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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Der Edelhirsch.
sich des Schutzes vollkommen bewußt ist, wird es sehr zutraulich. Jm Prater bei Wien stehen be-
ständig starke Trupps der herrlichen Geschöpfe; sie haben sich an das Heer der Lustwandelnden voll-
kommen gewöhnt und lassen, wie ich aus eigener Erfahrung versichern kann, ohne Scheu einen Mann
bis auf dreißig Schritte an sie herankommen. Einer dieser Hirsche war nach und nach so kühn gewor-
den, daß er dreist zu den Wirthschaften kam, zwischen den Tischen umherging und die schönen Hände
der Damen beleckte, sie hierdurch bittend, ihm, wie es gewöhnlich geworden war, Zucker oder
Kuchen zu verabreichen. Dieses prächtige Thier, welches Niemand etwas zu Leide that, der es gut
mit ihm meinte, dagegen aber jedem Necklustigen oder Böswilligen sofort das Geweih zeigte, ver-
endete auf eine klägliche Weise. Bei einer ungeschickten Bewegung verwickelte es sich mit den
Sprossen seines Geweihes in eine durchlöcherte Stuhllehne, warf beim Aufrichten den darauf Sitzen-
den unsanft zu Boden, erschrak hierüber, bohrte die Sprossen noch fester in den Stuhl ein, wurde
durch diese unfreiwillige Bürde aufs äußerste entsetzt, und raste nun mit höchster Wuth in den
Parkanlagen umher, machte alle übrigen Hirsche scheu und stürzte wie unsinnig auf die Vorüber-
gehenden los, so daß man endlich traurigen Herzens es erschießen mußte. Bei den Futterplätzen
wird das Edelwild oft überraschend zahm. "Jn Dessau," sagt Dietrich aus dem Winckell,
"stehen an jeder der beiden Fütterungen 70, 80 und mehrere Hirsche. Haben sie sich, um besondere
Aeßung zu suchen, davon entfernt, so kann sie der Jäger mit dem Pferde gemächlich näher treiben.
Hat er dann Heu auf die Raufen gesteckt und Hafer oder Eicheln in kleinen Häufchen auf dem Erd-
boden herumgestreut, so kommen sie, dem wiederholten Rufe: Komm Hirsch! zufolge, heran und sind
so ruhig bei der Aeßung, daß der ihnen bekannte Jäger unter deuselben herumreiten, auch zuweilen
einige mit den Händen berühren kann. Dies Schauspiel, an welchem mehrere Zuschauer ganz in der
Nähe Theil nehmen dürfen, gewährt gewiß jedem Jagdliebhaber ein hohes Vergnügen."

Anders verhält es sich, wenn der Hirsch in einen engen Raum gesperrt wird, oder wenn die
Brunstzeit eingetreten ist, welche sein ganzes Wesen verändert. Dann wird er oft durch die geringste
Kleinigkeit gereizt und nimmt auch den Menschen an. Die Neigung hierzu bemerkt man an einem
gewissen Zusammenrümpfen des Obermaules und an der Sternrichtung der funkelnden Lichter; plötz-
lich biegt er den Kopf herab, richtet die Spitzen der Augensprossen gerade auf seinen Feind und fährt
mit soviel Schnelligkeit auf denselben los, daß man nur schwer entkommen kann. Allerdings geschieht
es verhältnißmäßig selten, daß ein Hirsch seinen Gegner angreift, indeß sind doch eine ziemliche An-
zahl derartiger Fälle aufgemerkt worden. Aeltere Jagdbücher wissen von gar vielen Hirschen zu
erzählen, welche Menschen, oft ohne Veranlassung, angriffen und verwundeten oder umbrachten.
"Anno 1637," erzählt von Flemming in seinem "Teutschen Jäger", "wurden auf dem
Schloß Hartenstein täglich ein junger Hirsch und eine arme Magd aus der Hof Küche gespeiset. Jm
Herbst trifft der Hirsch das arme Mensch im Walde an und stößt es todt. Er wurde aber, ehe sie
begraben worden, erschossen und vor die Hunde geworfen." -- Jn Thiergärten, wo die Hirsche ihre
angeborne Schen vor dem Menschen nach und nach verlieren, werden sie viel gefährlicher, als im
freien Walde. Lenz sah einen Hirsch auf dem Kallenberg bei Koburg, welcher schon zwei Kinder getödtet
hatte und selbst auf den Fütterer lebensgefährlich losstieß, wenn dieser ihm kein Futter mehr geben
wollte. "Da der vierbeinige Wütherich," so erzählt unser Gewährsmann, "gerade kein Geweih, und
statt dessen nur weiche Kolben hatte, also an sich schon weniger gefährlich war, so bat ich den Wärter,
Futter zu holen, dies in kleinen Gaben meiner linken Hand zu überliefern, die rechte aber mit einem
guten Knüppel zu bewaffnen. Jch fütterte nun den Hirsch. So oft eine Gabe alle war, trat er
zurück, um Anlauf zu nehmen, zuckte boshaft mit der Nase, sah mich schief und wüthend an, wich
aber jedes Mal, wenn ich die Waffe drohend schwang, und kam dann ganz getrost wieder, wenn die
neue Futtergabe sich zeigte." -- Jn Gotha stieß ein zahmer Hirsch seinen sonst sehr von ihm geliebten
Wärter in einem Anfall von Bosheit durchs Auge ins Gehirn, daß der Arme augenblicklich todt zur
Erde sank; in Potsdam mordete ein ganz zahmer weißer Hirsch seinen Versorger, mit welchem er im
besten Einverständniß lebte, auf gräßliche Weise. Aehnliche Fälle ließen sich noch viele aufführen --

Der Edelhirſch.
ſich des Schutzes vollkommen bewußt iſt, wird es ſehr zutraulich. Jm Prater bei Wien ſtehen be-
ſtändig ſtarke Trupps der herrlichen Geſchöpfe; ſie haben ſich an das Heer der Luſtwandelnden voll-
kommen gewöhnt und laſſen, wie ich aus eigener Erfahrung verſichern kann, ohne Scheu einen Mann
bis auf dreißig Schritte an ſie herankommen. Einer dieſer Hirſche war nach und nach ſo kühn gewor-
den, daß er dreiſt zu den Wirthſchaften kam, zwiſchen den Tiſchen umherging und die ſchönen Hände
der Damen beleckte, ſie hierdurch bittend, ihm, wie es gewöhnlich geworden war, Zucker oder
Kuchen zu verabreichen. Dieſes prächtige Thier, welches Niemand etwas zu Leide that, der es gut
mit ihm meinte, dagegen aber jedem Neckluſtigen oder Böswilligen ſofort das Geweih zeigte, ver-
endete auf eine klägliche Weiſe. Bei einer ungeſchickten Bewegung verwickelte es ſich mit den
Sproſſen ſeines Geweihes in eine durchlöcherte Stuhllehne, warf beim Aufrichten den darauf Sitzen-
den unſanft zu Boden, erſchrak hierüber, bohrte die Sproſſen noch feſter in den Stuhl ein, wurde
durch dieſe unfreiwillige Bürde aufs äußerſte entſetzt, und raſte nun mit höchſter Wuth in den
Parkanlagen umher, machte alle übrigen Hirſche ſcheu und ſtürzte wie unſinnig auf die Vorüber-
gehenden los, ſo daß man endlich traurigen Herzens es erſchießen mußte. Bei den Futterplätzen
wird das Edelwild oft überraſchend zahm. „Jn Deſſau,‟ ſagt Dietrich aus dem Winckell,
„ſtehen an jeder der beiden Fütterungen 70, 80 und mehrere Hirſche. Haben ſie ſich, um beſondere
Aeßung zu ſuchen, davon entfernt, ſo kann ſie der Jäger mit dem Pferde gemächlich näher treiben.
Hat er dann Heu auf die Raufen geſteckt und Hafer oder Eicheln in kleinen Häufchen auf dem Erd-
boden herumgeſtreut, ſo kommen ſie, dem wiederholten Rufe: Komm Hirſch! zufolge, heran und ſind
ſo ruhig bei der Aeßung, daß der ihnen bekannte Jäger unter deuſelben herumreiten, auch zuweilen
einige mit den Händen berühren kann. Dies Schauſpiel, an welchem mehrere Zuſchauer ganz in der
Nähe Theil nehmen dürfen, gewährt gewiß jedem Jagdliebhaber ein hohes Vergnügen.‟

Anders verhält es ſich, wenn der Hirſch in einen engen Raum geſperrt wird, oder wenn die
Brunſtzeit eingetreten iſt, welche ſein ganzes Weſen verändert. Dann wird er oft durch die geringſte
Kleinigkeit gereizt und nimmt auch den Menſchen an. Die Neigung hierzu bemerkt man an einem
gewiſſen Zuſammenrümpfen des Obermaules und an der Sternrichtung der funkelnden Lichter; plötz-
lich biegt er den Kopf herab, richtet die Spitzen der Augenſproſſen gerade auf ſeinen Feind und fährt
mit ſoviel Schnelligkeit auf denſelben los, daß man nur ſchwer entkommen kann. Allerdings geſchieht
es verhältnißmäßig ſelten, daß ein Hirſch ſeinen Gegner angreift, indeß ſind doch eine ziemliche An-
zahl derartiger Fälle aufgemerkt worden. Aeltere Jagdbücher wiſſen von gar vielen Hirſchen zu
erzählen, welche Menſchen, oft ohne Veranlaſſung, angriffen und verwundeten oder umbrachten.
Anno 1637,‟ erzählt von Flemming in ſeinem „Teutſchen Jäger‟, „wurden auf dem
Schloß Hartenſtein täglich ein junger Hirſch und eine arme Magd aus der Hof Küche geſpeiſet. Jm
Herbſt trifft der Hirſch das arme Menſch im Walde an und ſtößt es todt. Er wurde aber, ehe ſie
begraben worden, erſchoſſen und vor die Hunde geworfen.‟ — Jn Thiergärten, wo die Hirſche ihre
angeborne Schen vor dem Menſchen nach und nach verlieren, werden ſie viel gefährlicher, als im
freien Walde. Lenz ſah einen Hirſch auf dem Kallenberg bei Koburg, welcher ſchon zwei Kinder getödtet
hatte und ſelbſt auf den Fütterer lebensgefährlich losſtieß, wenn dieſer ihm kein Futter mehr geben
wollte. „Da der vierbeinige Wütherich,‟ ſo erzählt unſer Gewährsmann, „gerade kein Geweih, und
ſtatt deſſen nur weiche Kolben hatte, alſo an ſich ſchon weniger gefährlich war, ſo bat ich den Wärter,
Futter zu holen, dies in kleinen Gaben meiner linken Hand zu überliefern, die rechte aber mit einem
guten Knüppel zu bewaffnen. Jch fütterte nun den Hirſch. So oft eine Gabe alle war, trat er
zurück, um Anlauf zu nehmen, zuckte boshaft mit der Naſe, ſah mich ſchief und wüthend an, wich
aber jedes Mal, wenn ich die Waffe drohend ſchwang, und kam dann ganz getroſt wieder, wenn die
neue Futtergabe ſich zeigte.‟ — Jn Gotha ſtieß ein zahmer Hirſch ſeinen ſonſt ſehr von ihm geliebten
Wärter in einem Anfall von Bosheit durchs Auge ins Gehirn, daß der Arme augenblicklich todt zur
Erde ſank; in Potsdam mordete ein ganz zahmer weißer Hirſch ſeinen Verſorger, mit welchem er im
beſten Einverſtändniß lebte, auf gräßliche Weiſe. Aehnliche Fälle ließen ſich noch viele aufführen —

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[455/0481] Der Edelhirſch. ſich des Schutzes vollkommen bewußt iſt, wird es ſehr zutraulich. Jm Prater bei Wien ſtehen be- ſtändig ſtarke Trupps der herrlichen Geſchöpfe; ſie haben ſich an das Heer der Luſtwandelnden voll- kommen gewöhnt und laſſen, wie ich aus eigener Erfahrung verſichern kann, ohne Scheu einen Mann bis auf dreißig Schritte an ſie herankommen. Einer dieſer Hirſche war nach und nach ſo kühn gewor- den, daß er dreiſt zu den Wirthſchaften kam, zwiſchen den Tiſchen umherging und die ſchönen Hände der Damen beleckte, ſie hierdurch bittend, ihm, wie es gewöhnlich geworden war, Zucker oder Kuchen zu verabreichen. Dieſes prächtige Thier, welches Niemand etwas zu Leide that, der es gut mit ihm meinte, dagegen aber jedem Neckluſtigen oder Böswilligen ſofort das Geweih zeigte, ver- endete auf eine klägliche Weiſe. Bei einer ungeſchickten Bewegung verwickelte es ſich mit den Sproſſen ſeines Geweihes in eine durchlöcherte Stuhllehne, warf beim Aufrichten den darauf Sitzen- den unſanft zu Boden, erſchrak hierüber, bohrte die Sproſſen noch feſter in den Stuhl ein, wurde durch dieſe unfreiwillige Bürde aufs äußerſte entſetzt, und raſte nun mit höchſter Wuth in den Parkanlagen umher, machte alle übrigen Hirſche ſcheu und ſtürzte wie unſinnig auf die Vorüber- gehenden los, ſo daß man endlich traurigen Herzens es erſchießen mußte. Bei den Futterplätzen wird das Edelwild oft überraſchend zahm. „Jn Deſſau,‟ ſagt Dietrich aus dem Winckell, „ſtehen an jeder der beiden Fütterungen 70, 80 und mehrere Hirſche. Haben ſie ſich, um beſondere Aeßung zu ſuchen, davon entfernt, ſo kann ſie der Jäger mit dem Pferde gemächlich näher treiben. Hat er dann Heu auf die Raufen geſteckt und Hafer oder Eicheln in kleinen Häufchen auf dem Erd- boden herumgeſtreut, ſo kommen ſie, dem wiederholten Rufe: Komm Hirſch! zufolge, heran und ſind ſo ruhig bei der Aeßung, daß der ihnen bekannte Jäger unter deuſelben herumreiten, auch zuweilen einige mit den Händen berühren kann. Dies Schauſpiel, an welchem mehrere Zuſchauer ganz in der Nähe Theil nehmen dürfen, gewährt gewiß jedem Jagdliebhaber ein hohes Vergnügen.‟ Anders verhält es ſich, wenn der Hirſch in einen engen Raum geſperrt wird, oder wenn die Brunſtzeit eingetreten iſt, welche ſein ganzes Weſen verändert. Dann wird er oft durch die geringſte Kleinigkeit gereizt und nimmt auch den Menſchen an. Die Neigung hierzu bemerkt man an einem gewiſſen Zuſammenrümpfen des Obermaules und an der Sternrichtung der funkelnden Lichter; plötz- lich biegt er den Kopf herab, richtet die Spitzen der Augenſproſſen gerade auf ſeinen Feind und fährt mit ſoviel Schnelligkeit auf denſelben los, daß man nur ſchwer entkommen kann. Allerdings geſchieht es verhältnißmäßig ſelten, daß ein Hirſch ſeinen Gegner angreift, indeß ſind doch eine ziemliche An- zahl derartiger Fälle aufgemerkt worden. Aeltere Jagdbücher wiſſen von gar vielen Hirſchen zu erzählen, welche Menſchen, oft ohne Veranlaſſung, angriffen und verwundeten oder umbrachten. „Anno 1637,‟ erzählt von Flemming in ſeinem „Teutſchen Jäger‟, „wurden auf dem Schloß Hartenſtein täglich ein junger Hirſch und eine arme Magd aus der Hof Küche geſpeiſet. Jm Herbſt trifft der Hirſch das arme Menſch im Walde an und ſtößt es todt. Er wurde aber, ehe ſie begraben worden, erſchoſſen und vor die Hunde geworfen.‟ — Jn Thiergärten, wo die Hirſche ihre angeborne Schen vor dem Menſchen nach und nach verlieren, werden ſie viel gefährlicher, als im freien Walde. Lenz ſah einen Hirſch auf dem Kallenberg bei Koburg, welcher ſchon zwei Kinder getödtet hatte und ſelbſt auf den Fütterer lebensgefährlich losſtieß, wenn dieſer ihm kein Futter mehr geben wollte. „Da der vierbeinige Wütherich,‟ ſo erzählt unſer Gewährsmann, „gerade kein Geweih, und ſtatt deſſen nur weiche Kolben hatte, alſo an ſich ſchon weniger gefährlich war, ſo bat ich den Wärter, Futter zu holen, dies in kleinen Gaben meiner linken Hand zu überliefern, die rechte aber mit einem guten Knüppel zu bewaffnen. Jch fütterte nun den Hirſch. So oft eine Gabe alle war, trat er zurück, um Anlauf zu nehmen, zuckte boshaft mit der Naſe, ſah mich ſchief und wüthend an, wich aber jedes Mal, wenn ich die Waffe drohend ſchwang, und kam dann ganz getroſt wieder, wenn die neue Futtergabe ſich zeigte.‟ — Jn Gotha ſtieß ein zahmer Hirſch ſeinen ſonſt ſehr von ihm geliebten Wärter in einem Anfall von Bosheit durchs Auge ins Gehirn, daß der Arme augenblicklich todt zur Erde ſank; in Potsdam mordete ein ganz zahmer weißer Hirſch ſeinen Verſorger, mit welchem er im beſten Einverſtändniß lebte, auf gräßliche Weiſe. Aehnliche Fälle ließen ſich noch viele aufführen —

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/481>, abgerufen am 23.11.2024.