beamten es schützten und zur Winterszeit in einer offenen Futterscheuer mit Nahrung versorgten. Nur höchst selten fing man einige ein, welche dann gewöhnlich zu Geschenken an fremde Höfe benutzt wur- den. So kamen im Jahre 1717 zwei Stück an den Landgrafen von Hessen-Kassel, an den König Georg von England, und 1738 einige zur Kaiserin Katharine von Rußland. Eine allgemeine Seuche vernichtete im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts den größten Theil dieser Herden, bis endlich der erwähnte Wilddieb dem letzten das Lebenslicht ausblies. Jedenfalls würde es den im Forste von Bialowicza lebenden Wisents nicht anders ergangen sein, als den in Preußen hausenden, hätten der König von Polen und später der Kaiser von Rußland es sich nicht zur Pflicht gemacht, ein so seltenes Thier der Jetztwelt zu erhalten. Derzeit ist der Bestand dieses Wildes im Bialowiczaer Walde immer noch gar nicht unbedeutend. Nach einer im Jahre 1829 vorgenommenen Zählung betrug er 711 Stück, worunter sich 633 ältere befanden; denn nur 48 Kälber waren zur Welt gekommen; im fol- genden Jahre hatten sich die Thiere auf 772 Stück vermehrt, im Jahre 1831 aber wieder auf 657 Stück vermindert in Folge der inzwischen eingetretenen staatlichen Umwälzung. Nach dieser Zeit sind die Schutzgesetze verschärft worden, und die Thiere haben sich demzufolge vermehrt. Pastor Kawall gibt für das Jahr 1853 die Zahl der Bialowiczaer Wisents auf 1543 Stück an.
Am Kaukasus ist der Wisent, wenn auch nur in manchen Gegenden, nicht besonders selten, und noch vor hundert Jahren kam er fast überall vor; gegenwärtig findet er sich in Zaadan noch am häufigsten. Jn Mittelasien soll er noch um den See Koko-Nor heimisch sein.
Bevor ich zur Leibes- und Lebensbeschreibung des gedachten Wildochsen übergehe, muß ich bemerken, daß ich unter dem Namen Wisent dasselbe Thier verstehe, welches von den meisten neueren Schriftstellern und auch von Naturforschern Auer oder Auerochs genannt wird. Dem jetzt noch lebenden Wildochsen des Waldes von Bialowies gebührt einzig und allein der Name Wisent; denn mit dem Namen Auer bezeichneten unsere Vorfahren einen von jenem durchaus verschiedenen Wildochsen.*)
Wenn man die Schriften der alten Naturkundigen mit Aufmerksamkeit durchliest, gelangt man sehr bald zu der Ansicht, daß in früheren Zeiten zwei Rinderarten in Europa neben einander in wil- dem Zustand gelebt haben. Alle älteren Schriftsteller unterscheiden die beiden Thiere sehr genau und verwechseln die ihnen zukommenden Namen nie. Seneca, Plinius, Albertus Magnus, Tho- mas Cantapratensis, Johann von Marignola, Bartholomäus Anglicus, Paul Zidek, von Herberstain und Geßner, altdeutsche Gesetze und Jagdberichte aus vergangenen Jahrhunderten sprechen von zwei gleichzeitig lebenden Wildochsen und beschreiben die beiden mit hin- länglicher Genauigkeit. Da wir den Wisent noch zur Vergleichung vor uns haben und an ihm sehen können, daß die ihm geltende Beschreibung naturgetreu ist, dürfen wir dasselbe wohl auch von dem uns höchstens durch versteinerte Schädel bekannten Anerochsen erwarten. Plinius kennt den Bonassus oder Wisent, weil derselbe lebend nach Rom gebracht wurde, um in den Thierkampfspielen zu glänzen, und unterscheidet ihn bestimmt von dem Urus oder Auer, indem er hervorhebt, daß den Ersteren seine reiche Mähne, den Letzteren sein großes Gehörn kennzeichnet. Cäsar erwähnt einen in Deutschland vorkommenden Wildochsen, welcher dem zahmen nicht unähnlich sei, aber viel größere Hörner als dieser besitze und an Größe dem Elefanten wenig nachstehe. "Seine Jagd," sagt er, "gilt unter den Deutschen als die rühmlichste." Er meint den Auer, nicht den Wisent. Mit noch größerer Bestimmtheit sprechen sich die späteren Schriftsteller aus. Lukas David gibt an, daß der Herzog Otto von Braunschweig im Jahre 1240 "den Brüdern" Aueroxen und Visonten schenkte, Cramer, daß Fürst Wradislaw um das Jahr 1364 in Hinterpommern ein Wysant erlegte, "welcher größer geachtet worden, als ein Uhrochs", Mathias v. Michow, daß es in den
*) Durch ein Versehen des Druckers sind leider auch die auf unserer Abbildung dargestellten Wisents als "Auerochsen" bezeichnet worden.
Der Wiſent.
beamten es ſchützten und zur Winterszeit in einer offenen Futterſcheuer mit Nahrung verſorgten. Nur höchſt ſelten fing man einige ein, welche dann gewöhnlich zu Geſchenken an fremde Höfe benutzt wur- den. So kamen im Jahre 1717 zwei Stück an den Landgrafen von Heſſen-Kaſſel, an den König Georg von England, und 1738 einige zur Kaiſerin Katharine von Rußland. Eine allgemeine Seuche vernichtete im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts den größten Theil dieſer Herden, bis endlich der erwähnte Wilddieb dem letzten das Lebenslicht ausblies. Jedenfalls würde es den im Forſte von Bialowicza lebenden Wiſents nicht anders ergangen ſein, als den in Preußen hauſenden, hätten der König von Polen und ſpäter der Kaiſer von Rußland es ſich nicht zur Pflicht gemacht, ein ſo ſeltenes Thier der Jetztwelt zu erhalten. Derzeit iſt der Beſtand dieſes Wildes im Bialowiczaer Walde immer noch gar nicht unbedeutend. Nach einer im Jahre 1829 vorgenommenen Zählung betrug er 711 Stück, worunter ſich 633 ältere befanden; denn nur 48 Kälber waren zur Welt gekommen; im fol- genden Jahre hatten ſich die Thiere auf 772 Stück vermehrt, im Jahre 1831 aber wieder auf 657 Stück vermindert in Folge der inzwiſchen eingetretenen ſtaatlichen Umwälzung. Nach dieſer Zeit ſind die Schutzgeſetze verſchärft worden, und die Thiere haben ſich demzufolge vermehrt. Paſtor Kawall gibt für das Jahr 1853 die Zahl der Bialowiczaer Wiſents auf 1543 Stück an.
Am Kaukaſus iſt der Wiſent, wenn auch nur in manchen Gegenden, nicht beſonders ſelten, und noch vor hundert Jahren kam er faſt überall vor; gegenwärtig findet er ſich in Zaadan noch am häufigſten. Jn Mittelaſien ſoll er noch um den See Koko-Nor heimiſch ſein.
Bevor ich zur Leibes- und Lebensbeſchreibung des gedachten Wildochſen übergehe, muß ich bemerken, daß ich unter dem Namen Wiſent daſſelbe Thier verſtehe, welches von den meiſten neueren Schriftſtellern und auch von Naturforſchern Auer oder Auerochs genannt wird. Dem jetzt noch lebenden Wildochſen des Waldes von Bialowies gebührt einzig und allein der Name Wiſent; denn mit dem Namen Auer bezeichneten unſere Vorfahren einen von jenem durchaus verſchiedenen Wildochſen.*)
Wenn man die Schriften der alten Naturkundigen mit Aufmerkſamkeit durchlieſt, gelangt man ſehr bald zu der Anſicht, daß in früheren Zeiten zwei Rinderarten in Europa neben einander in wil- dem Zuſtand gelebt haben. Alle älteren Schriftſteller unterſcheiden die beiden Thiere ſehr genau und verwechſeln die ihnen zukommenden Namen nie. Seneca, Plinius, Albertus Magnus, Tho- mas Cantapratenſis, Johann von Marignola, Bartholomäus Anglicus, Paul Zidek, von Herberſtain und Geßner, altdeutſche Geſetze und Jagdberichte aus vergangenen Jahrhunderten ſprechen von zwei gleichzeitig lebenden Wildochſen und beſchreiben die beiden mit hin- länglicher Genauigkeit. Da wir den Wiſent noch zur Vergleichung vor uns haben und an ihm ſehen können, daß die ihm geltende Beſchreibung naturgetreu iſt, dürfen wir daſſelbe wohl auch von dem uns höchſtens durch verſteinerte Schädel bekannten Anerochſen erwarten. Plinius kennt den Bonassus oder Wiſent, weil derſelbe lebend nach Rom gebracht wurde, um in den Thierkampfſpielen zu glänzen, und unterſcheidet ihn beſtimmt von dem Urus oder Auer, indem er hervorhebt, daß den Erſteren ſeine reiche Mähne, den Letzteren ſein großes Gehörn kennzeichnet. Cäſar erwähnt einen in Deutſchland vorkommenden Wildochſen, welcher dem zahmen nicht unähnlich ſei, aber viel größere Hörner als dieſer beſitze und an Größe dem Elefanten wenig nachſtehe. „Seine Jagd,‟ ſagt er, „gilt unter den Deutſchen als die rühmlichſte.‟ Er meint den Auer, nicht den Wiſent. Mit noch größerer Beſtimmtheit ſprechen ſich die ſpäteren Schriftſteller aus. Lukas David gibt an, daß der Herzog Otto von Braunſchweig im Jahre 1240 „den Brüdern‟ Aueroxen und Viſonten ſchenkte, Cramer, daß Fürſt Wradislaw um das Jahr 1364 in Hinterpommern ein Wyſant erlegte, „welcher größer geachtet worden, als ein Uhrochs‟, Mathias v. Michow, daß es in den
*) Durch ein Verſehen des Druckers ſind leider auch die auf unſerer Abbildung dargeſtellten Wiſents als „Auerochſen‟ bezeichnet worden.
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Der Wiſent.
beamten es ſchützten und zur Winterszeit in einer offenen Futterſcheuer mit Nahrung verſorgten. Nur
höchſt ſelten fing man einige ein, welche dann gewöhnlich zu Geſchenken an fremde Höfe benutzt wur-
den. So kamen im Jahre 1717 zwei Stück an den Landgrafen von Heſſen-Kaſſel, an den König
Georg von England, und 1738 einige zur Kaiſerin Katharine von Rußland. Eine allgemeine Seuche
vernichtete im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts den größten Theil dieſer Herden, bis endlich der
erwähnte Wilddieb dem letzten das Lebenslicht ausblies. Jedenfalls würde es den im Forſte von
Bialowicza lebenden Wiſents nicht anders ergangen ſein, als den in Preußen hauſenden, hätten der
König von Polen und ſpäter der Kaiſer von Rußland es ſich nicht zur Pflicht gemacht, ein ſo ſeltenes
Thier der Jetztwelt zu erhalten. Derzeit iſt der Beſtand dieſes Wildes im Bialowiczaer Walde immer
noch gar nicht unbedeutend. Nach einer im Jahre 1829 vorgenommenen Zählung betrug er 711
Stück, worunter ſich 633 ältere befanden; denn nur 48 Kälber waren zur Welt gekommen; im fol-
genden Jahre hatten ſich die Thiere auf 772 Stück vermehrt, im Jahre 1831 aber wieder auf 657
Stück vermindert in Folge der inzwiſchen eingetretenen ſtaatlichen Umwälzung. Nach dieſer Zeit ſind
die Schutzgeſetze verſchärft worden, und die Thiere haben ſich demzufolge vermehrt. Paſtor Kawall
gibt für das Jahr 1853 die Zahl der Bialowiczaer Wiſents auf 1543 Stück an.
Am Kaukaſus iſt der Wiſent, wenn auch nur in manchen Gegenden, nicht beſonders ſelten, und
noch vor hundert Jahren kam er faſt überall vor; gegenwärtig findet er ſich in Zaadan noch am
häufigſten. Jn Mittelaſien ſoll er noch um den See Koko-Nor heimiſch ſein.
Bevor ich zur Leibes- und Lebensbeſchreibung des gedachten Wildochſen übergehe, muß ich
bemerken, daß ich unter dem Namen Wiſent daſſelbe Thier verſtehe, welches von den meiſten neueren
Schriftſtellern und auch von Naturforſchern Auer oder Auerochs genannt wird. Dem jetzt noch
lebenden Wildochſen des Waldes von Bialowies gebührt einzig und allein der Name Wiſent; denn
mit dem Namen Auer bezeichneten unſere Vorfahren einen von jenem durchaus verſchiedenen
Wildochſen. *)
Wenn man die Schriften der alten Naturkundigen mit Aufmerkſamkeit durchlieſt, gelangt man
ſehr bald zu der Anſicht, daß in früheren Zeiten zwei Rinderarten in Europa neben einander in wil-
dem Zuſtand gelebt haben. Alle älteren Schriftſteller unterſcheiden die beiden Thiere ſehr genau und
verwechſeln die ihnen zukommenden Namen nie. Seneca, Plinius, Albertus Magnus, Tho-
mas Cantapratenſis, Johann von Marignola, Bartholomäus Anglicus, Paul
Zidek, von Herberſtain und Geßner, altdeutſche Geſetze und Jagdberichte aus vergangenen
Jahrhunderten ſprechen von zwei gleichzeitig lebenden Wildochſen und beſchreiben die beiden mit hin-
länglicher Genauigkeit. Da wir den Wiſent noch zur Vergleichung vor uns haben und an ihm ſehen
können, daß die ihm geltende Beſchreibung naturgetreu iſt, dürfen wir daſſelbe wohl auch von dem
uns höchſtens durch verſteinerte Schädel bekannten Anerochſen erwarten. Plinius kennt den
Bonassus oder Wiſent, weil derſelbe lebend nach Rom gebracht wurde, um in den Thierkampfſpielen
zu glänzen, und unterſcheidet ihn beſtimmt von dem Urus oder Auer, indem er hervorhebt, daß den
Erſteren ſeine reiche Mähne, den Letzteren ſein großes Gehörn kennzeichnet. Cäſar erwähnt einen
in Deutſchland vorkommenden Wildochſen, welcher dem zahmen nicht unähnlich ſei, aber viel größere
Hörner als dieſer beſitze und an Größe dem Elefanten wenig nachſtehe. „Seine Jagd,‟ ſagt er, „gilt
unter den Deutſchen als die rühmlichſte.‟ Er meint den Auer, nicht den Wiſent. Mit noch größerer
Beſtimmtheit ſprechen ſich die ſpäteren Schriftſteller aus. Lukas David gibt an, daß der Herzog
Otto von Braunſchweig im Jahre 1240 „den Brüdern‟ Aueroxen und Viſonten ſchenkte,
Cramer, daß Fürſt Wradislaw um das Jahr 1364 in Hinterpommern ein Wyſant erlegte,
„welcher größer geachtet worden, als ein Uhrochs‟, Mathias v. Michow, daß es in den
*) Durch ein Verſehen des Druckers ſind leider auch die auf unſerer Abbildung dargeſtellten Wiſents als
„Auerochſen‟ bezeichnet worden.
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 637. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/671>, abgerufen am 01.07.2024.
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