"Glauben Sie mir, Sennor," sagte mir ein gesprächiger Andalusier auf der Sierra Nevada, "wenn ich sonst wollte, über meine beiden Leitziegen könnte ich mich todt ärgern! Sie thun sicher- lich niemals Das, was ich will, sondern regelmäßig das gerade Gegentheil: -- und ich muß sie ge- währen lassen! Sie dürfen überzeugt sein, daß ich heute nicht hier weiden wollte, wo Sie mich gefunden haben: aber meine Ziegen wollten hier weiden, und ich mußte folgen. Nicht einmal mein Hund kann mit ihnen fertig werden. Wollte ich sie hetzen: sie führten mir meine ganze Herde in das Verderben. Da sehen Sie selbst!" Bei diesen Worten zeigte der gute Mann auf die beiden bösen Lockbuben der frommen, dummen Schafe, welche soeben eine der gefährlichsten Felsenklippen erstiegen hatten und der Herde freundlich zumeckerten, ihnen nach diesem Punkte, welcher sicherlich eine schöne Aussicht versprach, zu folgen. Der Hund wurde abgesandt, um die Störrischen herab zu holen; doch Dies war keine so leichte Aufgabe. Zuerst zogen sich die beiden Böcke auf die höchste Spitze des Grates zurück, und Chizo, welcher ihnen folgen sollte, gab sich vergebliche Mühe, da hinauf ihnen nach zu klettern. Der arme, treue Diener des entrüsteten Hirten rutschte beständig von den glatten Felsen herab; sein Eifer wurde dadurch aber nur angespornt, und weiter und weiter klet- terte er empor. Niesend begrüßten ihn die Ziegen, bellend antwortete der Hund, dessen Zorn sich mehr und mehr steigerte. Endlich glaubte er die Frevler erreicht zu haben: aber nein! -- sie machten einen ebenso zierlichen, als geschickten Sprung über ihn weg und standen zwei Minuten später auf einem anderen Felszacken, dort das alte Spiel von neuem beginnend. Die Schafherde hatte sich mittlerweile so vollständig in die Felsen eingewirrt und lief mit einer so beispiellosen Todesverachtung auf den schmalen Stegen dahin, daß dem Hirten und, ich gestehe es offen, mir auch, vom blosen Zusehen bange wurde. Aengstlich rief er den Hund zurück, und befriedigt nahmen die Ziegen Dies wahr. Augenblicklich stellten sie sich wieder als Leiter der Herde auf und führten dieselbe nach Ver- lauf von einer reichlichen halben Stunde, ohne eins der theuren Häupter zu gefährden, aus dem Fel- senwirrsal glücklich heraus. Jch war entzückt von dem unterhaltenden Lustspiele.
Die Ziegenhirten der Schweiz haben es womöglich schlimmer, als mein guter Andalusier: sie führen ein wahres Hundeleben. "Der Wanderer trifft," sagt Tschudi, "nachdem er halbe Tage lang in den endlosen Trümmer- und Eislabyrinthen umhergestiegen ist, ohne Menschen und Thiere zu bemerken, plötzlich und zu seinem höchsten Erstaunen eine elende Stein- und Moshütte, einen verwilderten Buben, den Sonne, Wind und Schmuz um die Wette gebräunt haben, und eine kleine höchst muntere Ziegenherde, welche sich malerisch auf den kleinen Blöcken, auf den Grasflecken der Felsen und auf den grünen Matten vertheilt hat und den Besucher mit neugierigen Blicken betrachtet. Es sind Dies gewöhnlich milchlose Herden, welche auf möglichst wohlfeile Weise übersömmert werden sollen und drei bis fünf Monate in den ödesten und wildesten Gebirgslagen zuzubringen haben, ohne irgend eine Pflege zu genießen, als das bischen Salz, welches ihnen der Junge von Zeit zu Zeit auf einen Felsen streut, um sie beisammen zu behalten."
"Diese Hirtenbuben führen wohl das armseligste Leben, welches in der Nähe der Kulturländer möglich ist. Jm Frühling ziehen sie mit ihrer bestimmten Zahl von Thieren ins Gebirge ohne Strümpfe und Schuhe, Weste und Rock, in den erbärmlichsten Kleiderbruchstückchen, mit einem langen Stecken, einem Salztäschchen, einem Wetterhute und etwas mageren Käse und Brod ver- sehen. Das ist ihre einzige Speise während des ganzen Sommers; von warmer Nahrung ist keine Rede. Oft bringt ihnen ein anderer Junge aus dem Thale alle vierzehn Tage, oft nur alle Mo- nate, neues Brod und Käse. Diese Nahrungsmittel werden in der Zwischenzeit beinahe ungenießbar. Der arme Tropf nagt wochenlang an einem ganz durchschimmelten Brodstücke und einem schwarz- braunen, steinharten Käserest, in dem man nur mühsam eine menschliche Speise zu erkennen vermag. Bei schlechtem Wetter kauert er wochenlang, ohne Feuer, ohne ein Wort, vor Kälte und Hunger zitternd, in seinem feuchten Loche, aus dem er nur herauskriecht, seine Thiere zu erblicken, welche es, obgleich auch sie schutzlos dem Wechsel der Alpenwitterung preisgegeben sind, doch weit besser haben, als ihr Hirt. Gegen den Herbst hin rückt die Gesellschaft dann gegen die milderen Kuhalpen
Die Ziegen. — Die Hausziegen.
„Glauben Sie mir, Señor,‟ ſagte mir ein geſprächiger Andaluſier auf der Sierra Nevada, „wenn ich ſonſt wollte, über meine beiden Leitziegen könnte ich mich todt ärgern! Sie thun ſicher- lich niemals Das, was ich will, ſondern regelmäßig das gerade Gegentheil: — und ich muß ſie ge- währen laſſen! Sie dürfen überzeugt ſein, daß ich heute nicht hier weiden wollte, wo Sie mich gefunden haben: aber meine Ziegen wollten hier weiden, und ich mußte folgen. Nicht einmal mein Hund kann mit ihnen fertig werden. Wollte ich ſie hetzen: ſie führten mir meine ganze Herde in das Verderben. Da ſehen Sie ſelbſt!‟ Bei dieſen Worten zeigte der gute Mann auf die beiden böſen Lockbuben der frommen, dummen Schafe, welche ſoeben eine der gefährlichſten Felſenklippen erſtiegen hatten und der Herde freundlich zumeckerten, ihnen nach dieſem Punkte, welcher ſicherlich eine ſchöne Ausſicht verſprach, zu folgen. Der Hund wurde abgeſandt, um die Störriſchen herab zu holen; doch Dies war keine ſo leichte Aufgabe. Zuerſt zogen ſich die beiden Böcke auf die höchſte Spitze des Grates zurück, und Chizo, welcher ihnen folgen ſollte, gab ſich vergebliche Mühe, da hinauf ihnen nach zu klettern. Der arme, treue Diener des entrüſteten Hirten rutſchte beſtändig von den glatten Felſen herab; ſein Eifer wurde dadurch aber nur angeſpornt, und weiter und weiter klet- terte er empor. Nieſend begrüßten ihn die Ziegen, bellend antwortete der Hund, deſſen Zorn ſich mehr und mehr ſteigerte. Endlich glaubte er die Frevler erreicht zu haben: aber nein! — ſie machten einen ebenſo zierlichen, als geſchickten Sprung über ihn weg und ſtanden zwei Minuten ſpäter auf einem anderen Felszacken, dort das alte Spiel von neuem beginnend. Die Schafherde hatte ſich mittlerweile ſo vollſtändig in die Felſen eingewirrt und lief mit einer ſo beiſpielloſen Todesverachtung auf den ſchmalen Stegen dahin, daß dem Hirten und, ich geſtehe es offen, mir auch, vom bloſen Zuſehen bange wurde. Aengſtlich rief er den Hund zurück, und befriedigt nahmen die Ziegen Dies wahr. Augenblicklich ſtellten ſie ſich wieder als Leiter der Herde auf und führten dieſelbe nach Ver- lauf von einer reichlichen halben Stunde, ohne eins der theuren Häupter zu gefährden, aus dem Fel- ſenwirrſal glücklich heraus. Jch war entzückt von dem unterhaltenden Luſtſpiele.
Die Ziegenhirten der Schweiz haben es womöglich ſchlimmer, als mein guter Andaluſier: ſie führen ein wahres Hundeleben. „Der Wanderer trifft,‟ ſagt Tſchudi, „nachdem er halbe Tage lang in den endloſen Trümmer- und Eislabyrinthen umhergeſtiegen iſt, ohne Menſchen und Thiere zu bemerken, plötzlich und zu ſeinem höchſten Erſtaunen eine elende Stein- und Moshütte, einen verwilderten Buben, den Sonne, Wind und Schmuz um die Wette gebräunt haben, und eine kleine höchſt muntere Ziegenherde, welche ſich maleriſch auf den kleinen Blöcken, auf den Grasflecken der Felſen und auf den grünen Matten vertheilt hat und den Beſucher mit neugierigen Blicken betrachtet. Es ſind Dies gewöhnlich milchloſe Herden, welche auf möglichſt wohlfeile Weiſe überſömmert werden ſollen und drei bis fünf Monate in den ödeſten und wildeſten Gebirgslagen zuzubringen haben, ohne irgend eine Pflege zu genießen, als das bischen Salz, welches ihnen der Junge von Zeit zu Zeit auf einen Felſen ſtreut, um ſie beiſammen zu behalten.‟
„Dieſe Hirtenbuben führen wohl das armſeligſte Leben, welches in der Nähe der Kulturländer möglich iſt. Jm Frühling ziehen ſie mit ihrer beſtimmten Zahl von Thieren ins Gebirge ohne Strümpfe und Schuhe, Weſte und Rock, in den erbärmlichſten Kleiderbruchſtückchen, mit einem langen Stecken, einem Salztäſchchen, einem Wetterhute und etwas mageren Käſe und Brod ver- ſehen. Das iſt ihre einzige Speiſe während des ganzen Sommers; von warmer Nahrung iſt keine Rede. Oft bringt ihnen ein anderer Junge aus dem Thale alle vierzehn Tage, oft nur alle Mo- nate, neues Brod und Käſe. Dieſe Nahrungsmittel werden in der Zwiſchenzeit beinahe ungenießbar. Der arme Tropf nagt wochenlang an einem ganz durchſchimmelten Brodſtücke und einem ſchwarz- braunen, ſteinharten Käſereſt, in dem man nur mühſam eine menſchliche Speiſe zu erkennen vermag. Bei ſchlechtem Wetter kauert er wochenlang, ohne Feuer, ohne ein Wort, vor Kälte und Hunger zitternd, in ſeinem feuchten Loche, aus dem er nur herauskriecht, ſeine Thiere zu erblicken, welche es, obgleich auch ſie ſchutzlos dem Wechſel der Alpenwitterung preisgegeben ſind, doch weit beſſer haben, als ihr Hirt. Gegen den Herbſt hin rückt die Geſellſchaft dann gegen die milderen Kuhalpen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0620"n="590"/><fwplace="top"type="header">Die Ziegen. — Die Hausziegen.</fw><lb/><p>„Glauben Sie mir, Señor,‟ſagte mir ein geſprächiger Andaluſier auf der <hirendition="#g">Sierra Nevada,</hi><lb/>„wenn ich ſonſt wollte, über meine beiden Leitziegen könnte ich mich todt ärgern! Sie thun ſicher-<lb/>
lich niemals Das, was ich will, ſondern regelmäßig das gerade Gegentheil: — und ich muß ſie ge-<lb/>
währen laſſen! Sie dürfen überzeugt ſein, daß ich heute nicht hier weiden wollte, wo Sie mich<lb/>
gefunden haben: aber meine Ziegen wollten hier weiden, und ich mußte folgen. Nicht einmal mein<lb/>
Hund kann mit ihnen fertig werden. Wollte ich ſie hetzen: ſie führten mir meine ganze Herde in das<lb/>
Verderben. Da ſehen Sie ſelbſt!‟ Bei dieſen Worten zeigte der gute Mann auf die beiden böſen<lb/>
Lockbuben der frommen, dummen Schafe, welche ſoeben eine der gefährlichſten Felſenklippen erſtiegen<lb/>
hatten und der Herde freundlich zumeckerten, ihnen nach dieſem Punkte, welcher ſicherlich eine<lb/>ſchöne Ausſicht verſprach, zu folgen. Der Hund wurde abgeſandt, um die Störriſchen herab zu<lb/>
holen; doch Dies war keine ſo leichte Aufgabe. Zuerſt zogen ſich die beiden Böcke auf die höchſte<lb/>
Spitze des Grates zurück, und <hirendition="#g">Chizo,</hi> welcher ihnen folgen ſollte, gab ſich vergebliche Mühe, da<lb/>
hinauf ihnen nach zu klettern. Der arme, treue Diener des entrüſteten Hirten rutſchte beſtändig von<lb/>
den glatten Felſen herab; ſein Eifer wurde dadurch aber nur angeſpornt, und weiter und weiter klet-<lb/>
terte er empor. Nieſend begrüßten ihn die Ziegen, bellend antwortete der Hund, deſſen Zorn ſich<lb/>
mehr und mehr ſteigerte. Endlich glaubte er die Frevler erreicht zu haben: aber nein! —ſie machten<lb/>
einen ebenſo zierlichen, als geſchickten Sprung über ihn weg und ſtanden zwei Minuten ſpäter auf<lb/>
einem anderen Felszacken, dort das alte Spiel von neuem beginnend. Die Schafherde hatte ſich<lb/>
mittlerweile ſo vollſtändig in die Felſen eingewirrt und lief mit einer ſo beiſpielloſen Todesverachtung<lb/>
auf den ſchmalen Stegen dahin, daß dem Hirten und, ich geſtehe es offen, mir auch, vom bloſen<lb/>
Zuſehen bange wurde. Aengſtlich rief er den Hund zurück, und befriedigt nahmen die Ziegen Dies<lb/>
wahr. Augenblicklich ſtellten ſie ſich wieder als Leiter der Herde auf und führten dieſelbe nach Ver-<lb/>
lauf von einer reichlichen halben Stunde, ohne eins der theuren Häupter zu gefährden, aus dem Fel-<lb/>ſenwirrſal glücklich heraus. Jch war entzückt von dem unterhaltenden Luſtſpiele.</p><lb/><p>Die Ziegenhirten der Schweiz haben es womöglich ſchlimmer, als mein guter Andaluſier: ſie<lb/>
führen ein wahres Hundeleben. „Der Wanderer trifft,‟ſagt <hirendition="#g">Tſchudi,</hi>„nachdem er halbe Tage<lb/>
lang in den endloſen Trümmer- und Eislabyrinthen umhergeſtiegen iſt, ohne Menſchen und Thiere<lb/>
zu bemerken, plötzlich und zu ſeinem höchſten Erſtaunen eine elende Stein- und Moshütte, einen<lb/>
verwilderten Buben, den Sonne, Wind und Schmuz um die Wette gebräunt haben, und eine kleine<lb/>
höchſt muntere Ziegenherde, welche ſich maleriſch auf den kleinen Blöcken, auf den Grasflecken der<lb/>
Felſen und auf den grünen Matten vertheilt hat und den Beſucher mit neugierigen Blicken betrachtet.<lb/>
Es ſind Dies gewöhnlich milchloſe Herden, welche auf möglichſt wohlfeile Weiſe überſömmert werden<lb/>ſollen und drei bis fünf Monate in den ödeſten und wildeſten Gebirgslagen zuzubringen haben, ohne<lb/>
irgend eine Pflege zu genießen, als das bischen Salz, welches ihnen der Junge von Zeit zu Zeit auf<lb/>
einen Felſen ſtreut, um ſie beiſammen zu behalten.‟</p><lb/><p>„Dieſe Hirtenbuben führen wohl das armſeligſte Leben, welches in der Nähe der Kulturländer<lb/>
möglich iſt. Jm Frühling ziehen ſie mit ihrer beſtimmten Zahl von Thieren ins Gebirge ohne<lb/>
Strümpfe und Schuhe, Weſte und Rock, in den erbärmlichſten Kleiderbruchſtückchen, mit einem<lb/>
langen Stecken, einem Salztäſchchen, einem Wetterhute und etwas mageren Käſe und Brod ver-<lb/>ſehen. Das iſt ihre einzige Speiſe während des ganzen Sommers; von warmer Nahrung iſt keine<lb/>
Rede. Oft bringt ihnen ein anderer Junge aus dem Thale alle vierzehn Tage, oft nur alle Mo-<lb/>
nate, neues Brod und Käſe. Dieſe Nahrungsmittel werden in der Zwiſchenzeit beinahe ungenießbar.<lb/>
Der arme Tropf nagt wochenlang an einem ganz durchſchimmelten Brodſtücke und einem ſchwarz-<lb/>
braunen, ſteinharten Käſereſt, in dem man nur mühſam eine menſchliche Speiſe zu erkennen vermag.<lb/>
Bei ſchlechtem Wetter kauert er wochenlang, ohne Feuer, ohne ein Wort, vor Kälte und Hunger<lb/>
zitternd, in ſeinem feuchten Loche, aus dem er nur herauskriecht, ſeine Thiere zu erblicken, welche<lb/>
es, obgleich auch ſie ſchutzlos dem Wechſel der Alpenwitterung preisgegeben ſind, doch weit beſſer<lb/>
haben, als ihr Hirt. Gegen den Herbſt hin rückt die Geſellſchaft dann gegen die milderen Kuhalpen<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[590/0620]
Die Ziegen. — Die Hausziegen.
„Glauben Sie mir, Señor,‟ ſagte mir ein geſprächiger Andaluſier auf der Sierra Nevada,
„wenn ich ſonſt wollte, über meine beiden Leitziegen könnte ich mich todt ärgern! Sie thun ſicher-
lich niemals Das, was ich will, ſondern regelmäßig das gerade Gegentheil: — und ich muß ſie ge-
währen laſſen! Sie dürfen überzeugt ſein, daß ich heute nicht hier weiden wollte, wo Sie mich
gefunden haben: aber meine Ziegen wollten hier weiden, und ich mußte folgen. Nicht einmal mein
Hund kann mit ihnen fertig werden. Wollte ich ſie hetzen: ſie führten mir meine ganze Herde in das
Verderben. Da ſehen Sie ſelbſt!‟ Bei dieſen Worten zeigte der gute Mann auf die beiden böſen
Lockbuben der frommen, dummen Schafe, welche ſoeben eine der gefährlichſten Felſenklippen erſtiegen
hatten und der Herde freundlich zumeckerten, ihnen nach dieſem Punkte, welcher ſicherlich eine
ſchöne Ausſicht verſprach, zu folgen. Der Hund wurde abgeſandt, um die Störriſchen herab zu
holen; doch Dies war keine ſo leichte Aufgabe. Zuerſt zogen ſich die beiden Böcke auf die höchſte
Spitze des Grates zurück, und Chizo, welcher ihnen folgen ſollte, gab ſich vergebliche Mühe, da
hinauf ihnen nach zu klettern. Der arme, treue Diener des entrüſteten Hirten rutſchte beſtändig von
den glatten Felſen herab; ſein Eifer wurde dadurch aber nur angeſpornt, und weiter und weiter klet-
terte er empor. Nieſend begrüßten ihn die Ziegen, bellend antwortete der Hund, deſſen Zorn ſich
mehr und mehr ſteigerte. Endlich glaubte er die Frevler erreicht zu haben: aber nein! — ſie machten
einen ebenſo zierlichen, als geſchickten Sprung über ihn weg und ſtanden zwei Minuten ſpäter auf
einem anderen Felszacken, dort das alte Spiel von neuem beginnend. Die Schafherde hatte ſich
mittlerweile ſo vollſtändig in die Felſen eingewirrt und lief mit einer ſo beiſpielloſen Todesverachtung
auf den ſchmalen Stegen dahin, daß dem Hirten und, ich geſtehe es offen, mir auch, vom bloſen
Zuſehen bange wurde. Aengſtlich rief er den Hund zurück, und befriedigt nahmen die Ziegen Dies
wahr. Augenblicklich ſtellten ſie ſich wieder als Leiter der Herde auf und führten dieſelbe nach Ver-
lauf von einer reichlichen halben Stunde, ohne eins der theuren Häupter zu gefährden, aus dem Fel-
ſenwirrſal glücklich heraus. Jch war entzückt von dem unterhaltenden Luſtſpiele.
Die Ziegenhirten der Schweiz haben es womöglich ſchlimmer, als mein guter Andaluſier: ſie
führen ein wahres Hundeleben. „Der Wanderer trifft,‟ ſagt Tſchudi, „nachdem er halbe Tage
lang in den endloſen Trümmer- und Eislabyrinthen umhergeſtiegen iſt, ohne Menſchen und Thiere
zu bemerken, plötzlich und zu ſeinem höchſten Erſtaunen eine elende Stein- und Moshütte, einen
verwilderten Buben, den Sonne, Wind und Schmuz um die Wette gebräunt haben, und eine kleine
höchſt muntere Ziegenherde, welche ſich maleriſch auf den kleinen Blöcken, auf den Grasflecken der
Felſen und auf den grünen Matten vertheilt hat und den Beſucher mit neugierigen Blicken betrachtet.
Es ſind Dies gewöhnlich milchloſe Herden, welche auf möglichſt wohlfeile Weiſe überſömmert werden
ſollen und drei bis fünf Monate in den ödeſten und wildeſten Gebirgslagen zuzubringen haben, ohne
irgend eine Pflege zu genießen, als das bischen Salz, welches ihnen der Junge von Zeit zu Zeit auf
einen Felſen ſtreut, um ſie beiſammen zu behalten.‟
„Dieſe Hirtenbuben führen wohl das armſeligſte Leben, welches in der Nähe der Kulturländer
möglich iſt. Jm Frühling ziehen ſie mit ihrer beſtimmten Zahl von Thieren ins Gebirge ohne
Strümpfe und Schuhe, Weſte und Rock, in den erbärmlichſten Kleiderbruchſtückchen, mit einem
langen Stecken, einem Salztäſchchen, einem Wetterhute und etwas mageren Käſe und Brod ver-
ſehen. Das iſt ihre einzige Speiſe während des ganzen Sommers; von warmer Nahrung iſt keine
Rede. Oft bringt ihnen ein anderer Junge aus dem Thale alle vierzehn Tage, oft nur alle Mo-
nate, neues Brod und Käſe. Dieſe Nahrungsmittel werden in der Zwiſchenzeit beinahe ungenießbar.
Der arme Tropf nagt wochenlang an einem ganz durchſchimmelten Brodſtücke und einem ſchwarz-
braunen, ſteinharten Käſereſt, in dem man nur mühſam eine menſchliche Speiſe zu erkennen vermag.
Bei ſchlechtem Wetter kauert er wochenlang, ohne Feuer, ohne ein Wort, vor Kälte und Hunger
zitternd, in ſeinem feuchten Loche, aus dem er nur herauskriecht, ſeine Thiere zu erblicken, welche
es, obgleich auch ſie ſchutzlos dem Wechſel der Alpenwitterung preisgegeben ſind, doch weit beſſer
haben, als ihr Hirt. Gegen den Herbſt hin rückt die Geſellſchaft dann gegen die milderen Kuhalpen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 590. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/620>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.