auch für den geübtesten Jäger ein höchst gefährliches Unterfangen, dem rasenden Thiere in den Weg zu kommen.
Die Brunstzeit fällt gewöhnlich in den Angust, manchmal auch erst in den September, und währt zwei oder drei Wochen. Die Wisents sind um diese Zeit im besten Stande, feist und kräftig. Eigenthümliche Spiele und ernste Kämpfe unter den Stieren gehen dem Sprunge voraus. Die liebeskranken Thiere machen sich ein besonderes Vergnügen daraus, mittelstarke Bäume aus der Erde zu wühlen und auf diese Weise zu fällen. Da kommt es nun oft vor, daß sich die Wurzeln in dem Gehörn verwickeln und von den Trägern nicht gleich abgeworfen werden können. Dann laufen sie, lärmend und tobend, oft lange mit diesem sonderbaren Kampfschmuck umher, ärgern sich schließ- lich und beginnen zu kämpfen, erst vielleicht nur scherzhaft, später aber in sehr ernsthafter Weise. Rasend stürzen sie auf einander los und prallen derart mit den Hörnern zusammen, daß man glaubt, beide müßten unter der Wucht des Stoßes augenblicklich zusammenbrechen. Allein ihre Stirn hält auch den kräftigsten Stoß aus, und die Hörner sind so biegsam, als wären sie aus Stahl gebaut. Nach und nach schließen sich die Einsiedler der Herde an, und dann werden die Zwei- kämpfe noch viel bedeutsamer; denn jenen Dickköpfen muß ein jüngerer, schwächerer Stier gar oft erliegen. Jm Jahr 1827 fand man im Bialowiczaer Walde einen jungen dreijährigen todten Stier, welchem ein Bein zerschmettert und ein Horn an der Wurzel abgesprengt worden war. Und nicht blos umgebrachte Stiere findet man nach der Brunstzeit, sondern auch getödtete Kühe. Sie haben das Kreuz gebrochen, "weil ihnen die Last des auf sie springenden Stieres zu schwer war (?)".
Sofort nach Beendigung der Brunst trennen sich die alten Einsiedler wieder von der Herde und kehren zu ihrem stillen, beschaulichen Leben zurück. Die Kühe kalben neun Monate nach der Brunstzeit, gewöhnlich im Mai oder Anfangs Juni. Vorher haben sie sich von der Herde abgeson- dert und im Dickicht des Waldes in einer einsamen, friedlichen Gegend einen geeigneten Platz auf- gesucht. Hier verbergen sie das Kalb während der ersten Tage und treten bei etwaiger Gefahr mit außerordentlichem Muthe für seine Sicherheit ein. Jn der ersten Jugend drückt sich das Kalb bei Gefahr platt auf den Boden nieder, hebt und dreht das Gehör, öffnet die Nüstern und Augen und schaut ängstlich nach dem Feinde, während die Alte sich anschickt, diesem entgegenzutreten. Um diese Zeit ist es für Mensch und Thier gefährlich, einer Wisentkuh sich zu nahen; sie nimmt ohne wei- teres den Gegner an, rennt ihn zu Boden und zerfleischt ihn mit den Hörnern. Einige Tage nach seiner Geburt folgt das Kalb der Mutter auf jedem Schritte nach, und diese behandelt es mit außer- ordentlicher Zärtlichkeit. Solange es noch nicht ordentlich gehen kann, schiebt sie es sanft mit dem Kopfe vorwärts; wenn es unreinlich ist, leckt sie es glatt; beim Säugen stellt sie sich auf drei Beine, um ihrem Sprößling das Enter leichter zu bieten, und während es schläft, wacht sie für dessen Sicherheit.
Diese Kälber sind niedliche, anmuthige Thiere, obgleich schon in der Jugend Das in ihnen liegt, was im Alter aus ihnen werden soll. Sie wachsen sehr langsam und haben wahrscheinlich erst im achten oder neunten Jahre ihre volle Größe erlangt. Das Alter, welches sie überhaupt erreichen können, wird auf etwa 30 bis 50 Jahre angegeben. Kühe sterben ungefähr zehn Jahre früher, als Stiere; aber auch diese werden im Alter gewöhnlich blind, oder sie verlieren die Zähne und sind dann nicht mehr fähig, sich gehörig zu äßen, können namentlich nicht mehr die jungen Zweige ab- beißen, welken rasch dahin und gehen schließlich zu Grunde.
Anderen Rindern gegenüber vermehren sich die Wisents außerordentlich langsam. Man hat in Erfahrung gebracht, daß die Kühe kaum alle drei Jahre ein Mal trächtig werden, und bei nur einigermaßen gereifterem Alter oft eine Reihe von Jahren hinter einander unfruchtbar bleiben, dann aber wieder empfangen. Jm Jahre 1829 warfen von 258 Kühen nur 93, von den übrigen 165 war der größte Theil unfruchtbar, der kleinere Theil zu jung. Hierin ist ein Grund des Aussterbens der Wisents mit zu suchen.
Die Rinder. — Der Wiſent.
auch für den geübteſten Jäger ein höchſt gefährliches Unterfangen, dem raſenden Thiere in den Weg zu kommen.
Die Brunſtzeit fällt gewöhnlich in den Anguſt, manchmal auch erſt in den September, und währt zwei oder drei Wochen. Die Wiſents ſind um dieſe Zeit im beſten Stande, feiſt und kräftig. Eigenthümliche Spiele und ernſte Kämpfe unter den Stieren gehen dem Sprunge voraus. Die liebeskranken Thiere machen ſich ein beſonderes Vergnügen daraus, mittelſtarke Bäume aus der Erde zu wühlen und auf dieſe Weiſe zu fällen. Da kommt es nun oft vor, daß ſich die Wurzeln in dem Gehörn verwickeln und von den Trägern nicht gleich abgeworfen werden können. Dann laufen ſie, lärmend und tobend, oft lange mit dieſem ſonderbaren Kampfſchmuck umher, ärgern ſich ſchließ- lich und beginnen zu kämpfen, erſt vielleicht nur ſcherzhaft, ſpäter aber in ſehr ernſthafter Weiſe. Raſend ſtürzen ſie auf einander los und prallen derart mit den Hörnern zuſammen, daß man glaubt, beide müßten unter der Wucht des Stoßes augenblicklich zuſammenbrechen. Allein ihre Stirn hält auch den kräftigſten Stoß aus, und die Hörner ſind ſo biegſam, als wären ſie aus Stahl gebaut. Nach und nach ſchließen ſich die Einſiedler der Herde an, und dann werden die Zwei- kämpfe noch viel bedeutſamer; denn jenen Dickköpfen muß ein jüngerer, ſchwächerer Stier gar oft erliegen. Jm Jahr 1827 fand man im Bialowiczaer Walde einen jungen dreijährigen todten Stier, welchem ein Bein zerſchmettert und ein Horn an der Wurzel abgeſprengt worden war. Und nicht blos umgebrachte Stiere findet man nach der Brunſtzeit, ſondern auch getödtete Kühe. Sie haben das Kreuz gebrochen, „weil ihnen die Laſt des auf ſie ſpringenden Stieres zu ſchwer war (?)‟.
Sofort nach Beendigung der Brunſt trennen ſich die alten Einſiedler wieder von der Herde und kehren zu ihrem ſtillen, beſchaulichen Leben zurück. Die Kühe kalben neun Monate nach der Brunſtzeit, gewöhnlich im Mai oder Anfangs Juni. Vorher haben ſie ſich von der Herde abgeſon- dert und im Dickicht des Waldes in einer einſamen, friedlichen Gegend einen geeigneten Platz auf- geſucht. Hier verbergen ſie das Kalb während der erſten Tage und treten bei etwaiger Gefahr mit außerordentlichem Muthe für ſeine Sicherheit ein. Jn der erſten Jugend drückt ſich das Kalb bei Gefahr platt auf den Boden nieder, hebt und dreht das Gehör, öffnet die Nüſtern und Augen und ſchaut ängſtlich nach dem Feinde, während die Alte ſich anſchickt, dieſem entgegenzutreten. Um dieſe Zeit iſt es für Menſch und Thier gefährlich, einer Wiſentkuh ſich zu nahen; ſie nimmt ohne wei- teres den Gegner an, rennt ihn zu Boden und zerfleiſcht ihn mit den Hörnern. Einige Tage nach ſeiner Geburt folgt das Kalb der Mutter auf jedem Schritte nach, und dieſe behandelt es mit außer- ordentlicher Zärtlichkeit. Solange es noch nicht ordentlich gehen kann, ſchiebt ſie es ſanft mit dem Kopfe vorwärts; wenn es unreinlich iſt, leckt ſie es glatt; beim Säugen ſtellt ſie ſich auf drei Beine, um ihrem Sprößling das Enter leichter zu bieten, und während es ſchläft, wacht ſie für deſſen Sicherheit.
Dieſe Kälber ſind niedliche, anmuthige Thiere, obgleich ſchon in der Jugend Das in ihnen liegt, was im Alter aus ihnen werden ſoll. Sie wachſen ſehr langſam und haben wahrſcheinlich erſt im achten oder neunten Jahre ihre volle Größe erlangt. Das Alter, welches ſie überhaupt erreichen können, wird auf etwa 30 bis 50 Jahre angegeben. Kühe ſterben ungefähr zehn Jahre früher, als Stiere; aber auch dieſe werden im Alter gewöhnlich blind, oder ſie verlieren die Zähne und ſind dann nicht mehr fähig, ſich gehörig zu äßen, können namentlich nicht mehr die jungen Zweige ab- beißen, welken raſch dahin und gehen ſchließlich zu Grunde.
Anderen Rindern gegenüber vermehren ſich die Wiſents außerordentlich langſam. Man hat in Erfahrung gebracht, daß die Kühe kaum alle drei Jahre ein Mal trächtig werden, und bei nur einigermaßen gereifterem Alter oft eine Reihe von Jahren hinter einander unfruchtbar bleiben, dann aber wieder empfangen. Jm Jahre 1829 warfen von 258 Kühen nur 93, von den übrigen 165 war der größte Theil unfruchtbar, der kleinere Theil zu jung. Hierin iſt ein Grund des Ausſterbens der Wiſents mit zu ſuchen.
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[642/0676]
Die Rinder. — Der Wiſent.
auch für den geübteſten Jäger ein höchſt gefährliches Unterfangen, dem raſenden Thiere in den Weg
zu kommen.
Die Brunſtzeit fällt gewöhnlich in den Anguſt, manchmal auch erſt in den September, und
währt zwei oder drei Wochen. Die Wiſents ſind um dieſe Zeit im beſten Stande, feiſt und kräftig.
Eigenthümliche Spiele und ernſte Kämpfe unter den Stieren gehen dem Sprunge voraus. Die
liebeskranken Thiere machen ſich ein beſonderes Vergnügen daraus, mittelſtarke Bäume aus der Erde
zu wühlen und auf dieſe Weiſe zu fällen. Da kommt es nun oft vor, daß ſich die Wurzeln in
dem Gehörn verwickeln und von den Trägern nicht gleich abgeworfen werden können. Dann laufen
ſie, lärmend und tobend, oft lange mit dieſem ſonderbaren Kampfſchmuck umher, ärgern ſich ſchließ-
lich und beginnen zu kämpfen, erſt vielleicht nur ſcherzhaft, ſpäter aber in ſehr ernſthafter Weiſe.
Raſend ſtürzen ſie auf einander los und prallen derart mit den Hörnern zuſammen, daß man
glaubt, beide müßten unter der Wucht des Stoßes augenblicklich zuſammenbrechen. Allein ihre
Stirn hält auch den kräftigſten Stoß aus, und die Hörner ſind ſo biegſam, als wären ſie aus
Stahl gebaut. Nach und nach ſchließen ſich die Einſiedler der Herde an, und dann werden die Zwei-
kämpfe noch viel bedeutſamer; denn jenen Dickköpfen muß ein jüngerer, ſchwächerer Stier gar oft
erliegen. Jm Jahr 1827 fand man im Bialowiczaer Walde einen jungen dreijährigen todten Stier,
welchem ein Bein zerſchmettert und ein Horn an der Wurzel abgeſprengt worden war. Und nicht
blos umgebrachte Stiere findet man nach der Brunſtzeit, ſondern auch getödtete Kühe. Sie haben
das Kreuz gebrochen, „weil ihnen die Laſt des auf ſie ſpringenden Stieres zu ſchwer war (?)‟.
Sofort nach Beendigung der Brunſt trennen ſich die alten Einſiedler wieder von der Herde und
kehren zu ihrem ſtillen, beſchaulichen Leben zurück. Die Kühe kalben neun Monate nach der
Brunſtzeit, gewöhnlich im Mai oder Anfangs Juni. Vorher haben ſie ſich von der Herde abgeſon-
dert und im Dickicht des Waldes in einer einſamen, friedlichen Gegend einen geeigneten Platz auf-
geſucht. Hier verbergen ſie das Kalb während der erſten Tage und treten bei etwaiger Gefahr mit
außerordentlichem Muthe für ſeine Sicherheit ein. Jn der erſten Jugend drückt ſich das Kalb bei
Gefahr platt auf den Boden nieder, hebt und dreht das Gehör, öffnet die Nüſtern und Augen und
ſchaut ängſtlich nach dem Feinde, während die Alte ſich anſchickt, dieſem entgegenzutreten. Um dieſe
Zeit iſt es für Menſch und Thier gefährlich, einer Wiſentkuh ſich zu nahen; ſie nimmt ohne wei-
teres den Gegner an, rennt ihn zu Boden und zerfleiſcht ihn mit den Hörnern. Einige Tage nach
ſeiner Geburt folgt das Kalb der Mutter auf jedem Schritte nach, und dieſe behandelt es mit außer-
ordentlicher Zärtlichkeit. Solange es noch nicht ordentlich gehen kann, ſchiebt ſie es ſanft mit dem
Kopfe vorwärts; wenn es unreinlich iſt, leckt ſie es glatt; beim Säugen ſtellt ſie ſich auf drei
Beine, um ihrem Sprößling das Enter leichter zu bieten, und während es ſchläft, wacht ſie für
deſſen Sicherheit.
Dieſe Kälber ſind niedliche, anmuthige Thiere, obgleich ſchon in der Jugend Das in ihnen liegt,
was im Alter aus ihnen werden ſoll. Sie wachſen ſehr langſam und haben wahrſcheinlich erſt im
achten oder neunten Jahre ihre volle Größe erlangt. Das Alter, welches ſie überhaupt erreichen
können, wird auf etwa 30 bis 50 Jahre angegeben. Kühe ſterben ungefähr zehn Jahre früher, als
Stiere; aber auch dieſe werden im Alter gewöhnlich blind, oder ſie verlieren die Zähne und ſind
dann nicht mehr fähig, ſich gehörig zu äßen, können namentlich nicht mehr die jungen Zweige ab-
beißen, welken raſch dahin und gehen ſchließlich zu Grunde.
Anderen Rindern gegenüber vermehren ſich die Wiſents außerordentlich langſam. Man hat in
Erfahrung gebracht, daß die Kühe kaum alle drei Jahre ein Mal trächtig werden, und bei nur
einigermaßen gereifterem Alter oft eine Reihe von Jahren hinter einander unfruchtbar bleiben, dann
aber wieder empfangen. Jm Jahre 1829 warfen von 258 Kühen nur 93, von den übrigen 165
war der größte Theil unfruchtbar, der kleinere Theil zu jung. Hierin iſt ein Grund des Ausſterbens
der Wiſents mit zu ſuchen.
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 642. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/676>, abgerufen am 23.11.2024.
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