endete ur- plötzlich dies Stillleben. Von entſetzlichem Schrecken ergriffen, ſprang die Herde auf und ſchien durch Gehör und Geſicht den Feind erkundſchaften zu wollen. Die Kälber ſchmiegten ſich furchtſam an ihre Mutter. Als das Gebell der Hunde erſchallte, ordnete ſich die Herde eiligſt in der gewohn- ten Weiſe. Die Kälber wurden vorangeſtellt, und der ganze Trupp bildete die Nachhut, erſtere vor einem Angriff der Hunde ſchützend. Als die Herde an die Treiberlinien kam, wurde ſie mit gellendem Geſchrei und mit blinden Schüſſen empfangen. Die alten Wiſents durchbrachen wüthend die Treiberlinie und ſtürzten weiter, ohne ſich um die Menſchen, welche ſich ängſtlich gegen die Bäume drückten, viel zu kümmern. Die Jäger waren ſo glücklich, zwei Junge zu fangen. Ein etwa drei Monate altes Kalb wurde ohne große Mühe gebändigt, ein anderes, etwa funfzehn Monate altes, warf acht Mann zu Boden und entfloh, ward aber von den Hunden verfolgt und im Garten eines Förſters zum zweiten Male ge- fangen. Noch vier andere Kälber, ein Männchen und drei Weibchen, wurden erhaſcht. Eins der weiblichen Jungen war erſt einige Tage alt. Man brachte es ſogleich zu einer Kuh, deren graue Farbe dem Fell des Wiſents entſprach. Die Kuh nahm ſich des wilden, bärtigen Jungen mit vieler Zärtlichkeit an, und das Kalb ſäugte zum allgemeinen Erſtaunen vortrefflich, ſtarb aber leider nach ſechs Tagen an einer Geſchwulſt im Nacken, welche es ſchon, als es gefangen wurde, beſeſſen hatte. Die übrigen Kälber nahmen am erſten Tage ihrer Gefangenſchaft keine Nahrung zu ſich. Das drei Monate alte Junge begann am folgenden Tage an der Kuh, zu welcher man es geführt hatte, zu ſäugen, und war ſehr munter und lebendig. Alle anderen, mit Ausnahme des älteren, ſchlürften zuerſt die Milch aus der Hand eines Mannes, und tranken ſie dann begierig aus einem Eimer. Nach kurzer Friſt verlor ſich ihr wilder Blick; ſie legten ihre Scheu ab und wurden munter und muth- willig. Wenn man ſie aus dem Stall in den geräumigen Hof gelaſſen hatte, freute ſich Jedermann über die Schnelligkeit ihrer Bewegungen. Sie ſprangen mit der Leichtigkeit einer Ziege oder eines Hirſches umher, ſpielten aus freiem Antriebe mit den Kälbern zahmer Kühe, kämpften mit ihnen und ſchienen, obwohl ſtärker, ihnen großmüthig den Sieg zu überlaſſen. Der männliche funfzehn Monate alte Wiſent behielt längere Zeit ſeinen wilden, drohenden Blick, erzürnte ſich, ſobald ſich

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 644. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/678>, abgerufen am 23.11.2024.