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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Die Antilopen. -- Die Gazelle.

Die Gazellen (Gazella) sind schlanke, höchst anmuthige Antilopen mit geringelten leierför-
migen Hörnern, Thränengruben, Leistenbälgen, langen, spitzen Ohren, kleinen Afterklauen und
zwei Zitzen. Jhr Schwanz ist kurz und an der Spitze bequastet; anderweitige Haarbüschel stehen nur
an der Handwurzel. Beide Geschlechter sind gehörnt. Unglaubliche Anmuth, große Heiterkeit, eine
wahrhaft wunderbare Beweglichkeit sind Vorzüge dieser Thiere anderen Antilopen gegenüber; denn
nur noch wenige Gruppen der Familie besitzen dieselben Gaben in derselben glücklichen Vereinigung.

Eine Gazelle in der Wüste ist ein herrliches, dichterisches Bild. Deshalb ist es kein Wunder,
daß schon seit alten Zeiten die morgenländischen Dichter mit aller Glut ihrer Seele das liebliche We-
sen besungen haben. Selbst der Fremdling aus den Ländern des Abends, welcher die Gazelle in ihrer
Freiheit sieht, muß es verstehen, warum sie gerade den Morgenländern als ein so hoch befreundetes
Wesen erscheint; denn auch über ihn kommt ein Hauch jener Glut, welche zu den feurigsten Loblie-
dern dieses Thieres die Worte läuterte und die Reime flüssig werden ließ. Das Auge, dessen Tiefe
das Herz des Wüstensohns erglühen und erblühen macht, vergleicht er mit jenem der Gazelle; den
schlanken weißen Hals, um den sich seine Arme ketten in trauter Liebesstunde, weiß er nicht schmücken-
der zu bezeichnen, als wenn er ihn dem Halse jenes Thieres gleichstellt: und selbst der Fromme findet
nur in der zierlichen Tochter der Wüste ein sinnlich wahrnehmbares Bild, um des Herzens Sehnsucht
nach dem Erhabenen verständlich zu machen. Die Gazelle bleibt auch dann noch im Herzen, wenn sie
dem Auge entschwindet. Sie übt einen Zauber aus auf Jedermann und beweist so recht verständlich,
wie groß die Gewalt der Schönheit ist. Dieser Schönheit und Anmuth halber weihten sie die alten
Egypter ihrer erhabenen Gottheit Jsis und opferten die Kälber der Götterkönigin. Jhre Schönheit
ist es, welche dem Dichter des hohen Liedes zum Bilde dienen muß; denn sie ist "das Reh" und "der
junge Hirsch", mit denen der Freund verglichen wird; sie ist das Reh oder die Hindin des Feldes, bei
denen die Töchter Jerusalems beschworen werden. Für die schönsten Reize des Weibes nach morgen-
ländischen Begriffen hat jener Dichter nur den einen Vergleich: sie sind ihm "wie zwei junge Reh-
zwillinge, die unter den Rosen weiden." Die arabischen Dichter aller Zeiten und die heutigen auch
noch finden gar nicht Worte, die Gazelle gehörig zu schildern. Die ältesten Werke dieses Volkes prei-
sen sie und die Minnesänger auf den Straßen rühmen noch heutigen Tages ihre Schönheit.

Die Gazelle (Gazella Dorcas) erreicht nicht ganz die Größe unseres Rehes, ist aber viel zar-
ter und schlanker gebaut, als dieses und auch schöner gezeichnet. Alte Böcke messen 31/2 Fuß, mit
dem Schwanze vier Fuß in der Länge und sind am Widerrist über zwei Fuß hoch. Der Körper ist
gedrungen, erscheint aber der hohen Läufe wegen schmächtig; der Rücken ist schwach gewölbt, am
Kreuz höher gestellt als am Widerrist; der Schwanz ist kurz, an der Spitze stark behaart. Die
Beine sind außerordentlich zart, schlank und höchst zierlich behuft. Auf dem gestreckten Halse sitzt der
mittellange Kopf, welcher hinten breit und hoch, nach vorn verschmälert, und an der Schnauze
schwach gerundet ist; die Ohren haben etwa dreiviertel der Kopfeslänge; die Augen sind groß, feurig
und lebhaft, und haben einen fast runden Stern; die Thränengruben sind von mittler Größe. Das
Gehörn ist nach dem Geschlecht ziemlich verschieden. Der Bock trägt immer stärkere Hörner als die
Ricke, und die Wachsthumsringe sind dort stets mehr ausgeprägt als hier. Bei beiden sind die Hör-
ner auf- und rückwärts gerichtet, wenden sich aber mit den Spitzen wieder nach vorn und etwas
gegen einander, so daß sie von vorn betrachtet, an die Leier der Alten erinnern. Mit zunehmendem
Alter rücken die sogenannten Wachsthumsringe immer weiter nach der Spitze zu; bei recht alten
Böcken erreichen sie dieselbe, wahrscheinlich, weil sie durch Abnutzung kürzer wird, bis auf einen
halben Zoll. Uebrigens stehen die Wachsthumsringe nur bedingt in einem geraden Verhältnisse mit
dem Alter des Thieres: ein im Haus erzogener, fünfvierteljähriger Bock, welchen ich untersuchte,
zeigte bereits fünf Ringe auf seinen noch sehr kurzen Hörnchen.

Aeußerst schmuck ist das Kleid der Gazelle. Die vorherrschende Färbung ist ein sandfarbiges,
prächtiges Gelb, welches aber gegen den Rücken hin und auf den Läufen in ein mehr oder weniger

Die Antilopen. — Die Gazelle.

Die Gazellen (Gazella) ſind ſchlanke, höchſt anmuthige Antilopen mit geringelten leierför-
migen Hörnern, Thränengruben, Leiſtenbälgen, langen, ſpitzen Ohren, kleinen Afterklauen und
zwei Zitzen. Jhr Schwanz iſt kurz und an der Spitze bequaſtet; anderweitige Haarbüſchel ſtehen nur
an der Handwurzel. Beide Geſchlechter ſind gehörnt. Unglaubliche Anmuth, große Heiterkeit, eine
wahrhaft wunderbare Beweglichkeit ſind Vorzüge dieſer Thiere anderen Antilopen gegenüber; denn
nur noch wenige Gruppen der Familie beſitzen dieſelben Gaben in derſelben glücklichen Vereinigung.

Eine Gazelle in der Wüſte iſt ein herrliches, dichteriſches Bild. Deshalb iſt es kein Wunder,
daß ſchon ſeit alten Zeiten die morgenländiſchen Dichter mit aller Glut ihrer Seele das liebliche We-
ſen beſungen haben. Selbſt der Fremdling aus den Ländern des Abends, welcher die Gazelle in ihrer
Freiheit ſieht, muß es verſtehen, warum ſie gerade den Morgenländern als ein ſo hoch befreundetes
Weſen erſcheint; denn auch über ihn kommt ein Hauch jener Glut, welche zu den feurigſten Loblie-
dern dieſes Thieres die Worte läuterte und die Reime flüſſig werden ließ. Das Auge, deſſen Tiefe
das Herz des Wüſtenſohns erglühen und erblühen macht, vergleicht er mit jenem der Gazelle; den
ſchlanken weißen Hals, um den ſich ſeine Arme ketten in trauter Liebesſtunde, weiß er nicht ſchmücken-
der zu bezeichnen, als wenn er ihn dem Halſe jenes Thieres gleichſtellt: und ſelbſt der Fromme findet
nur in der zierlichen Tochter der Wüſte ein ſinnlich wahrnehmbares Bild, um des Herzens Sehnſucht
nach dem Erhabenen verſtändlich zu machen. Die Gazelle bleibt auch dann noch im Herzen, wenn ſie
dem Auge entſchwindet. Sie übt einen Zauber aus auf Jedermann und beweiſt ſo recht verſtändlich,
wie groß die Gewalt der Schönheit iſt. Dieſer Schönheit und Anmuth halber weihten ſie die alten
Egypter ihrer erhabenen Gottheit Jſis und opferten die Kälber der Götterkönigin. Jhre Schönheit
iſt es, welche dem Dichter des hohen Liedes zum Bilde dienen muß; denn ſie iſt „das Reh‟ und „der
junge Hirſch‟, mit denen der Freund verglichen wird; ſie iſt das Reh oder die Hindin des Feldes, bei
denen die Töchter Jeruſalems beſchworen werden. Für die ſchönſten Reize des Weibes nach morgen-
ländiſchen Begriffen hat jener Dichter nur den einen Vergleich: ſie ſind ihm „wie zwei junge Reh-
zwillinge, die unter den Roſen weiden.‟ Die arabiſchen Dichter aller Zeiten und die heutigen auch
noch finden gar nicht Worte, die Gazelle gehörig zu ſchildern. Die älteſten Werke dieſes Volkes prei-
ſen ſie und die Minneſänger auf den Straßen rühmen noch heutigen Tages ihre Schönheit.

Die Gazelle (Gazella Dorcas) erreicht nicht ganz die Größe unſeres Rehes, iſt aber viel zar-
ter und ſchlanker gebaut, als dieſes und auch ſchöner gezeichnet. Alte Böcke meſſen 3½ Fuß, mit
dem Schwanze vier Fuß in der Länge und ſind am Widerriſt über zwei Fuß hoch. Der Körper iſt
gedrungen, erſcheint aber der hohen Läufe wegen ſchmächtig; der Rücken iſt ſchwach gewölbt, am
Kreuz höher geſtellt als am Widerriſt; der Schwanz iſt kurz, an der Spitze ſtark behaart. Die
Beine ſind außerordentlich zart, ſchlank und höchſt zierlich behuft. Auf dem geſtreckten Halſe ſitzt der
mittellange Kopf, welcher hinten breit und hoch, nach vorn verſchmälert, und an der Schnauze
ſchwach gerundet iſt; die Ohren haben etwa dreiviertel der Kopfeslänge; die Augen ſind groß, feurig
und lebhaft, und haben einen faſt runden Stern; die Thränengruben ſind von mittler Größe. Das
Gehörn iſt nach dem Geſchlecht ziemlich verſchieden. Der Bock trägt immer ſtärkere Hörner als die
Ricke, und die Wachsthumsringe ſind dort ſtets mehr ausgeprägt als hier. Bei beiden ſind die Hör-
ner auf- und rückwärts gerichtet, wenden ſich aber mit den Spitzen wieder nach vorn und etwas
gegen einander, ſo daß ſie von vorn betrachtet, an die Leier der Alten erinnern. Mit zunehmendem
Alter rücken die ſogenannten Wachsthumsringe immer weiter nach der Spitze zu; bei recht alten
Böcken erreichen ſie dieſelbe, wahrſcheinlich, weil ſie durch Abnutzung kürzer wird, bis auf einen
halben Zoll. Uebrigens ſtehen die Wachsthumsringe nur bedingt in einem geraden Verhältniſſe mit
dem Alter des Thieres: ein im Haus erzogener, fünfvierteljähriger Bock, welchen ich unterſuchte,
zeigte bereits fünf Ringe auf ſeinen noch ſehr kurzen Hörnchen.

Aeußerſt ſchmuck iſt das Kleid der Gazelle. Die vorherrſchende Färbung iſt ein ſandfarbiges,
prächtiges Gelb, welches aber gegen den Rücken hin und auf den Läufen in ein mehr oder weniger

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[502/0530] Die Antilopen. — Die Gazelle. Die Gazellen (Gazella) ſind ſchlanke, höchſt anmuthige Antilopen mit geringelten leierför- migen Hörnern, Thränengruben, Leiſtenbälgen, langen, ſpitzen Ohren, kleinen Afterklauen und zwei Zitzen. Jhr Schwanz iſt kurz und an der Spitze bequaſtet; anderweitige Haarbüſchel ſtehen nur an der Handwurzel. Beide Geſchlechter ſind gehörnt. Unglaubliche Anmuth, große Heiterkeit, eine wahrhaft wunderbare Beweglichkeit ſind Vorzüge dieſer Thiere anderen Antilopen gegenüber; denn nur noch wenige Gruppen der Familie beſitzen dieſelben Gaben in derſelben glücklichen Vereinigung. Eine Gazelle in der Wüſte iſt ein herrliches, dichteriſches Bild. Deshalb iſt es kein Wunder, daß ſchon ſeit alten Zeiten die morgenländiſchen Dichter mit aller Glut ihrer Seele das liebliche We- ſen beſungen haben. Selbſt der Fremdling aus den Ländern des Abends, welcher die Gazelle in ihrer Freiheit ſieht, muß es verſtehen, warum ſie gerade den Morgenländern als ein ſo hoch befreundetes Weſen erſcheint; denn auch über ihn kommt ein Hauch jener Glut, welche zu den feurigſten Loblie- dern dieſes Thieres die Worte läuterte und die Reime flüſſig werden ließ. Das Auge, deſſen Tiefe das Herz des Wüſtenſohns erglühen und erblühen macht, vergleicht er mit jenem der Gazelle; den ſchlanken weißen Hals, um den ſich ſeine Arme ketten in trauter Liebesſtunde, weiß er nicht ſchmücken- der zu bezeichnen, als wenn er ihn dem Halſe jenes Thieres gleichſtellt: und ſelbſt der Fromme findet nur in der zierlichen Tochter der Wüſte ein ſinnlich wahrnehmbares Bild, um des Herzens Sehnſucht nach dem Erhabenen verſtändlich zu machen. Die Gazelle bleibt auch dann noch im Herzen, wenn ſie dem Auge entſchwindet. Sie übt einen Zauber aus auf Jedermann und beweiſt ſo recht verſtändlich, wie groß die Gewalt der Schönheit iſt. Dieſer Schönheit und Anmuth halber weihten ſie die alten Egypter ihrer erhabenen Gottheit Jſis und opferten die Kälber der Götterkönigin. Jhre Schönheit iſt es, welche dem Dichter des hohen Liedes zum Bilde dienen muß; denn ſie iſt „das Reh‟ und „der junge Hirſch‟, mit denen der Freund verglichen wird; ſie iſt das Reh oder die Hindin des Feldes, bei denen die Töchter Jeruſalems beſchworen werden. Für die ſchönſten Reize des Weibes nach morgen- ländiſchen Begriffen hat jener Dichter nur den einen Vergleich: ſie ſind ihm „wie zwei junge Reh- zwillinge, die unter den Roſen weiden.‟ Die arabiſchen Dichter aller Zeiten und die heutigen auch noch finden gar nicht Worte, die Gazelle gehörig zu ſchildern. Die älteſten Werke dieſes Volkes prei- ſen ſie und die Minneſänger auf den Straßen rühmen noch heutigen Tages ihre Schönheit. Die Gazelle (Gazella Dorcas) erreicht nicht ganz die Größe unſeres Rehes, iſt aber viel zar- ter und ſchlanker gebaut, als dieſes und auch ſchöner gezeichnet. Alte Böcke meſſen 3½ Fuß, mit dem Schwanze vier Fuß in der Länge und ſind am Widerriſt über zwei Fuß hoch. Der Körper iſt gedrungen, erſcheint aber der hohen Läufe wegen ſchmächtig; der Rücken iſt ſchwach gewölbt, am Kreuz höher geſtellt als am Widerriſt; der Schwanz iſt kurz, an der Spitze ſtark behaart. Die Beine ſind außerordentlich zart, ſchlank und höchſt zierlich behuft. Auf dem geſtreckten Halſe ſitzt der mittellange Kopf, welcher hinten breit und hoch, nach vorn verſchmälert, und an der Schnauze ſchwach gerundet iſt; die Ohren haben etwa dreiviertel der Kopfeslänge; die Augen ſind groß, feurig und lebhaft, und haben einen faſt runden Stern; die Thränengruben ſind von mittler Größe. Das Gehörn iſt nach dem Geſchlecht ziemlich verſchieden. Der Bock trägt immer ſtärkere Hörner als die Ricke, und die Wachsthumsringe ſind dort ſtets mehr ausgeprägt als hier. Bei beiden ſind die Hör- ner auf- und rückwärts gerichtet, wenden ſich aber mit den Spitzen wieder nach vorn und etwas gegen einander, ſo daß ſie von vorn betrachtet, an die Leier der Alten erinnern. Mit zunehmendem Alter rücken die ſogenannten Wachsthumsringe immer weiter nach der Spitze zu; bei recht alten Böcken erreichen ſie dieſelbe, wahrſcheinlich, weil ſie durch Abnutzung kürzer wird, bis auf einen halben Zoll. Uebrigens ſtehen die Wachsthumsringe nur bedingt in einem geraden Verhältniſſe mit dem Alter des Thieres: ein im Haus erzogener, fünfvierteljähriger Bock, welchen ich unterſuchte, zeigte bereits fünf Ringe auf ſeinen noch ſehr kurzen Hörnchen. Aeußerſt ſchmuck iſt das Kleid der Gazelle. Die vorherrſchende Färbung iſt ein ſandfarbiges, prächtiges Gelb, welches aber gegen den Rücken hin und auf den Läufen in ein mehr oder weniger

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 502. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/530>, abgerufen am 23.11.2024.