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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Der Edelhirsch.
Der Hirsch hat auch kein Fleisch, sondern Wildpret, kein Blut, sondern Schweiß, kein Fett,
sondern Feist; seine Beine heißen Läufe, die Schultern Blätter, die Schenkel Keulen, der
Unterrücken Ziemer, die Dünnungen Flanken, die Luftröhre Drossel, der Kehlkopf Drossel-
knopf,
der Schwanz Blume, die Augen Lichter, die Ohren Gehör, die Hörner Geweih, das
Fell Haut, die Gedärme Gescheide, die inneren Theile Lunge, Geräusch oder Gelünge, der
After Weideloch, die Hufe Schalen, die Afterklauen Oberrücken oder Geäfter, das Euter
Gesäuge. Eine Gesellschaft Edelwild heißt ein Trupp oder ein Rudel, und auch hierbei unter-
scheidet man einen Trupp Hirsche von einem Trupp Wild.

Das Edelwild steht in einem Reviere, steckt in einem Theile desselben, wechselt auf einem
bestimmten Weg hin und her, zieht auf die Aeßung oder zu Holz, tritt aus dem Holz auf die Fel-
der oder Gehaue; es geht vertraut, wenn es im Schritt läuft, trollt oder trabt, ist flüchtig,
wenn es rennt, es fällt über Jagdzeuge oder ins Garn, es thut sich nieder, wenn es ruht, es
löset sich, wenn es ein natürliches Bedürfniß befriedigt. Der Hirsch orgelt oder schreit, das Thier
mahnt (beide klagen, wenn sie bei Verwundungen aufschreien), es verendet, wenn der Tod in
Folge von Verwundung entsteht, oder fällt und geht ein, wenn es einer Krankheit unterliegt; es
brunstet oder brunftet; das Thier geht hochbeschlagen und setzt ein Kalb. Bei guter
Aeßung wird das Hochwild feist, bei magerer schlecht; der Hirsch setzt sein Geweih auf und
vereckt es oder bildet es vollkommen aus; den Bast, welcher an ihm sitzt, fegt er ab; die abfal-
lenden Stücke sind das Gefege. Das Urtheil eines Waidmanns über den Hirsch heißt der
Anspruch etc.

Noch gegenwärtig bewohnt das Edelwild fast ganz Europa, mit Ausnahme des höchsten Nor-
dens, und einen großen Theil Asiens. Jn Europa reicht seine Nordgrenze etwa bis zum 65., in
Asien bis zum 55. Grad nördlicher Breite; nach Süden hin bilden der Kaukasus und die Gebirge der
Mandschurei die Grenzen. Jn allen bevölkerten Ländern hat es sehr abgenommen oder ist gänzlich
ausgerottet worden, so in der Schweiz und einem großen Theile von Deutschland, wo es sich blos
noch in den mittelhohen und waldreichen Gebirgen vorfindet. Am häufigsten ist es noch in Polen,
Galizien, Böhmen, Mähren, Ungarn, Siebenbürgen, Kärnthen, Steiermark und Tyrol; viel
häufiger aber, als an allen diesen Orten, findet es sich in Asien, namentlich im Kaukasus. Es liebt
mehr gebirgige, als ebene Gegenden und vor allem große, zusammenhängende Waldstrecken, am
liebsten Laubhölzer. Hier schlägt es sich zu größeren oder kleineren Trupps zusammen, welche nach
dem Alter und Geschlecht gesondert sind: die alten Thiere, die Kälber, Spießer, Gabler und Schmal-
thiere bleiben gewöhnlich vereinigt; die älteren Hirsche bilden kleine Trupps für sich, und die starken
oder Kapitalhirsche leben einzeln, bis zur Brunstzeit, wo sie sich mit den übrigen Trupps vereinigen.
Jm Winter ziehen sich die Trupps von den Bergen zur Tiefe zurück, im Sommer steigen sie bis zu
den höchsten Spitzen der Mittelgebirge empor; im allgemeinen aber hält das Edelwild an seinem
Stand treulich fest, so lang es ungestört leben kann, und nur in der Brunstzeit oder beim Aufsetzen
der neuen Geweihe und endlich bei Mangel an Aeßung verändert es seinen alten Wohnort. Der
Schnee treibt es im Winter aus den höheren Gebirgen in die Vorberge herab und das weiche Geweih
nöthigt es in sehr niederem Gebüsch oder im Holze, wo es an den Zweigen nicht anstreicht, sich auf-
zuhalten. Wird der Wald sehr unruhig, so zieht es sich zuweilen in die Getreidefelder zurück.

Den Tag über liegt das Rothwild in seinem Bett verborgen; gegen Abend zieht es auf Aeßung
aus, im Sommer früher, als im Winter. Nur in Gegenden, wo es sich völlig sicher weiß, äßt es
sich zuweilen auch bei Tage. Beim Ausgehen nach Aeßung pflegt es in raschem Trabe sich zu bewe-
gen oder zu trollen; der Rückzug am Morgen dagegen erfolgt langsam; deshalb nennen ihn die
Jäger: den Kirchgang. Auch wenn die Sonne bereits aufgegangen ist, verweilt es noch in den Vor-
hölzern; denn der Morgenthau, welcher auf den Blättern liegt, ist ihm unangenehm; ihn will es
erst abtrocknen lassen.

Der Edelhirſch.
Der Hirſch hat auch kein Fleiſch, ſondern Wildpret, kein Blut, ſondern Schweiß, kein Fett,
ſondern Feiſt; ſeine Beine heißen Läufe, die Schultern Blätter, die Schenkel Keulen, der
Unterrücken Ziemer, die Dünnungen Flanken, die Luftröhre Droſſel, der Kehlkopf Droſſel-
knopf,
der Schwanz Blume, die Augen Lichter, die Ohren Gehör, die Hörner Geweih, das
Fell Haut, die Gedärme Geſcheide, die inneren Theile Lunge, Geräuſch oder Gelünge, der
After Weideloch, die Hufe Schalen, die Afterklauen Oberrücken oder Geäfter, das Euter
Geſäuge. Eine Geſellſchaft Edelwild heißt ein Trupp oder ein Rudel, und auch hierbei unter-
ſcheidet man einen Trupp Hirſche von einem Trupp Wild.

Das Edelwild ſteht in einem Reviere, ſteckt in einem Theile deſſelben, wechſelt auf einem
beſtimmten Weg hin und her, zieht auf die Aeßung oder zu Holz, tritt aus dem Holz auf die Fel-
der oder Gehaue; es geht vertraut, wenn es im Schritt läuft, trollt oder trabt, iſt flüchtig,
wenn es rennt, es fällt über Jagdzeuge oder ins Garn, es thut ſich nieder, wenn es ruht, es
löſet ſich, wenn es ein natürliches Bedürfniß befriedigt. Der Hirſch orgelt oder ſchreit, das Thier
mahnt (beide klagen, wenn ſie bei Verwundungen aufſchreien), es verendet, wenn der Tod in
Folge von Verwundung entſteht, oder fällt und geht ein, wenn es einer Krankheit unterliegt; es
brunſtet oder brunftet; das Thier geht hochbeſchlagen und ſetzt ein Kalb. Bei guter
Aeßung wird das Hochwild feiſt, bei magerer ſchlecht; der Hirſch ſetzt ſein Geweih auf und
vereckt es oder bildet es vollkommen aus; den Baſt, welcher an ihm ſitzt, fegt er ab; die abfal-
lenden Stücke ſind das Gefege. Das Urtheil eines Waidmanns über den Hirſch heißt der
Anſpruch ꝛc.

Noch gegenwärtig bewohnt das Edelwild faſt ganz Europa, mit Ausnahme des höchſten Nor-
dens, und einen großen Theil Aſiens. Jn Europa reicht ſeine Nordgrenze etwa bis zum 65., in
Aſien bis zum 55. Grad nördlicher Breite; nach Süden hin bilden der Kaukaſus und die Gebirge der
Mandſchurei die Grenzen. Jn allen bevölkerten Ländern hat es ſehr abgenommen oder iſt gänzlich
ausgerottet worden, ſo in der Schweiz und einem großen Theile von Deutſchland, wo es ſich blos
noch in den mittelhohen und waldreichen Gebirgen vorfindet. Am häufigſten iſt es noch in Polen,
Galizien, Böhmen, Mähren, Ungarn, Siebenbürgen, Kärnthen, Steiermark und Tyrol; viel
häufiger aber, als an allen dieſen Orten, findet es ſich in Aſien, namentlich im Kaukaſus. Es liebt
mehr gebirgige, als ebene Gegenden und vor allem große, zuſammenhängende Waldſtrecken, am
liebſten Laubhölzer. Hier ſchlägt es ſich zu größeren oder kleineren Trupps zuſammen, welche nach
dem Alter und Geſchlecht geſondert ſind: die alten Thiere, die Kälber, Spießer, Gabler und Schmal-
thiere bleiben gewöhnlich vereinigt; die älteren Hirſche bilden kleine Trupps für ſich, und die ſtarken
oder Kapitalhirſche leben einzeln, bis zur Brunſtzeit, wo ſie ſich mit den übrigen Trupps vereinigen.
Jm Winter ziehen ſich die Trupps von den Bergen zur Tiefe zurück, im Sommer ſteigen ſie bis zu
den höchſten Spitzen der Mittelgebirge empor; im allgemeinen aber hält das Edelwild an ſeinem
Stand treulich feſt, ſo lang es ungeſtört leben kann, und nur in der Brunſtzeit oder beim Aufſetzen
der neuen Geweihe und endlich bei Mangel an Aeßung verändert es ſeinen alten Wohnort. Der
Schnee treibt es im Winter aus den höheren Gebirgen in die Vorberge herab und das weiche Geweih
nöthigt es in ſehr niederem Gebüſch oder im Holze, wo es an den Zweigen nicht anſtreicht, ſich auf-
zuhalten. Wird der Wald ſehr unruhig, ſo zieht es ſich zuweilen in die Getreidefelder zurück.

Den Tag über liegt das Rothwild in ſeinem Bett verborgen; gegen Abend zieht es auf Aeßung
aus, im Sommer früher, als im Winter. Nur in Gegenden, wo es ſich völlig ſicher weiß, äßt es
ſich zuweilen auch bei Tage. Beim Ausgehen nach Aeßung pflegt es in raſchem Trabe ſich zu bewe-
gen oder zu trollen; der Rückzug am Morgen dagegen erfolgt langſam; deshalb nennen ihn die
Jäger: den Kirchgang. Auch wenn die Sonne bereits aufgegangen iſt, verweilt es noch in den Vor-
hölzern; denn der Morgenthau, welcher auf den Blättern liegt, iſt ihm unangenehm; ihn will es
erſt abtrocknen laſſen.

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[453/0479] Der Edelhirſch. Der Hirſch hat auch kein Fleiſch, ſondern Wildpret, kein Blut, ſondern Schweiß, kein Fett, ſondern Feiſt; ſeine Beine heißen Läufe, die Schultern Blätter, die Schenkel Keulen, der Unterrücken Ziemer, die Dünnungen Flanken, die Luftröhre Droſſel, der Kehlkopf Droſſel- knopf, der Schwanz Blume, die Augen Lichter, die Ohren Gehör, die Hörner Geweih, das Fell Haut, die Gedärme Geſcheide, die inneren Theile Lunge, Geräuſch oder Gelünge, der After Weideloch, die Hufe Schalen, die Afterklauen Oberrücken oder Geäfter, das Euter Geſäuge. Eine Geſellſchaft Edelwild heißt ein Trupp oder ein Rudel, und auch hierbei unter- ſcheidet man einen Trupp Hirſche von einem Trupp Wild. Das Edelwild ſteht in einem Reviere, ſteckt in einem Theile deſſelben, wechſelt auf einem beſtimmten Weg hin und her, zieht auf die Aeßung oder zu Holz, tritt aus dem Holz auf die Fel- der oder Gehaue; es geht vertraut, wenn es im Schritt läuft, trollt oder trabt, iſt flüchtig, wenn es rennt, es fällt über Jagdzeuge oder ins Garn, es thut ſich nieder, wenn es ruht, es löſet ſich, wenn es ein natürliches Bedürfniß befriedigt. Der Hirſch orgelt oder ſchreit, das Thier mahnt (beide klagen, wenn ſie bei Verwundungen aufſchreien), es verendet, wenn der Tod in Folge von Verwundung entſteht, oder fällt und geht ein, wenn es einer Krankheit unterliegt; es brunſtet oder brunftet; das Thier geht hochbeſchlagen und ſetzt ein Kalb. Bei guter Aeßung wird das Hochwild feiſt, bei magerer ſchlecht; der Hirſch ſetzt ſein Geweih auf und vereckt es oder bildet es vollkommen aus; den Baſt, welcher an ihm ſitzt, fegt er ab; die abfal- lenden Stücke ſind das Gefege. Das Urtheil eines Waidmanns über den Hirſch heißt der Anſpruch ꝛc. Noch gegenwärtig bewohnt das Edelwild faſt ganz Europa, mit Ausnahme des höchſten Nor- dens, und einen großen Theil Aſiens. Jn Europa reicht ſeine Nordgrenze etwa bis zum 65., in Aſien bis zum 55. Grad nördlicher Breite; nach Süden hin bilden der Kaukaſus und die Gebirge der Mandſchurei die Grenzen. Jn allen bevölkerten Ländern hat es ſehr abgenommen oder iſt gänzlich ausgerottet worden, ſo in der Schweiz und einem großen Theile von Deutſchland, wo es ſich blos noch in den mittelhohen und waldreichen Gebirgen vorfindet. Am häufigſten iſt es noch in Polen, Galizien, Böhmen, Mähren, Ungarn, Siebenbürgen, Kärnthen, Steiermark und Tyrol; viel häufiger aber, als an allen dieſen Orten, findet es ſich in Aſien, namentlich im Kaukaſus. Es liebt mehr gebirgige, als ebene Gegenden und vor allem große, zuſammenhängende Waldſtrecken, am liebſten Laubhölzer. Hier ſchlägt es ſich zu größeren oder kleineren Trupps zuſammen, welche nach dem Alter und Geſchlecht geſondert ſind: die alten Thiere, die Kälber, Spießer, Gabler und Schmal- thiere bleiben gewöhnlich vereinigt; die älteren Hirſche bilden kleine Trupps für ſich, und die ſtarken oder Kapitalhirſche leben einzeln, bis zur Brunſtzeit, wo ſie ſich mit den übrigen Trupps vereinigen. Jm Winter ziehen ſich die Trupps von den Bergen zur Tiefe zurück, im Sommer ſteigen ſie bis zu den höchſten Spitzen der Mittelgebirge empor; im allgemeinen aber hält das Edelwild an ſeinem Stand treulich feſt, ſo lang es ungeſtört leben kann, und nur in der Brunſtzeit oder beim Aufſetzen der neuen Geweihe und endlich bei Mangel an Aeßung verändert es ſeinen alten Wohnort. Der Schnee treibt es im Winter aus den höheren Gebirgen in die Vorberge herab und das weiche Geweih nöthigt es in ſehr niederem Gebüſch oder im Holze, wo es an den Zweigen nicht anſtreicht, ſich auf- zuhalten. Wird der Wald ſehr unruhig, ſo zieht es ſich zuweilen in die Getreidefelder zurück. Den Tag über liegt das Rothwild in ſeinem Bett verborgen; gegen Abend zieht es auf Aeßung aus, im Sommer früher, als im Winter. Nur in Gegenden, wo es ſich völlig ſicher weiß, äßt es ſich zuweilen auch bei Tage. Beim Ausgehen nach Aeßung pflegt es in raſchem Trabe ſich zu bewe- gen oder zu trollen; der Rückzug am Morgen dagegen erfolgt langſam; deshalb nennen ihn die Jäger: den Kirchgang. Auch wenn die Sonne bereits aufgegangen iſt, verweilt es noch in den Vor- hölzern; denn der Morgenthau, welcher auf den Blättern liegt, iſt ihm unangenehm; ihn will es erſt abtrocknen laſſen.

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/479>, abgerufen am 23.11.2024.