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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Die Girafe.
pflücken ihrer Nahrung; kein Einziger aber bedarf dieses Werkzeug so ausschließlich, wie die Girafe.
Was dem Elefanten der Rüssel ist, ist ihr die Zunge. Sie ist im Stande, die kleinsten Gegen-
stände damit aufzunehmen; sie ist fähig, das zarteste Blatt zu pflücken und in den Mund zu ziehen.
"Jn unserem Thiergarten," sagt Owen, "ist mehr als eine Dame beim Beschauen der Girafen von
diesen der künstlichen Blumen beraubt worden, welche ihre Hüte schmücken. Es scheint, daß die
Girafe weniger durch den Geruch, als durch das Auge in der Auswahl ihres Futters geleitet würde,
und so kommt es oft vor, daß das Thier sich betrügt, wie in den erwähnten Fällen, wo es mit
der gewandten Zunge die künstlichen Blumen ergriff und von den Hüten abriß." Jn der Freiheit
sind es hauptsächlich die Zweige, Knospen und Blätter der Mimosen, welche dem Thiere zur Nah-
rung dienen. Die Kameldorn- und "Warteinbischenmimose" bilden im Süden Afrikas den Haupt-
bestandtheil ihres Futters; im Norden Afrikas frißt sie die gewöhnlichen oder die Karratmimosen-
blätter und entlaubt besonders gern die Schlingpflanzen, welche in so reicher Fülle die Bäume der
[Abbildung] Die Girafe. (Zu Seite 491.)
Wälder in jenen Gegenden umhüllen. Bei frischer Nahrung kann sie, wie das Kamel, lange Zeit
des Wassers entbehren; in der trockenen Jahreszeit aber, wo die Bäume größtentheils ihres Blätter-
schmucks beraubt sind und die hohen, verdorrten Gräser ihr dürftige Kost bieten, geht sie oft mei-
lenweit nach den pfuhligen Wasserbecken oder zu den übrig gebliebenen Tümpeln der während der
Regenzeit fließenden Ströme herab, um sich zu tränken. Solche Orte sind es, an denen Freilig-
raths
schönes Gedicht zur Wahrheit werden kann. Das Wiederkäuen besorgt die Girafe stehend,
hauptsächlich aber des Nachts. Es scheint ihr übrigens nicht soviel Zeit zu kosten, wie Anderen ihrer
Ordnung.

Das geistige Wesen stellt die Girafe sehr hoch. Sie ist im Verhältniß zu ihrer Größe ein
höchst gutmüthiges, friedliches und sanftes Thier, welches nicht blos verträglich mit seines Gleichen,
sondern auch mit anderen Thieren lebt, solange diese ihr nicht beschwerlich oder gefährlich werden.
Jm Nothfall weiß sie sich recht gut zu vertheidigen, -- nicht mit ihren Hörnern, welche überhaupt blos
zum Staate zu dienen scheinen, sondern mit kräftigen Schlägen ihrer langen, sehnigen Füße. Jn

Die Girafe.
pflücken ihrer Nahrung; kein Einziger aber bedarf dieſes Werkzeug ſo ausſchließlich, wie die Girafe.
Was dem Elefanten der Rüſſel iſt, iſt ihr die Zunge. Sie iſt im Stande, die kleinſten Gegen-
ſtände damit aufzunehmen; ſie iſt fähig, das zarteſte Blatt zu pflücken und in den Mund zu ziehen.
„Jn unſerem Thiergarten,‟ ſagt Owen, „iſt mehr als eine Dame beim Beſchauen der Girafen von
dieſen der künſtlichen Blumen beraubt worden, welche ihre Hüte ſchmücken. Es ſcheint, daß die
Girafe weniger durch den Geruch, als durch das Auge in der Auswahl ihres Futters geleitet würde,
und ſo kommt es oft vor, daß das Thier ſich betrügt, wie in den erwähnten Fällen, wo es mit
der gewandten Zunge die künſtlichen Blumen ergriff und von den Hüten abriß.‟ Jn der Freiheit
ſind es hauptſächlich die Zweige, Knospen und Blätter der Mimoſen, welche dem Thiere zur Nah-
rung dienen. Die Kameldorn- und „Warteinbischenmimoſe‟ bilden im Süden Afrikas den Haupt-
beſtandtheil ihres Futters; im Norden Afrikas frißt ſie die gewöhnlichen oder die Karratmimoſen-
blätter und entlaubt beſonders gern die Schlingpflanzen, welche in ſo reicher Fülle die Bäume der
[Abbildung] Die Girafe. (Zu Seite 491.)
Wälder in jenen Gegenden umhüllen. Bei friſcher Nahrung kann ſie, wie das Kamel, lange Zeit
des Waſſers entbehren; in der trockenen Jahreszeit aber, wo die Bäume größtentheils ihres Blätter-
ſchmucks beraubt ſind und die hohen, verdorrten Gräſer ihr dürftige Koſt bieten, geht ſie oft mei-
lenweit nach den pfuhligen Waſſerbecken oder zu den übrig gebliebenen Tümpeln der während der
Regenzeit fließenden Ströme herab, um ſich zu tränken. Solche Orte ſind es, an denen Freilig-
raths
ſchönes Gedicht zur Wahrheit werden kann. Das Wiederkäuen beſorgt die Girafe ſtehend,
hauptſächlich aber des Nachts. Es ſcheint ihr übrigens nicht ſoviel Zeit zu koſten, wie Anderen ihrer
Ordnung.

Das geiſtige Weſen ſtellt die Girafe ſehr hoch. Sie iſt im Verhältniß zu ihrer Größe ein
höchſt gutmüthiges, friedliches und ſanftes Thier, welches nicht blos verträglich mit ſeines Gleichen,
ſondern auch mit anderen Thieren lebt, ſolange dieſe ihr nicht beſchwerlich oder gefährlich werden.
Jm Nothfall weiß ſie ſich recht gut zu vertheidigen, — nicht mit ihren Hörnern, welche überhaupt blos
zum Staate zu dienen ſcheinen, ſondern mit kräftigen Schlägen ihrer langen, ſehnigen Füße. Jn

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[492/0520] Die Girafe. pflücken ihrer Nahrung; kein Einziger aber bedarf dieſes Werkzeug ſo ausſchließlich, wie die Girafe. Was dem Elefanten der Rüſſel iſt, iſt ihr die Zunge. Sie iſt im Stande, die kleinſten Gegen- ſtände damit aufzunehmen; ſie iſt fähig, das zarteſte Blatt zu pflücken und in den Mund zu ziehen. „Jn unſerem Thiergarten,‟ ſagt Owen, „iſt mehr als eine Dame beim Beſchauen der Girafen von dieſen der künſtlichen Blumen beraubt worden, welche ihre Hüte ſchmücken. Es ſcheint, daß die Girafe weniger durch den Geruch, als durch das Auge in der Auswahl ihres Futters geleitet würde, und ſo kommt es oft vor, daß das Thier ſich betrügt, wie in den erwähnten Fällen, wo es mit der gewandten Zunge die künſtlichen Blumen ergriff und von den Hüten abriß.‟ Jn der Freiheit ſind es hauptſächlich die Zweige, Knospen und Blätter der Mimoſen, welche dem Thiere zur Nah- rung dienen. Die Kameldorn- und „Warteinbischenmimoſe‟ bilden im Süden Afrikas den Haupt- beſtandtheil ihres Futters; im Norden Afrikas frißt ſie die gewöhnlichen oder die Karratmimoſen- blätter und entlaubt beſonders gern die Schlingpflanzen, welche in ſo reicher Fülle die Bäume der [Abbildung Die Girafe. (Zu Seite 491.)] Wälder in jenen Gegenden umhüllen. Bei friſcher Nahrung kann ſie, wie das Kamel, lange Zeit des Waſſers entbehren; in der trockenen Jahreszeit aber, wo die Bäume größtentheils ihres Blätter- ſchmucks beraubt ſind und die hohen, verdorrten Gräſer ihr dürftige Koſt bieten, geht ſie oft mei- lenweit nach den pfuhligen Waſſerbecken oder zu den übrig gebliebenen Tümpeln der während der Regenzeit fließenden Ströme herab, um ſich zu tränken. Solche Orte ſind es, an denen Freilig- raths ſchönes Gedicht zur Wahrheit werden kann. Das Wiederkäuen beſorgt die Girafe ſtehend, hauptſächlich aber des Nachts. Es ſcheint ihr übrigens nicht ſoviel Zeit zu koſten, wie Anderen ihrer Ordnung. Das geiſtige Weſen ſtellt die Girafe ſehr hoch. Sie iſt im Verhältniß zu ihrer Größe ein höchſt gutmüthiges, friedliches und ſanftes Thier, welches nicht blos verträglich mit ſeines Gleichen, ſondern auch mit anderen Thieren lebt, ſolange dieſe ihr nicht beſchwerlich oder gefährlich werden. Jm Nothfall weiß ſie ſich recht gut zu vertheidigen, — nicht mit ihren Hörnern, welche überhaupt blos zum Staate zu dienen ſcheinen, ſondern mit kräftigen Schlägen ihrer langen, ſehnigen Füße. Jn

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 492. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/520>, abgerufen am 16.07.2024.