Lange Zeit war man im Zweifel, von welchem Thiere das Haar gewonnen werde, welches man zur Anfertigung der feinsten aller Wollgewebe benutzt. Einige wollten das tibetanische Schaf als Erzeuger des Stoffes annehmen, bis Bernier, ein französischer Arzt, welcher im Jahre 1664 in Begleitung des Großmoguls Tibet besuchte, die Erzeugerin kennen lernte. Von diesem Manne erfuhr Europa, daß namentlich zwei Ziegen solche Wolle lieferten, eine wildlebende und eine gezähmte. Später reiste ein armenischer Kaufmann im Auftrage eines türkischen Handelshauses nach Kaschmir und berichtete, daß man nur in Tibet Ziegen besitze, welche so feine Wolle liefern, wie die Weber in Kasch- mir sie bedürfen. Diese Wolle sproßt im September, wächst bis zum Frühjahr und fällt vom April an wieder aus. Die Böcke liefern mehr, aber minder feine Wolle, als die Ziegen. Jm Mai und Juni findet die Schur statt. Das gewonnene Gemenge wird gereinigt und das Grannenhaar zur Fertigung gewöhnlicher Stoffe verwandt, während das Wollhaar noch einmal der sorgfältigsten Prü- fung und Ausscheidung unterliegt. Am gesuchtesten ist das reine Weiß, welches in der That allen Glanz und alle Schönheit der Seide besitzt. Ein einzelnes Thier liefert etwa 6 bis 8 Loth brauch- baren Wollflaums. Zur Verfertigung eines Gewebes von einer Geviertelle sind fast 48 Loth oder das Erzeugniß von 7 bis 8 Ziegen erforderlich. Jn sehr seltenen Fällen gewinnt man von einem Thiere 10, 12, ja selbst 16 Loth.
Unter der Herrschaft des Großmoguls sollen 40,000 Schalwebereien in Kaschmir bestanden haben; als aber das Land unter die Afghanen kam, sank dieser gewichtige Erwerbszweig so sehr herab, daß von den 60,000 Menschen, denen die Weberei ihren Lebensunterhalt verschaffte, Tausende aus Mangel an Arbeit zum Auswandern gezwungen wurden. Noch jetzt hat sich die Weberei nicht wieder erholen können: eigene Gesetze hindern den freien Handel mit der Wolle. Niemand in Tibet darf seine Wolle verkaufen, wie er will, sondern ist gezwungen, sie auf den großen Markt zu bringen, welcher alljährlich in Gertope gehalten wird. Dazu kommen nun noch Zölle aller Art, welche den Handel lähmen.
Obwohl nun in der Neuzeit in Europa viel Kaschmirschals aus echter Kaschmirwolle nachgemacht und dadurch der Preis etwas herabgedrückt worden ist, zahlt der Kenner doch noch für echte Waare gern erstaunlich hohe Preise. Denn diese Schals sind nicht blos ein Gegenstand des Lurus, sondern ein überaus nützliches Kleidungsstück, weil sie, trotz ihrer Feinheit und Leichtigkeit, einen vortrefflichen Schutz gegen die Kälte gewähren. Schon an Ort und Stelle werden die echten Schals mit 4 bis 500 Thalern unseres Geldes bezahlt; in Europa kosten sie, der vielen Steuern wegen, mindestens das Doppelte. Die Morgenländer verlangen von einem echten Kaschmirschal, daß man das ganze Mittelstück durch einen Fingerring hindurchziehen kann, bezahlen dann aber auch ohne Bedenken eine uns geradezu unglaubliche Summe für solche ausgezeichnete Waare.
Es ist erklärlich, daß man schon seit Jahren daran dachte, dieses gewinnbringende Thier in Europa einzubürgern. Ternaux, welcher die Schalwebereien in Frankreich einführte, kam auf den Gedanken, sich Kaschmirziegen zu verschaffen, und der berühmte Jaubert bot ihm seine Dienste zur Erreichung des Zweckes an. Jm Jahre 1818 schiffte sich letzterer Gelehrte nach Odessa ein, erfuhr, daß die Nomadenstämme in den Steppen zwischen Astrachan und Orenburg Kaschmirziegen hielten, reiste zu diesen Leuten, überzeugte sich durch genaue Untersuchung des Flaums von der Echtheit der Thiere und kaufte 1300 Stück von ihnen an. Diese Herde brachte er nach Kaffa in der Krim, schiffte sich mit ihr ein und landete im April 1819 zu Marseille. Aber nur ihrer 400 Stück hatten die lange, beschwerliche Seereise ausgehalten, und diese waren so angegriffen, daß man wenig Hoffnung hatte, Nachzucht von ihnen zu erhalten. Namentlich die Vöcke hatten sehr gelitten. Glücklicherweise sandten fast zu gleicher Zeit die französischen Naturforscher Diard und Duvaucel einen kräftigen Bock der Kaschmirziege, welchen sie in Jndien zum Geschenk erhalten hatten, an den Thiergarten in Paris. Er wurde der Stammvater aller Kaschmirziegen, welche gegenwärtig in Frankreich leben und dem Lande, bezüglich ihrem Herrn, 15 bis 20 Millionen
Die Kaſchmirziege.
Lange Zeit war man im Zweifel, von welchem Thiere das Haar gewonnen werde, welches man zur Anfertigung der feinſten aller Wollgewebe benutzt. Einige wollten das tibetaniſche Schaf als Erzeuger des Stoffes annehmen, bis Bernier, ein franzöſiſcher Arzt, welcher im Jahre 1664 in Begleitung des Großmoguls Tibet beſuchte, die Erzeugerin kennen lernte. Von dieſem Manne erfuhr Europa, daß namentlich zwei Ziegen ſolche Wolle lieferten, eine wildlebende und eine gezähmte. Später reiſte ein armeniſcher Kaufmann im Auftrage eines türkiſchen Handelshauſes nach Kaſchmir und berichtete, daß man nur in Tibet Ziegen beſitze, welche ſo feine Wolle liefern, wie die Weber in Kaſch- mir ſie bedürfen. Dieſe Wolle ſproßt im September, wächſt bis zum Frühjahr und fällt vom April an wieder aus. Die Böcke liefern mehr, aber minder feine Wolle, als die Ziegen. Jm Mai und Juni findet die Schur ſtatt. Das gewonnene Gemenge wird gereinigt und das Grannenhaar zur Fertigung gewöhnlicher Stoffe verwandt, während das Wollhaar noch einmal der ſorgfältigſten Prü- fung und Ausſcheidung unterliegt. Am geſuchteſten iſt das reine Weiß, welches in der That allen Glanz und alle Schönheit der Seide beſitzt. Ein einzelnes Thier liefert etwa 6 bis 8 Loth brauch- baren Wollflaums. Zur Verfertigung eines Gewebes von einer Geviertelle ſind faſt 48 Loth oder das Erzeugniß von 7 bis 8 Ziegen erforderlich. Jn ſehr ſeltenen Fällen gewinnt man von einem Thiere 10, 12, ja ſelbſt 16 Loth.
Unter der Herrſchaft des Großmoguls ſollen 40,000 Schalwebereien in Kaſchmir beſtanden haben; als aber das Land unter die Afghanen kam, ſank dieſer gewichtige Erwerbszweig ſo ſehr herab, daß von den 60,000 Menſchen, denen die Weberei ihren Lebensunterhalt verſchaffte, Tauſende aus Mangel an Arbeit zum Auswandern gezwungen wurden. Noch jetzt hat ſich die Weberei nicht wieder erholen können: eigene Geſetze hindern den freien Handel mit der Wolle. Niemand in Tibet darf ſeine Wolle verkaufen, wie er will, ſondern iſt gezwungen, ſie auf den großen Markt zu bringen, welcher alljährlich in Gertope gehalten wird. Dazu kommen nun noch Zölle aller Art, welche den Handel lähmen.
Obwohl nun in der Neuzeit in Europa viel Kaſchmirſchals aus echter Kaſchmirwolle nachgemacht und dadurch der Preis etwas herabgedrückt worden iſt, zahlt der Kenner doch noch für echte Waare gern erſtaunlich hohe Preiſe. Denn dieſe Schals ſind nicht blos ein Gegenſtand des Lurus, ſondern ein überaus nützliches Kleidungsſtück, weil ſie, trotz ihrer Feinheit und Leichtigkeit, einen vortrefflichen Schutz gegen die Kälte gewähren. Schon an Ort und Stelle werden die echten Schals mit 4 bis 500 Thalern unſeres Geldes bezahlt; in Europa koſten ſie, der vielen Steuern wegen, mindeſtens das Doppelte. Die Morgenländer verlangen von einem echten Kaſchmirſchal, daß man das ganze Mittelſtück durch einen Fingerring hindurchziehen kann, bezahlen dann aber auch ohne Bedenken eine uns geradezu unglaubliche Summe für ſolche ausgezeichnete Waare.
Es iſt erklärlich, daß man ſchon ſeit Jahren daran dachte, dieſes gewinnbringende Thier in Europa einzubürgern. Ternaux, welcher die Schalwebereien in Frankreich einführte, kam auf den Gedanken, ſich Kaſchmirziegen zu verſchaffen, und der berühmte Jaubert bot ihm ſeine Dienſte zur Erreichung des Zweckes an. Jm Jahre 1818 ſchiffte ſich letzterer Gelehrte nach Odeſſa ein, erfuhr, daß die Nomadenſtämme in den Steppen zwiſchen Aſtrachan und Orenburg Kaſchmirziegen hielten, reiſte zu dieſen Leuten, überzeugte ſich durch genaue Unterſuchung des Flaums von der Echtheit der Thiere und kaufte 1300 Stück von ihnen an. Dieſe Herde brachte er nach Kaffa in der Krim, ſchiffte ſich mit ihr ein und landete im April 1819 zu Marſeille. Aber nur ihrer 400 Stück hatten die lange, beſchwerliche Seereiſe ausgehalten, und dieſe waren ſo angegriffen, daß man wenig Hoffnung hatte, Nachzucht von ihnen zu erhalten. Namentlich die Vöcke hatten ſehr gelitten. Glücklicherweiſe ſandten faſt zu gleicher Zeit die franzöſiſchen Naturforſcher Diard und Duvaucel einen kräftigen Bock der Kaſchmirziege, welchen ſie in Jndien zum Geſchenk erhalten hatten, an den Thiergarten in Paris. Er wurde der Stammvater aller Kaſchmirziegen, welche gegenwärtig in Frankreich leben und dem Lande, bezüglich ihrem Herrn, 15 bis 20 Millionen
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[585/0615]
Die Kaſchmirziege.
Lange Zeit war man im Zweifel, von welchem Thiere das Haar gewonnen werde, welches man zur
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des Stoffes annehmen, bis Bernier, ein franzöſiſcher Arzt, welcher im Jahre 1664 in Begleitung
des Großmoguls Tibet beſuchte, die Erzeugerin kennen lernte. Von dieſem Manne erfuhr Europa,
daß namentlich zwei Ziegen ſolche Wolle lieferten, eine wildlebende und eine gezähmte. Später
reiſte ein armeniſcher Kaufmann im Auftrage eines türkiſchen Handelshauſes nach Kaſchmir und
berichtete, daß man nur in Tibet Ziegen beſitze, welche ſo feine Wolle liefern, wie die Weber in Kaſch-
mir ſie bedürfen. Dieſe Wolle ſproßt im September, wächſt bis zum Frühjahr und fällt vom April
an wieder aus. Die Böcke liefern mehr, aber minder feine Wolle, als die Ziegen. Jm Mai und
Juni findet die Schur ſtatt. Das gewonnene Gemenge wird gereinigt und das Grannenhaar zur
Fertigung gewöhnlicher Stoffe verwandt, während das Wollhaar noch einmal der ſorgfältigſten Prü-
fung und Ausſcheidung unterliegt. Am geſuchteſten iſt das reine Weiß, welches in der That allen
Glanz und alle Schönheit der Seide beſitzt. Ein einzelnes Thier liefert etwa 6 bis 8 Loth brauch-
baren Wollflaums. Zur Verfertigung eines Gewebes von einer Geviertelle ſind faſt 48 Loth oder
das Erzeugniß von 7 bis 8 Ziegen erforderlich. Jn ſehr ſeltenen Fällen gewinnt man von einem
Thiere 10, 12, ja ſelbſt 16 Loth.
Unter der Herrſchaft des Großmoguls ſollen 40,000 Schalwebereien in Kaſchmir beſtanden
haben; als aber das Land unter die Afghanen kam, ſank dieſer gewichtige Erwerbszweig ſo ſehr herab,
daß von den 60,000 Menſchen, denen die Weberei ihren Lebensunterhalt verſchaffte, Tauſende aus
Mangel an Arbeit zum Auswandern gezwungen wurden. Noch jetzt hat ſich die Weberei nicht wieder
erholen können: eigene Geſetze hindern den freien Handel mit der Wolle. Niemand in Tibet darf
ſeine Wolle verkaufen, wie er will, ſondern iſt gezwungen, ſie auf den großen Markt zu bringen,
welcher alljährlich in Gertope gehalten wird. Dazu kommen nun noch Zölle aller Art, welche den
Handel lähmen.
Obwohl nun in der Neuzeit in Europa viel Kaſchmirſchals aus echter Kaſchmirwolle nachgemacht
und dadurch der Preis etwas herabgedrückt worden iſt, zahlt der Kenner doch noch für echte Waare
gern erſtaunlich hohe Preiſe. Denn dieſe Schals ſind nicht blos ein Gegenſtand des Lurus, ſondern ein
überaus nützliches Kleidungsſtück, weil ſie, trotz ihrer Feinheit und Leichtigkeit, einen vortrefflichen
Schutz gegen die Kälte gewähren. Schon an Ort und Stelle werden die echten Schals mit 4 bis 500
Thalern unſeres Geldes bezahlt; in Europa koſten ſie, der vielen Steuern wegen, mindeſtens das
Doppelte. Die Morgenländer verlangen von einem echten Kaſchmirſchal, daß man das ganze
Mittelſtück durch einen Fingerring hindurchziehen kann, bezahlen dann aber auch ohne Bedenken
eine uns geradezu unglaubliche Summe für ſolche ausgezeichnete Waare.
Es iſt erklärlich, daß man ſchon ſeit Jahren daran dachte, dieſes gewinnbringende Thier in
Europa einzubürgern. Ternaux, welcher die Schalwebereien in Frankreich einführte, kam auf
den Gedanken, ſich Kaſchmirziegen zu verſchaffen, und der berühmte Jaubert bot ihm ſeine Dienſte
zur Erreichung des Zweckes an. Jm Jahre 1818 ſchiffte ſich letzterer Gelehrte nach Odeſſa ein,
erfuhr, daß die Nomadenſtämme in den Steppen zwiſchen Aſtrachan und Orenburg Kaſchmirziegen
hielten, reiſte zu dieſen Leuten, überzeugte ſich durch genaue Unterſuchung des Flaums von der
Echtheit der Thiere und kaufte 1300 Stück von ihnen an. Dieſe Herde brachte er nach Kaffa
in der Krim, ſchiffte ſich mit ihr ein und landete im April 1819 zu Marſeille. Aber nur ihrer
400 Stück hatten die lange, beſchwerliche Seereiſe ausgehalten, und dieſe waren ſo angegriffen,
daß man wenig Hoffnung hatte, Nachzucht von ihnen zu erhalten. Namentlich die Vöcke hatten
ſehr gelitten. Glücklicherweiſe ſandten faſt zu gleicher Zeit die franzöſiſchen Naturforſcher Diard
und Duvaucel einen kräftigen Bock der Kaſchmirziege, welchen ſie in Jndien zum Geſchenk
erhalten hatten, an den Thiergarten in Paris. Er wurde der Stammvater aller Kaſchmirziegen,
welche gegenwärtig in Frankreich leben und dem Lande, bezüglich ihrem Herrn, 15 bis 20 Millionen
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 585. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/615>, abgerufen am 23.11.2024.
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