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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Die Ziegen. -- Der Alpensteinbock.
dabei auf die Hinterbeine und versuchen den Stoß seitwärts zu richten. Von dem Zusammenprallen
der Hörner hört man es im Gebirge wiederdröhnen. An steilen Gehängen mögen diese Kämpfe oft
gefährlich werden, und sicherlich wird mancher liebesbrünstige Bock sein junges Leben lassen müssen,
wenn er, von Liebesgluth entzündet, mit dem Unrechten in Kampf und Streit sich einließ. Die
Ziege gibt sich ohne weiteres dem Sieger preis. Fünf Monate nach der Begattung, meist in der
letzten Woche des Juni oder im Anfange des Juli, wirft sie ein Junges, an Größe etwa einem
neugeborenen Zicklein gleich, leckt das neu Geborene trocken und läuft dann lustig mit ihm davon.
Dieses ist ein kleines, höchst niedliches, munteres und, wie Schinz sagt, "schmeichelhaftes" Ge-
schöpf. Es kommt mit seinem ersten wolligen Haar bedeckt zur Welt und kleidet sich erst vom Herbst
an in ein aus steiferen, langen Grannen bestehendes Gewand um. Bereits wenige Stunden nach
der Geburt ist der Guckindiewelt fast ein ebenso kühner Bergsteiger, als seine Mutter. Diese liebt
ihn außerordentlich, leckt ihn rein, leitet ihn, meckert ihm freundlich zu, ruft ihn an sich, hält sich,
so lange sie ihn säugt, mit ihm in Felsenhöhlen verborgen und verläßt ihn nie, außer wenn der
tückische Mensch ihr gar zu gefährlich scheint und sie das eigene Leben retten muß, ohne welches auch
das ihres Kindes verloren sein würde. Bei drohender Gefahr eilt sie an fürchterlichen Gehängen hin
und sucht in dem wüsten Geklüft ihre Rettung. Das Zicklein aber verbirgt sich äußerst geschickt hin-
ter Steinen und in Felsenlöchern, liegt dort mäuschenstill und ohne sich zu rühren, und äugt und
lauscht und wittert scharf nach allen Seiten hin. Sein graues Haarkleid ist ganz geeignet, einstweilen
Mutterstelle an ihm zu vertreten. Es ähnelt den Felswänden und Steinen derart, daß auch das
schärfste Falkenauge nicht im Stande ist, ein auf den Boden gedrücktes Steinböckchen wahrzunehmen,
oder vom Felsen zu unterscheiden. Jch selbst weiß aus eigener Erfahrung, wie unglaublich schwer es
hält, lagernde Steinböcke aufzuheben; denn ich habe oft stundenlang mit einem sehr scharfen Fern-
rohte die Halden und Felswände des Sinai abgesucht, ohne die Thiere wahrzunehmen, welche die
Beduinen als ständige Bewohner solcher Stellen wußten, und unter Umständen auch mit ihren köst-
lichen Augen auffanden. Sobald die Gefahr vorüber ist, findet die gerettete Mutter sicher den Weg
zu ihrem Kinde wieder; bleibt sie aber zu lange aus, so kommt das Steinzicklein aus seinem Schlupf-
winkel hervor, ruft nach der Alten und verbirgt sich dann schnell wieder. Wird die Mutter verwun-
det oder getödtet, so flieht es anfangs furchtsam und entsetzt, kehrt aber bald und immer wieder um
und hält lange und fest an der Gegend, wo es seine treue Beschützerin verloren, traurigen Herzens
sein Leben fristend.

Eigenthümlich ist es, daß ein junger Steinbock, wenn seine verwundete Mutter zu ihm zurück-
kommt, zwar freudig auf dieselbe zuläuft, aber, sobald er den Geruch des Blutes wahrnimmt,
ängstlich von ihr flieht und durch keine Liebkosungen der Alten zu bewegen ist, wieder zu ihr zurück-
zukehren. Es ist Dies eine Wahrnehmung, welche man auch bei anderen Wiederkäuern gemacht hat.

Bei Gefahr vertheidigt die Steinbockziege ihr Junges nach besten Kräften. Der berühmte
Steinbockjäger Fournier aus dem Wallis sah einmal sechs Steinziegen mit ihren Jungen weiden.
Als ein Adler über ihnen kreiste, sammelten die Ziegen sich mit den Jungen unter einem überragen-
den Felsblocke und richteten die Hörner nach dem Raubvogel, sich je nachdem der Schatten des
Adlers auf dem Boden dessen Stellung bezeichnete, nach den bedrohten Seiten zu wendend. Der
Jäger beobachtete lange diesen anziehenden Kampf und verscheuchte zuletzt den Adler.

Nächst dem Steinadler sind Wolf und Fuchs, und vielleicht noch der Lämmergeier, ge-
fährliche Feinde des Steinwildes, wenn auch sie alle den älteren Steinböcken nicht viel anhaben
mögen. Ohne den Menschen, diesen Erzfeind der Thiere, würden die Steinböcke wahrscheinlich
noch in großer Anzahl auf den Alpen zu finden sein. Die Steinbocksjagd zieht nicht blos ihres Ge-
winnes wegen, sondern ihrer ungeheueren Schwierigkeiten halber den Menschen mächtig an. Es ist
eine der gefährlichsten und beschwerlichsten Vergnügungen, welche es geben kann. Gegenwärtig be-
treiben sie auch nur Raubschützen oder Naturforscher, erstere, um einen guten Gewinn zu erzielen,
letztere aus leicht erklärlichen Ursachen. Der August und September, wo der Steinbock am fettesten

Die Ziegen. — Der Alpenſteinbock.
dabei auf die Hinterbeine und verſuchen den Stoß ſeitwärts zu richten. Von dem Zuſammenprallen
der Hörner hört man es im Gebirge wiederdröhnen. An ſteilen Gehängen mögen dieſe Kämpfe oft
gefährlich werden, und ſicherlich wird mancher liebesbrünſtige Bock ſein junges Leben laſſen müſſen,
wenn er, von Liebesgluth entzündet, mit dem Unrechten in Kampf und Streit ſich einließ. Die
Ziege gibt ſich ohne weiteres dem Sieger preis. Fünf Monate nach der Begattung, meiſt in der
letzten Woche des Juni oder im Anfange des Juli, wirft ſie ein Junges, an Größe etwa einem
neugeborenen Zicklein gleich, leckt das neu Geborene trocken und läuft dann luſtig mit ihm davon.
Dieſes iſt ein kleines, höchſt niedliches, munteres und, wie Schinz ſagt, „ſchmeichelhaftes‟ Ge-
ſchöpf. Es kommt mit ſeinem erſten wolligen Haar bedeckt zur Welt und kleidet ſich erſt vom Herbſt
an in ein aus ſteiferen, langen Grannen beſtehendes Gewand um. Bereits wenige Stunden nach
der Geburt iſt der Guckindiewelt faſt ein ebenſo kühner Bergſteiger, als ſeine Mutter. Dieſe liebt
ihn außerordentlich, leckt ihn rein, leitet ihn, meckert ihm freundlich zu, ruft ihn an ſich, hält ſich,
ſo lange ſie ihn ſäugt, mit ihm in Felſenhöhlen verborgen und verläßt ihn nie, außer wenn der
tückiſche Menſch ihr gar zu gefährlich ſcheint und ſie das eigene Leben retten muß, ohne welches auch
das ihres Kindes verloren ſein würde. Bei drohender Gefahr eilt ſie an fürchterlichen Gehängen hin
und ſucht in dem wüſten Geklüft ihre Rettung. Das Zicklein aber verbirgt ſich äußerſt geſchickt hin-
ter Steinen und in Felſenlöchern, liegt dort mäuschenſtill und ohne ſich zu rühren, und äugt und
lauſcht und wittert ſcharf nach allen Seiten hin. Sein graues Haarkleid iſt ganz geeignet, einſtweilen
Mutterſtelle an ihm zu vertreten. Es ähnelt den Felswänden und Steinen derart, daß auch das
ſchärfſte Falkenauge nicht im Stande iſt, ein auf den Boden gedrücktes Steinböckchen wahrzunehmen,
oder vom Felſen zu unterſcheiden. Jch ſelbſt weiß aus eigener Erfahrung, wie unglaublich ſchwer es
hält, lagernde Steinböcke aufzuheben; denn ich habe oft ſtundenlang mit einem ſehr ſcharfen Fern-
rohte die Halden und Felswände des Sinai abgeſucht, ohne die Thiere wahrzunehmen, welche die
Beduinen als ſtändige Bewohner ſolcher Stellen wußten, und unter Umſtänden auch mit ihren köſt-
lichen Augen auffanden. Sobald die Gefahr vorüber iſt, findet die gerettete Mutter ſicher den Weg
zu ihrem Kinde wieder; bleibt ſie aber zu lange aus, ſo kommt das Steinzicklein aus ſeinem Schlupf-
winkel hervor, ruft nach der Alten und verbirgt ſich dann ſchnell wieder. Wird die Mutter verwun-
det oder getödtet, ſo flieht es anfangs furchtſam und entſetzt, kehrt aber bald und immer wieder um
und hält lange und feſt an der Gegend, wo es ſeine treue Beſchützerin verloren, traurigen Herzens
ſein Leben friſtend.

Eigenthümlich iſt es, daß ein junger Steinbock, wenn ſeine verwundete Mutter zu ihm zurück-
kommt, zwar freudig auf dieſelbe zuläuft, aber, ſobald er den Geruch des Blutes wahrnimmt,
ängſtlich von ihr flieht und durch keine Liebkoſungen der Alten zu bewegen iſt, wieder zu ihr zurück-
zukehren. Es iſt Dies eine Wahrnehmung, welche man auch bei anderen Wiederkäuern gemacht hat.

Bei Gefahr vertheidigt die Steinbockziege ihr Junges nach beſten Kräften. Der berühmte
Steinbockjäger Fournier aus dem Wallis ſah einmal ſechs Steinziegen mit ihren Jungen weiden.
Als ein Adler über ihnen kreiſte, ſammelten die Ziegen ſich mit den Jungen unter einem überragen-
den Felsblocke und richteten die Hörner nach dem Raubvogel, ſich je nachdem der Schatten des
Adlers auf dem Boden deſſen Stellung bezeichnete, nach den bedrohten Seiten zu wendend. Der
Jäger beobachtete lange dieſen anziehenden Kampf und verſcheuchte zuletzt den Adler.

Nächſt dem Steinadler ſind Wolf und Fuchs, und vielleicht noch der Lämmergeier, ge-
fährliche Feinde des Steinwildes, wenn auch ſie alle den älteren Steinböcken nicht viel anhaben
mögen. Ohne den Menſchen, dieſen Erzfeind der Thiere, würden die Steinböcke wahrſcheinlich
noch in großer Anzahl auf den Alpen zu finden ſein. Die Steinbocksjagd zieht nicht blos ihres Ge-
winnes wegen, ſondern ihrer ungeheueren Schwierigkeiten halber den Menſchen mächtig an. Es iſt
eine der gefährlichſten und beſchwerlichſten Vergnügungen, welche es geben kann. Gegenwärtig be-
treiben ſie auch nur Raubſchützen oder Naturforſcher, erſtere, um einen guten Gewinn zu erzielen,
letztere aus leicht erklärlichen Urſachen. Der Auguſt und September, wo der Steinbock am fetteſten

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[572/0602] Die Ziegen. — Der Alpenſteinbock. dabei auf die Hinterbeine und verſuchen den Stoß ſeitwärts zu richten. Von dem Zuſammenprallen der Hörner hört man es im Gebirge wiederdröhnen. An ſteilen Gehängen mögen dieſe Kämpfe oft gefährlich werden, und ſicherlich wird mancher liebesbrünſtige Bock ſein junges Leben laſſen müſſen, wenn er, von Liebesgluth entzündet, mit dem Unrechten in Kampf und Streit ſich einließ. Die Ziege gibt ſich ohne weiteres dem Sieger preis. Fünf Monate nach der Begattung, meiſt in der letzten Woche des Juni oder im Anfange des Juli, wirft ſie ein Junges, an Größe etwa einem neugeborenen Zicklein gleich, leckt das neu Geborene trocken und läuft dann luſtig mit ihm davon. Dieſes iſt ein kleines, höchſt niedliches, munteres und, wie Schinz ſagt, „ſchmeichelhaftes‟ Ge- ſchöpf. Es kommt mit ſeinem erſten wolligen Haar bedeckt zur Welt und kleidet ſich erſt vom Herbſt an in ein aus ſteiferen, langen Grannen beſtehendes Gewand um. Bereits wenige Stunden nach der Geburt iſt der Guckindiewelt faſt ein ebenſo kühner Bergſteiger, als ſeine Mutter. Dieſe liebt ihn außerordentlich, leckt ihn rein, leitet ihn, meckert ihm freundlich zu, ruft ihn an ſich, hält ſich, ſo lange ſie ihn ſäugt, mit ihm in Felſenhöhlen verborgen und verläßt ihn nie, außer wenn der tückiſche Menſch ihr gar zu gefährlich ſcheint und ſie das eigene Leben retten muß, ohne welches auch das ihres Kindes verloren ſein würde. Bei drohender Gefahr eilt ſie an fürchterlichen Gehängen hin und ſucht in dem wüſten Geklüft ihre Rettung. Das Zicklein aber verbirgt ſich äußerſt geſchickt hin- ter Steinen und in Felſenlöchern, liegt dort mäuschenſtill und ohne ſich zu rühren, und äugt und lauſcht und wittert ſcharf nach allen Seiten hin. Sein graues Haarkleid iſt ganz geeignet, einſtweilen Mutterſtelle an ihm zu vertreten. Es ähnelt den Felswänden und Steinen derart, daß auch das ſchärfſte Falkenauge nicht im Stande iſt, ein auf den Boden gedrücktes Steinböckchen wahrzunehmen, oder vom Felſen zu unterſcheiden. Jch ſelbſt weiß aus eigener Erfahrung, wie unglaublich ſchwer es hält, lagernde Steinböcke aufzuheben; denn ich habe oft ſtundenlang mit einem ſehr ſcharfen Fern- rohte die Halden und Felswände des Sinai abgeſucht, ohne die Thiere wahrzunehmen, welche die Beduinen als ſtändige Bewohner ſolcher Stellen wußten, und unter Umſtänden auch mit ihren köſt- lichen Augen auffanden. Sobald die Gefahr vorüber iſt, findet die gerettete Mutter ſicher den Weg zu ihrem Kinde wieder; bleibt ſie aber zu lange aus, ſo kommt das Steinzicklein aus ſeinem Schlupf- winkel hervor, ruft nach der Alten und verbirgt ſich dann ſchnell wieder. Wird die Mutter verwun- det oder getödtet, ſo flieht es anfangs furchtſam und entſetzt, kehrt aber bald und immer wieder um und hält lange und feſt an der Gegend, wo es ſeine treue Beſchützerin verloren, traurigen Herzens ſein Leben friſtend. Eigenthümlich iſt es, daß ein junger Steinbock, wenn ſeine verwundete Mutter zu ihm zurück- kommt, zwar freudig auf dieſelbe zuläuft, aber, ſobald er den Geruch des Blutes wahrnimmt, ängſtlich von ihr flieht und durch keine Liebkoſungen der Alten zu bewegen iſt, wieder zu ihr zurück- zukehren. Es iſt Dies eine Wahrnehmung, welche man auch bei anderen Wiederkäuern gemacht hat. Bei Gefahr vertheidigt die Steinbockziege ihr Junges nach beſten Kräften. Der berühmte Steinbockjäger Fournier aus dem Wallis ſah einmal ſechs Steinziegen mit ihren Jungen weiden. Als ein Adler über ihnen kreiſte, ſammelten die Ziegen ſich mit den Jungen unter einem überragen- den Felsblocke und richteten die Hörner nach dem Raubvogel, ſich je nachdem der Schatten des Adlers auf dem Boden deſſen Stellung bezeichnete, nach den bedrohten Seiten zu wendend. Der Jäger beobachtete lange dieſen anziehenden Kampf und verſcheuchte zuletzt den Adler. Nächſt dem Steinadler ſind Wolf und Fuchs, und vielleicht noch der Lämmergeier, ge- fährliche Feinde des Steinwildes, wenn auch ſie alle den älteren Steinböcken nicht viel anhaben mögen. Ohne den Menſchen, dieſen Erzfeind der Thiere, würden die Steinböcke wahrſcheinlich noch in großer Anzahl auf den Alpen zu finden ſein. Die Steinbocksjagd zieht nicht blos ihres Ge- winnes wegen, ſondern ihrer ungeheueren Schwierigkeiten halber den Menſchen mächtig an. Es iſt eine der gefährlichſten und beſchwerlichſten Vergnügungen, welche es geben kann. Gegenwärtig be- treiben ſie auch nur Raubſchützen oder Naturforſcher, erſtere, um einen guten Gewinn zu erzielen, letztere aus leicht erklärlichen Urſachen. Der Auguſt und September, wo der Steinbock am fetteſten

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 572. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/602>, abgerufen am 27.11.2024.