den Säugethieren stellen ihnen Luchs, Wolf und Bär nach. Jm Engadin geschah es, daß ein Bär einer Gemse bis in das Dorf nachlief, wo sie sich dann in einen Holzschuppen rettete. Zur Winterszeit lauert in den einsamen Wäldern der heimtückische Luchs ihnen auf, und auch der rüstige Wolf weiß, wenn sie aus ihren Höhen herabgetrieben werden müssen, eine und die andere zu berücken. Viel schlimmere Feinde aber wohnen in den Lüften. Der Adler und Lämmergeier erspähen die ruhig weidenden Gemsen und stürzen wie ein Blitz aus heiterem Himmel hernieder auf die erschreckte Herde. Jene ergreifen, noch ehe die Mutter es abwehren kann, einige Zicklein; diese stürzen selbst alte Gemsen, wenn sie unbesorgt am Abgrunde weiden, in die furchtbare Tiefe. Allein immer noch ist der Mensch der Gemsen schlimmster Feind. Er folgt der flüchtigen Antilope bis in die höchsten Höhen und bis in die verborgensten Schluchten. Er geht ihr auf den gefährlichsten Pfaden nach und findet das größte Vergnügen darin, das tödtliche Blei der Armen durch das Herz zu jagen. Wenn man ältere Berichte liest, ergibt sich aus Allem, daß die Gemsen bei weitem häufiger waren. Die Berggeister hatten damals noch Macht über ihre Herden und konnten mit ihrer Götterhand die verfolgten Thiere schützen. Seit aber das Feuergewehr die Armbrust vertritt, hat ihre Gewalt ge- endet und die Herden haben sich mehr und mehr verringert.
Von jeher galt die Gemsenjagd als ein Vergnügen, würdig des besten Mannes. Marimi- lian, der große Kaiser Deutschlands, kletterte mit Lust den gewandten Alpenkindern nach, kletterte ihnen selbst nach in Höhen, wo es, wie die Sage so lieblich berichtet, eines Wunders bedurfte, um ihn wieder herab in die menschenfreundliche Tiefe zu führen. Nach ihm gab es nur wenige deutsche Fürsten, welche die Gemsenjagd mit gleicher Leidenschaft betrieben. Dann übten sie die Erzbischöfe aus und erließen Gesetze zur Hegung und Pflege des bereits seltener werdenden Wildes. Zur Zeit des Bezoar- aberglaubens wurde ihm freilich unbarmherzig nachgestellt. Dann trat gewissermaßen ein Stillstand von fast hundert Jahren ein. Unter den Großen der Erde griff erst der Erzherzog Johann von Oesterreich wieder zur Büchse; ihm folgten die Könige Bayerns und einige der deutschen Herzöge. Gegenwärtig ist die Jagd ein fürstliches Vergnügen geworden. Der Kaiser von Oesterreich jagt hauptsächlich im Salzkammergute, einem überaus gemsenreichen Gebiete, in welchem die allerumfas- sendsten Vorkehrungen getroffen worden sind, um dem Wildfrevel nachdrücklich zu steuern und die Gemsen vertraut zu machen. Nur aus des Kaisers Büchse fällt dort auf den Alpenhöhen ein Schuß; allen übrigen Jägern, auch den zünftigen, ist die Jagd bei des Kaisers Ungnade verboten. Ja, die Hegung erstreckt sich nicht nur auf das Salzkammergut, sondern auch über alle angrenzenden Alpenketten, welche gleichsam als Vorrathsorte für die Jagdplätze betrachtet werden.
Die Gemsenjagd ist kein Sonntagsvergnügen, sondern erfordert zähe, genügsame, wetterfeste Leute, welche ebenso mit dem Gebirge, als mit der Lebensweise der Thiere vertraut sein müssen. "Der Jäger," sagt Tschudi, "bedarf eines scharfen Gesichts, eines schwindelfreien Kopfes, eines festen, abgehärteten Körpers, der die Rauhheit des Eisgürtels wohl zu ertragen vermag, eines kühnen und dabei doch äußerst kühlen Muthes, eines umsichtigen, schnell berechnenden Ver- standes und zudem einer guten Lunge und ausdauernden Muskelkraft. Er muß nicht nur ein vortrefflicher Schütze, sondern ebensosehr ein vorzüglicher Kletterer sein, besser, als die verwegenste Ziege. Denn es gibt oft gar sonderbare Lagen für den Gemsenjäger, Stellungen, wo er jedes Glied seines Körpers außerordentlich anstrengen, wo er die Ellenbogen, die Zähne, den Rücken, das Knie, die Schultern, jede Muskel des Körpers als Hebel und Klammer benutzen muß, um sich zu schieben, zu wenden, zu halten, zu drängen."
Die Jäger rüsten sich, wie genannter Forscher weiter berichtet, zumeist mit einer warmen, grauen Kleidung, einem stark beschlagenen Alpenstock mit Hacken, einer Jagdtasche mit Pulver, Blei, Brod, Butter und Käse und einer Flasche Kirschgeist, auch wohl mit etwas geröstetem und gesal- zeuem Mehl aus. Tüchtige Bergschuhe, welche überall festen Fuß fassen, selbst auf dem spiegel- glatten Eise einschneiden, und eine vortreffliche Büchse sind Haupterfordernisse. Manche Jäger
Die Gemſe.
den Säugethieren ſtellen ihnen Luchs, Wolf und Bär nach. Jm Engadin geſchah es, daß ein Bär einer Gemſe bis in das Dorf nachlief, wo ſie ſich dann in einen Holzſchuppen rettete. Zur Winterszeit lauert in den einſamen Wäldern der heimtückiſche Luchs ihnen auf, und auch der rüſtige Wolf weiß, wenn ſie aus ihren Höhen herabgetrieben werden müſſen, eine und die andere zu berücken. Viel ſchlimmere Feinde aber wohnen in den Lüften. Der Adler und Lämmergeier erſpähen die ruhig weidenden Gemſen und ſtürzen wie ein Blitz aus heiterem Himmel hernieder auf die erſchreckte Herde. Jene ergreifen, noch ehe die Mutter es abwehren kann, einige Zicklein; dieſe ſtürzen ſelbſt alte Gemſen, wenn ſie unbeſorgt am Abgrunde weiden, in die furchtbare Tiefe. Allein immer noch iſt der Menſch der Gemſen ſchlimmſter Feind. Er folgt der flüchtigen Antilope bis in die höchſten Höhen und bis in die verborgenſten Schluchten. Er geht ihr auf den gefährlichſten Pfaden nach und findet das größte Vergnügen darin, das tödtliche Blei der Armen durch das Herz zu jagen. Wenn man ältere Berichte lieſt, ergibt ſich aus Allem, daß die Gemſen bei weitem häufiger waren. Die Berggeiſter hatten damals noch Macht über ihre Herden und konnten mit ihrer Götterhand die verfolgten Thiere ſchützen. Seit aber das Feuergewehr die Armbruſt vertritt, hat ihre Gewalt ge- endet und die Herden haben ſich mehr und mehr verringert.
Von jeher galt die Gemſenjagd als ein Vergnügen, würdig des beſten Mannes. Marimi- lian, der große Kaiſer Deutſchlands, kletterte mit Luſt den gewandten Alpenkindern nach, kletterte ihnen ſelbſt nach in Höhen, wo es, wie die Sage ſo lieblich berichtet, eines Wunders bedurfte, um ihn wieder herab in die menſchenfreundliche Tiefe zu führen. Nach ihm gab es nur wenige deutſche Fürſten, welche die Gemſenjagd mit gleicher Leidenſchaft betrieben. Dann übten ſie die Erzbiſchöfe aus und erließen Geſetze zur Hegung und Pflege des bereits ſeltener werdenden Wildes. Zur Zeit des Bezoar- aberglaubens wurde ihm freilich unbarmherzig nachgeſtellt. Dann trat gewiſſermaßen ein Stillſtand von faſt hundert Jahren ein. Unter den Großen der Erde griff erſt der Erzherzog Johann von Oeſterreich wieder zur Büchſe; ihm folgten die Könige Bayerns und einige der deutſchen Herzöge. Gegenwärtig iſt die Jagd ein fürſtliches Vergnügen geworden. Der Kaiſer von Oeſterreich jagt hauptſächlich im Salzkammergute, einem überaus gemſenreichen Gebiete, in welchem die allerumfaſ- ſendſten Vorkehrungen getroffen worden ſind, um dem Wildfrevel nachdrücklich zu ſteuern und die Gemſen vertraut zu machen. Nur aus des Kaiſers Büchſe fällt dort auf den Alpenhöhen ein Schuß; allen übrigen Jägern, auch den zünftigen, iſt die Jagd bei des Kaiſers Ungnade verboten. Ja, die Hegung erſtreckt ſich nicht nur auf das Salzkammergut, ſondern auch über alle angrenzenden Alpenketten, welche gleichſam als Vorrathsorte für die Jagdplätze betrachtet werden.
Die Gemſenjagd iſt kein Sonntagsvergnügen, ſondern erfordert zähe, genügſame, wetterfeſte Leute, welche ebenſo mit dem Gebirge, als mit der Lebensweiſe der Thiere vertraut ſein müſſen. „Der Jäger,‟ ſagt Tſchudi, „bedarf eines ſcharfen Geſichts, eines ſchwindelfreien Kopfes, eines feſten, abgehärteten Körpers, der die Rauhheit des Eisgürtels wohl zu ertragen vermag, eines kühnen und dabei doch äußerſt kühlen Muthes, eines umſichtigen, ſchnell berechnenden Ver- ſtandes und zudem einer guten Lunge und ausdauernden Muskelkraft. Er muß nicht nur ein vortrefflicher Schütze, ſondern ebenſoſehr ein vorzüglicher Kletterer ſein, beſſer, als die verwegenſte Ziege. Denn es gibt oft gar ſonderbare Lagen für den Gemſenjäger, Stellungen, wo er jedes Glied ſeines Körpers außerordentlich anſtrengen, wo er die Ellenbogen, die Zähne, den Rücken, das Knie, die Schultern, jede Muskel des Körpers als Hebel und Klammer benutzen muß, um ſich zu ſchieben, zu wenden, zu halten, zu drängen.‟
Die Jäger rüſten ſich, wie genannter Forſcher weiter berichtet, zumeiſt mit einer warmen, grauen Kleidung, einem ſtark beſchlagenen Alpenſtock mit Hacken, einer Jagdtaſche mit Pulver, Blei, Brod, Butter und Käſe und einer Flaſche Kirſchgeiſt, auch wohl mit etwas geröſtetem und geſal- zeuem Mehl aus. Tüchtige Bergſchuhe, welche überall feſten Fuß faſſen, ſelbſt auf dem ſpiegel- glatten Eiſe einſchneiden, und eine vortreffliche Büchſe ſind Haupterforderniſſe. Manche Jäger
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[533/0563]
Die Gemſe.
den Säugethieren ſtellen ihnen Luchs, Wolf und Bär nach. Jm Engadin geſchah es, daß ein
Bär einer Gemſe bis in das Dorf nachlief, wo ſie ſich dann in einen Holzſchuppen rettete. Zur
Winterszeit lauert in den einſamen Wäldern der heimtückiſche Luchs ihnen auf, und auch der rüſtige
Wolf weiß, wenn ſie aus ihren Höhen herabgetrieben werden müſſen, eine und die andere zu berücken.
Viel ſchlimmere Feinde aber wohnen in den Lüften. Der Adler und Lämmergeier erſpähen die
ruhig weidenden Gemſen und ſtürzen wie ein Blitz aus heiterem Himmel hernieder auf die erſchreckte
Herde. Jene ergreifen, noch ehe die Mutter es abwehren kann, einige Zicklein; dieſe ſtürzen ſelbſt
alte Gemſen, wenn ſie unbeſorgt am Abgrunde weiden, in die furchtbare Tiefe. Allein immer noch
iſt der Menſch der Gemſen ſchlimmſter Feind. Er folgt der flüchtigen Antilope bis in die höchſten
Höhen und bis in die verborgenſten Schluchten. Er geht ihr auf den gefährlichſten Pfaden nach
und findet das größte Vergnügen darin, das tödtliche Blei der Armen durch das Herz zu jagen.
Wenn man ältere Berichte lieſt, ergibt ſich aus Allem, daß die Gemſen bei weitem häufiger waren.
Die Berggeiſter hatten damals noch Macht über ihre Herden und konnten mit ihrer Götterhand die
verfolgten Thiere ſchützen. Seit aber das Feuergewehr die Armbruſt vertritt, hat ihre Gewalt ge-
endet und die Herden haben ſich mehr und mehr verringert.
Von jeher galt die Gemſenjagd als ein Vergnügen, würdig des beſten Mannes. Marimi-
lian, der große Kaiſer Deutſchlands, kletterte mit Luſt den gewandten Alpenkindern nach, kletterte
ihnen ſelbſt nach in Höhen, wo es, wie die Sage ſo lieblich berichtet, eines Wunders bedurfte, um ihn
wieder herab in die menſchenfreundliche Tiefe zu führen. Nach ihm gab es nur wenige deutſche Fürſten,
welche die Gemſenjagd mit gleicher Leidenſchaft betrieben. Dann übten ſie die Erzbiſchöfe aus und
erließen Geſetze zur Hegung und Pflege des bereits ſeltener werdenden Wildes. Zur Zeit des Bezoar-
aberglaubens wurde ihm freilich unbarmherzig nachgeſtellt. Dann trat gewiſſermaßen ein Stillſtand
von faſt hundert Jahren ein. Unter den Großen der Erde griff erſt der Erzherzog Johann von
Oeſterreich wieder zur Büchſe; ihm folgten die Könige Bayerns und einige der deutſchen Herzöge.
Gegenwärtig iſt die Jagd ein fürſtliches Vergnügen geworden. Der Kaiſer von Oeſterreich jagt
hauptſächlich im Salzkammergute, einem überaus gemſenreichen Gebiete, in welchem die allerumfaſ-
ſendſten Vorkehrungen getroffen worden ſind, um dem Wildfrevel nachdrücklich zu ſteuern und die
Gemſen vertraut zu machen. Nur aus des Kaiſers Büchſe fällt dort auf den Alpenhöhen ein Schuß;
allen übrigen Jägern, auch den zünftigen, iſt die Jagd bei des Kaiſers Ungnade verboten. Ja,
die Hegung erſtreckt ſich nicht nur auf das Salzkammergut, ſondern auch über alle angrenzenden
Alpenketten, welche gleichſam als Vorrathsorte für die Jagdplätze betrachtet werden.
Die Gemſenjagd iſt kein Sonntagsvergnügen, ſondern erfordert zähe, genügſame, wetterfeſte
Leute, welche ebenſo mit dem Gebirge, als mit der Lebensweiſe der Thiere vertraut ſein müſſen.
„Der Jäger,‟ ſagt Tſchudi, „bedarf eines ſcharfen Geſichts, eines ſchwindelfreien Kopfes, eines
feſten, abgehärteten Körpers, der die Rauhheit des Eisgürtels wohl zu ertragen vermag, eines
kühnen und dabei doch äußerſt kühlen Muthes, eines umſichtigen, ſchnell berechnenden Ver-
ſtandes und zudem einer guten Lunge und ausdauernden Muskelkraft. Er muß nicht nur ein
vortrefflicher Schütze, ſondern ebenſoſehr ein vorzüglicher Kletterer ſein, beſſer, als die verwegenſte
Ziege. Denn es gibt oft gar ſonderbare Lagen für den Gemſenjäger, Stellungen, wo er jedes
Glied ſeines Körpers außerordentlich anſtrengen, wo er die Ellenbogen, die Zähne, den Rücken,
das Knie, die Schultern, jede Muskel des Körpers als Hebel und Klammer benutzen muß, um ſich
zu ſchieben, zu wenden, zu halten, zu drängen.‟
Die Jäger rüſten ſich, wie genannter Forſcher weiter berichtet, zumeiſt mit einer warmen,
grauen Kleidung, einem ſtark beſchlagenen Alpenſtock mit Hacken, einer Jagdtaſche mit Pulver, Blei,
Brod, Butter und Käſe und einer Flaſche Kirſchgeiſt, auch wohl mit etwas geröſtetem und geſal-
zeuem Mehl aus. Tüchtige Bergſchuhe, welche überall feſten Fuß faſſen, ſelbſt auf dem ſpiegel-
glatten Eiſe einſchneiden, und eine vortreffliche Büchſe ſind Haupterforderniſſe. Manche Jäger
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 533. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/563>, abgerufen am 16.07.2024.
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