von 41/2 Jahren erreicht haben, dem ausgewachsenen Steinbocke an Größe, Stärke und Vollendung der Hörner schon sehr nahe, und übertreffen ihn bisweilen in allen diesen Beziehungen. Die Männ- chen der dritten Kreuzung endlich sind oft kaum mehr vom Steinbocke zu unterscheiden."
"So wünschenswerth es auch in vielfacher Beziehung ist, den Steinbock mittelst solcher Bastarde wie- der auf unseren Alpen einzuführen, so lehrt doch der in den Berner Alpen gemachte Versuch, wie noth- wendig es sei, große Vorsicht in Ansehung der Wahl der Alpen anzuwenden, wenn man nicht der vielen Unannehmlichkeiten wegen, die eine solche Zucht mit sich bringt, so wie dort genöthigt werden soll, dieselbe wieder aufzugeben oder endlich gar mit Gewalt zu vertilgen. Die Berner Steinbockzucht, welche ursprünglich in den Stadtwällen angelegt wurde, bestand noch im Jahre 1824 aus einem 41/2 jährigen Bastardbocke, der aus der Kreuzung des echten Steinbockes mit einer Bastardziege hervor- gegangen war, die sammt ihren Jungen im Jahre 1820 aus dem Thale von Aosta auf die Berner Alpen gebracht wurden, dann einer echten Steinziege, die in demselben Jahre als ein Geschenk des königlich sardinischen Gesandten zur Erzielung einer Zucht dahin kam, und endlich einer Bastardziege, die von diesem Bastardbocke und einer Hausziege stammte. Wiewohl diese Thiere als frei und wild angesehen werden konnten, so zeigten sie doch keine Spur, weder von Furcht, noch von Liebe zu dem Menschen. Auf den Stadtwällen, auf denen sie sich munter umhertrieben, machte der Bastardbock nicht selten Angriffe auf die Schildwachen und wurde dadurch auch bald verhaßt. Mehr als einmal unterbrach er die im Freien, in der Nähe der Sternwarte angestellten astronomischen Beobachtungen, stieg auf einen benachbarten Spaziergang hinab und jagte die Leute, welche sich hier vergnügen woll- ten, in die Flucht oder gefiel sich auch, die an die Wälle anstoßenden Dächer der Gebäude zu besteigen und die Ziegel, mit denen sie gedeckt waren, zu zertrümmern."
"Die vielen Klagen, welche von allen Seiten über diese Steinbockzucht in den Berner Stadtwällen einliefen, bestimmten die Behörde, dieselbe auf den Abendberg bei Jnterlacken zu verpflanzen. Die Stein- und Bastardziege zogen nach den Höhen, der Bastardbock hingegen gefiel sich besser in den be- wohnteren Gegenden. Täglich kam er mehrere Male zur Alpenhütte und war zuletzt mit keiner Ge- walt mehr von derselben wegzubringen. Den Sennen stieß er zu Boden, wenn er es versuchte, sich ihm zu widersetzen, und es hätte einmal wenig gefehlt, daß er ihn sogar getödtet hätte, wenn ihm nicht die Sennerin schnell zu Hilfe gekommen wäre, die, aus glücklichem und richtigem Jnstinkt, den Bock beim Bart, seiner empfindlichsten und fast auch einzigen schwachen Stelle, ergriffen hatte. Wegen der Ver- heerungen in den Pflanzungen und wegen der Gewaltthätigkeiten, die der Bock fast jeden Augenblick verübte, wurde die ganze Familie weiter hinauf auf die Höhen des Sareten-Thales gebracht. Der Bock mußte durch vier Männer an einem starken Seile fortgeschleppt werden und warf öfter als ein Mal sein ganzes kräftiges Geleite zu Boden. Ein starker Gemsenjäger übernahm nun mit besonderer Vorliebe die Aufsicht über jene Zucht; doch bewiesen diese Thiere ihrem Beschützer wenig Dankbarkeit. An einem senkrechten Felsabsturz, und kaum einen Schritt vom tiefen Abgrunde entfernt, mußte ein- mal der besorgte Jäger über eine Stunde lang mit dem Bastardbocke ringen, der nicht davon ablassen wollte, ihn in die Tiefe hinabzustürzen. Auch hier war dieser Bock bald zum Schrecken der Sennen geworden, indem er beständig von den Höhen bis zu den Hütten herabkam und die Sennen geradezu überfiel. Seit einigen Monaten hatte er bereits seine Ziegen ganz verlassen und sich im Thalgrunde von Sareten aufgehalten. Dem kräftigen Gemsjäger, der ihn überwachen sollte, gelang es jedoch, ihn auf seine Höhen zurückzuführen; aber schneller als sein Bändiger, war der Bock wieder im Thale, stieß mit seinen mächtigen Hörnern alle Thüren in den Ställen ein, in denen er Ziegen witterte, be- sprang dieselben und verfolgte selbst die Sennerinnen in ihre Küchen und Keller. Man hoffte zwar, daß nach dem Vorübergehen der Brunstzeit der wilde Bock sich wieder zu seiner früheren Gesellschaft halten würde, welche in der Zwischenzeit ganz ruhig auf den höheren Alpen weidete: allein wenige Tage, nachdem er der Haft entlassen und auf seine Höhen zurückgebracht worden war, erschien er plötz- lich zu Wilderswyl, in der Fläche hinter einer Herde von Ziegen daher rennend, die in voller Eile ins Dorf gelaufen kam."
Der Alpenſteinbock.
von 4½ Jahren erreicht haben, dem ausgewachſenen Steinbocke an Größe, Stärke und Vollendung der Hörner ſchon ſehr nahe, und übertreffen ihn bisweilen in allen dieſen Beziehungen. Die Männ- chen der dritten Kreuzung endlich ſind oft kaum mehr vom Steinbocke zu unterſcheiden.‟
„So wünſchenswerth es auch in vielfacher Beziehung iſt, den Steinbock mittelſt ſolcher Baſtarde wie- der auf unſeren Alpen einzuführen, ſo lehrt doch der in den Berner Alpen gemachte Verſuch, wie noth- wendig es ſei, große Vorſicht in Anſehung der Wahl der Alpen anzuwenden, wenn man nicht der vielen Unannehmlichkeiten wegen, die eine ſolche Zucht mit ſich bringt, ſo wie dort genöthigt werden ſoll, dieſelbe wieder aufzugeben oder endlich gar mit Gewalt zu vertilgen. Die Berner Steinbockzucht, welche urſprünglich in den Stadtwällen angelegt wurde, beſtand noch im Jahre 1824 aus einem 4½ jährigen Baſtardbocke, der aus der Kreuzung des echten Steinbockes mit einer Baſtardziege hervor- gegangen war, die ſammt ihren Jungen im Jahre 1820 aus dem Thale von Aoſta auf die Berner Alpen gebracht wurden, dann einer echten Steinziege, die in demſelben Jahre als ein Geſchenk des königlich ſardiniſchen Geſandten zur Erzielung einer Zucht dahin kam, und endlich einer Baſtardziege, die von dieſem Baſtardbocke und einer Hausziege ſtammte. Wiewohl dieſe Thiere als frei und wild angeſehen werden konnten, ſo zeigten ſie doch keine Spur, weder von Furcht, noch von Liebe zu dem Menſchen. Auf den Stadtwällen, auf denen ſie ſich munter umhertrieben, machte der Baſtardbock nicht ſelten Angriffe auf die Schildwachen und wurde dadurch auch bald verhaßt. Mehr als einmal unterbrach er die im Freien, in der Nähe der Sternwarte angeſtellten aſtronomiſchen Beobachtungen, ſtieg auf einen benachbarten Spaziergang hinab und jagte die Leute, welche ſich hier vergnügen woll- ten, in die Flucht oder gefiel ſich auch, die an die Wälle anſtoßenden Dächer der Gebäude zu beſteigen und die Ziegel, mit denen ſie gedeckt waren, zu zertrümmern.‟
„Die vielen Klagen, welche von allen Seiten über dieſe Steinbockzucht in den Berner Stadtwällen einliefen, beſtimmten die Behörde, dieſelbe auf den Abendberg bei Jnterlacken zu verpflanzen. Die Stein- und Baſtardziege zogen nach den Höhen, der Baſtardbock hingegen gefiel ſich beſſer in den be- wohnteren Gegenden. Täglich kam er mehrere Male zur Alpenhütte und war zuletzt mit keiner Ge- walt mehr von derſelben wegzubringen. Den Sennen ſtieß er zu Boden, wenn er es verſuchte, ſich ihm zu widerſetzen, und es hätte einmal wenig gefehlt, daß er ihn ſogar getödtet hätte, wenn ihm nicht die Sennerin ſchnell zu Hilfe gekommen wäre, die, aus glücklichem und richtigem Jnſtinkt, den Bock beim Bart, ſeiner empfindlichſten und faſt auch einzigen ſchwachen Stelle, ergriffen hatte. Wegen der Ver- heerungen in den Pflanzungen und wegen der Gewaltthätigkeiten, die der Bock faſt jeden Augenblick verübte, wurde die ganze Familie weiter hinauf auf die Höhen des Sareten-Thales gebracht. Der Bock mußte durch vier Männer an einem ſtarken Seile fortgeſchleppt werden und warf öfter als ein Mal ſein ganzes kräftiges Geleite zu Boden. Ein ſtarker Gemſenjäger übernahm nun mit beſonderer Vorliebe die Aufſicht über jene Zucht; doch bewieſen dieſe Thiere ihrem Beſchützer wenig Dankbarkeit. An einem ſenkrechten Felsabſturz, und kaum einen Schritt vom tiefen Abgrunde entfernt, mußte ein- mal der beſorgte Jäger über eine Stunde lang mit dem Baſtardbocke ringen, der nicht davon ablaſſen wollte, ihn in die Tiefe hinabzuſtürzen. Auch hier war dieſer Bock bald zum Schrecken der Sennen geworden, indem er beſtändig von den Höhen bis zu den Hütten herabkam und die Sennen geradezu überfiel. Seit einigen Monaten hatte er bereits ſeine Ziegen ganz verlaſſen und ſich im Thalgrunde von Sareten aufgehalten. Dem kräftigen Gemsjäger, der ihn überwachen ſollte, gelang es jedoch, ihn auf ſeine Höhen zurückzuführen; aber ſchneller als ſein Bändiger, war der Bock wieder im Thale, ſtieß mit ſeinen mächtigen Hörnern alle Thüren in den Ställen ein, in denen er Ziegen witterte, be- ſprang dieſelben und verfolgte ſelbſt die Sennerinnen in ihre Küchen und Keller. Man hoffte zwar, daß nach dem Vorübergehen der Brunſtzeit der wilde Bock ſich wieder zu ſeiner früheren Geſellſchaft halten würde, welche in der Zwiſchenzeit ganz ruhig auf den höheren Alpen weidete: allein wenige Tage, nachdem er der Haft entlaſſen und auf ſeine Höhen zurückgebracht worden war, erſchien er plötz- lich zu Wilderswyl, in der Fläche hinter einer Herde von Ziegen daher rennend, die in voller Eile ins Dorf gelaufen kam.‟
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[575/0605]
Der Alpenſteinbock.
von 4½ Jahren erreicht haben, dem ausgewachſenen Steinbocke an Größe, Stärke und Vollendung
der Hörner ſchon ſehr nahe, und übertreffen ihn bisweilen in allen dieſen Beziehungen. Die Männ-
chen der dritten Kreuzung endlich ſind oft kaum mehr vom Steinbocke zu unterſcheiden.‟
„So wünſchenswerth es auch in vielfacher Beziehung iſt, den Steinbock mittelſt ſolcher Baſtarde wie-
der auf unſeren Alpen einzuführen, ſo lehrt doch der in den Berner Alpen gemachte Verſuch, wie noth-
wendig es ſei, große Vorſicht in Anſehung der Wahl der Alpen anzuwenden, wenn man nicht der
vielen Unannehmlichkeiten wegen, die eine ſolche Zucht mit ſich bringt, ſo wie dort genöthigt werden
ſoll, dieſelbe wieder aufzugeben oder endlich gar mit Gewalt zu vertilgen. Die Berner Steinbockzucht,
welche urſprünglich in den Stadtwällen angelegt wurde, beſtand noch im Jahre 1824 aus einem
4½ jährigen Baſtardbocke, der aus der Kreuzung des echten Steinbockes mit einer Baſtardziege hervor-
gegangen war, die ſammt ihren Jungen im Jahre 1820 aus dem Thale von Aoſta auf die Berner
Alpen gebracht wurden, dann einer echten Steinziege, die in demſelben Jahre als ein Geſchenk des
königlich ſardiniſchen Geſandten zur Erzielung einer Zucht dahin kam, und endlich einer Baſtardziege,
die von dieſem Baſtardbocke und einer Hausziege ſtammte. Wiewohl dieſe Thiere als frei und wild
angeſehen werden konnten, ſo zeigten ſie doch keine Spur, weder von Furcht, noch von Liebe zu dem
Menſchen. Auf den Stadtwällen, auf denen ſie ſich munter umhertrieben, machte der Baſtardbock
nicht ſelten Angriffe auf die Schildwachen und wurde dadurch auch bald verhaßt. Mehr als einmal
unterbrach er die im Freien, in der Nähe der Sternwarte angeſtellten aſtronomiſchen Beobachtungen,
ſtieg auf einen benachbarten Spaziergang hinab und jagte die Leute, welche ſich hier vergnügen woll-
ten, in die Flucht oder gefiel ſich auch, die an die Wälle anſtoßenden Dächer der Gebäude zu beſteigen
und die Ziegel, mit denen ſie gedeckt waren, zu zertrümmern.‟
„Die vielen Klagen, welche von allen Seiten über dieſe Steinbockzucht in den Berner Stadtwällen
einliefen, beſtimmten die Behörde, dieſelbe auf den Abendberg bei Jnterlacken zu verpflanzen. Die
Stein- und Baſtardziege zogen nach den Höhen, der Baſtardbock hingegen gefiel ſich beſſer in den be-
wohnteren Gegenden. Täglich kam er mehrere Male zur Alpenhütte und war zuletzt mit keiner Ge-
walt mehr von derſelben wegzubringen. Den Sennen ſtieß er zu Boden, wenn er es verſuchte, ſich
ihm zu widerſetzen, und es hätte einmal wenig gefehlt, daß er ihn ſogar getödtet hätte, wenn ihm nicht
die Sennerin ſchnell zu Hilfe gekommen wäre, die, aus glücklichem und richtigem Jnſtinkt, den Bock
beim Bart, ſeiner empfindlichſten und faſt auch einzigen ſchwachen Stelle, ergriffen hatte. Wegen der Ver-
heerungen in den Pflanzungen und wegen der Gewaltthätigkeiten, die der Bock faſt jeden Augenblick
verübte, wurde die ganze Familie weiter hinauf auf die Höhen des Sareten-Thales gebracht. Der
Bock mußte durch vier Männer an einem ſtarken Seile fortgeſchleppt werden und warf öfter als ein
Mal ſein ganzes kräftiges Geleite zu Boden. Ein ſtarker Gemſenjäger übernahm nun mit beſonderer
Vorliebe die Aufſicht über jene Zucht; doch bewieſen dieſe Thiere ihrem Beſchützer wenig Dankbarkeit.
An einem ſenkrechten Felsabſturz, und kaum einen Schritt vom tiefen Abgrunde entfernt, mußte ein-
mal der beſorgte Jäger über eine Stunde lang mit dem Baſtardbocke ringen, der nicht davon ablaſſen
wollte, ihn in die Tiefe hinabzuſtürzen. Auch hier war dieſer Bock bald zum Schrecken der Sennen
geworden, indem er beſtändig von den Höhen bis zu den Hütten herabkam und die Sennen geradezu
überfiel. Seit einigen Monaten hatte er bereits ſeine Ziegen ganz verlaſſen und ſich im Thalgrunde
von Sareten aufgehalten. Dem kräftigen Gemsjäger, der ihn überwachen ſollte, gelang es jedoch,
ihn auf ſeine Höhen zurückzuführen; aber ſchneller als ſein Bändiger, war der Bock wieder im Thale,
ſtieß mit ſeinen mächtigen Hörnern alle Thüren in den Ställen ein, in denen er Ziegen witterte, be-
ſprang dieſelben und verfolgte ſelbſt die Sennerinnen in ihre Küchen und Keller. Man hoffte zwar,
daß nach dem Vorübergehen der Brunſtzeit der wilde Bock ſich wieder zu ſeiner früheren Geſellſchaft
halten würde, welche in der Zwiſchenzeit ganz ruhig auf den höheren Alpen weidete: allein wenige
Tage, nachdem er der Haft entlaſſen und auf ſeine Höhen zurückgebracht worden war, erſchien er plötz-
lich zu Wilderswyl, in der Fläche hinter einer Herde von Ziegen daher rennend, die in voller Eile ins
Dorf gelaufen kam.‟
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 575. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/605>, abgerufen am 23.11.2024.
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