ist, geht es an ein Zertheilen des Schlachtviehs. Der Kopf, der Hals, der Rücken, die Seiten, die Brust werden von einander abgetrennt und dann an ein Gerüst gehängt, außer dem Bereiche der Hunde. Etwa noch ausfließendes Blut sammelt man in Gefäßen. Bei fernerem Zertheilen schneidet man die Sehnen sorgfältig heraus, weil sie später Zwirn und Rockschnüre geben sollen. Das Mark dient als besonderer Leckerbissen. Der Hausvater besorgt ebensowohl das Schlachten, wie die Zube- reitung der Speise, kostet dabei von Zeit zu Zeit ganz gehörig, so daß er bereits vor dem Mahle ge- sättigt sein könnte; ißt hierauf noch soviel, als sein Magen aufnehmen kann, und nun erst kommen die Kinder und schließlich die Hunde daran. Zu solchen Renthierschmäusen werden auch die umwoh- nenden Lappen eingeladen; und während des Septembers gibt es daher eine Völlerei nach der anderen.
Mancherlei Seuchen richten oft große Verheerungen unter den Renthieren an, und außerdem trägt das rauhe Klima das Seinige dazu bei, daß sich die Herden nicht so vergrößern, als es, der Fruchtbarkeit des Ren angemessen, sein könnte. Junge und zarte Kälber erliegen der Kälte oder leiden von den heftigen Schneestürmen, so daß sie, vollkommen ermattet, der Herde nicht mehr folgen können; ältere Thiere können bei besonders tiefem Schnee nicht mehr hinlänglich Nahrung finden, und wenn der Lappe unter solchen Umständen sich auch weidlich bemüht, ihnen in den Wäldern einige Aeßung zu verschaffen, wenn er auch die mit Flechten reich behangenen Bäume niederschlägt: er kann der Herde doch nicht das hinlängliche Futter bieten! Sehr schlimm ist es, wenn zwischen dem Schneefall einmal Regen eintritt und der Schnee dadurch eine harte Kruste erhält. Eine solche verwehrt den Renthieren, durch Wegschlagen der Schneedecke zu ihrer Aeßung zu gelangen. Dann entsteht oft große Noth unter den Lappen, und Leute, welche nach dortigen Volksbegriffen als reich gelten, werden unter solchen Umständen manchmal in einem einzigen Winter arm. Sie legen sich nun auf Renthierdiebstahl und kommen dadurch in Fehde mit anderen Renthierbesitzern, von denen sie, bei der That ertappt, ohne Umstände todtgeschlagen werden.
Der Renthierdiebstahl ist unter den Lappen sehr verbreitet. Man kann diesen rohen Gebirgs- kindern Schätze von Gold zur Aufbewahrung übergeben und darf sicher sein, daß auch nicht das Geringste davon verschwindet; man braucht nirgends Thür und Thor zu schließen vor den in der Nähe der Gehöfte weidenden Lappen; denn Golddiebe gibt es unter ihnen ebensowenig, als unter dem größten Theile der Norweger: aber den Renthierdiebstahl können sie nicht lassen. Der Vogd von Tana, welchem ich sehr viele werthvolle Nachrichten über das merkwürdige Volk und sein Treiben verdanke, hatte oft Gelegenheit, Lappen immer wegen Diebstahls, und zwar wiederholt zu bestrafen. Wenn er den Leuten vorstellte, wie unrecht es wäre, sich an fremdem Eigenthum zu vergreifen und wie thöricht sie an sich selbst handelten, indem sie sich der goldenen Freiheit beraubten, hörte er stets nur die eine Antwort: "Ja, Herr, das wissen wir wohl, daß es unrecht ist, Renthiere zu stehlen: -- -- aber sie schmecken gar zu gut! Wir können das Stehlen nicht lassen; es ist uns unmöglich, ein fremdes Renthier zu sehen, ohne es uns anzueignen." Dieses Sichaneignen geschieht übrigens auch zuweilen in der besten Absicht. Wenn die Lappen ihre Renthiere sammeln, kommt es ihnen zunächst gar nicht darauf an, ob sie Thiere zusammentreiben, welche zu ihrer Herde gehören, oder ob sie fremde zur Herde vereinigen. Die nächstwohnenden Renthierbesitzer kommen verabredetermaßen an einer gewissen Oertlichkeit zusammen; jeder tauscht sich dann die ihm gehörigen und von ihm gezeich- neten Thiere aus und gelangt so wieder zu seinem Eigenthum.
Der gesammte Nutzen, welchen die zahmen Renthiere ihrem Besitzer bringen, würde, auf un- sere Verhältnisse übertragen, gar nicht zu berechnen sein. Alles, Alles, was das Thier erzeugt, wird verwendet; nicht blos das Fleisch und die Milch, sondern auch jeder einzelne Theil des Lei- bes. Die noch knorpeligen Hörner werden ebensogern gegessen, wie die des Elenthieres in gleichem Zustande; aus den weichen Fellen der Renthierkälber fertigt man sich die Kleider; das Wollhaar wird gesponnen und verwebt; aus den Knochen macht man sich allerlei Werkzeuge; die Sehnen be- nutzt man zu Zwirn u. dgl. Außerdem muß daß Thier auch noch, namentlich während des Winters,
Das Renthier.
iſt, geht es an ein Zertheilen des Schlachtviehs. Der Kopf, der Hals, der Rücken, die Seiten, die Bruſt werden von einander abgetrennt und dann an ein Gerüſt gehängt, außer dem Bereiche der Hunde. Etwa noch ausfließendes Blut ſammelt man in Gefäßen. Bei fernerem Zertheilen ſchneidet man die Sehnen ſorgfältig heraus, weil ſie ſpäter Zwirn und Rockſchnüre geben ſollen. Das Mark dient als beſonderer Leckerbiſſen. Der Hausvater beſorgt ebenſowohl das Schlachten, wie die Zube- reitung der Speiſe, koſtet dabei von Zeit zu Zeit ganz gehörig, ſo daß er bereits vor dem Mahle ge- ſättigt ſein könnte; ißt hierauf noch ſoviel, als ſein Magen aufnehmen kann, und nun erſt kommen die Kinder und ſchließlich die Hunde daran. Zu ſolchen Renthierſchmäuſen werden auch die umwoh- nenden Lappen eingeladen; und während des Septembers gibt es daher eine Völlerei nach der anderen.
Mancherlei Seuchen richten oft große Verheerungen unter den Renthieren an, und außerdem trägt das rauhe Klima das Seinige dazu bei, daß ſich die Herden nicht ſo vergrößern, als es, der Fruchtbarkeit des Ren angemeſſen, ſein könnte. Junge und zarte Kälber erliegen der Kälte oder leiden von den heftigen Schneeſtürmen, ſo daß ſie, vollkommen ermattet, der Herde nicht mehr folgen können; ältere Thiere können bei beſonders tiefem Schnee nicht mehr hinlänglich Nahrung finden, und wenn der Lappe unter ſolchen Umſtänden ſich auch weidlich bemüht, ihnen in den Wäldern einige Aeßung zu verſchaffen, wenn er auch die mit Flechten reich behangenen Bäume niederſchlägt: er kann der Herde doch nicht das hinlängliche Futter bieten! Sehr ſchlimm iſt es, wenn zwiſchen dem Schneefall einmal Regen eintritt und der Schnee dadurch eine harte Kruſte erhält. Eine ſolche verwehrt den Renthieren, durch Wegſchlagen der Schneedecke zu ihrer Aeßung zu gelangen. Dann entſteht oft große Noth unter den Lappen, und Leute, welche nach dortigen Volksbegriffen als reich gelten, werden unter ſolchen Umſtänden manchmal in einem einzigen Winter arm. Sie legen ſich nun auf Renthierdiebſtahl und kommen dadurch in Fehde mit anderen Renthierbeſitzern, von denen ſie, bei der That ertappt, ohne Umſtände todtgeſchlagen werden.
Der Renthierdiebſtahl iſt unter den Lappen ſehr verbreitet. Man kann dieſen rohen Gebirgs- kindern Schätze von Gold zur Aufbewahrung übergeben und darf ſicher ſein, daß auch nicht das Geringſte davon verſchwindet; man braucht nirgends Thür und Thor zu ſchließen vor den in der Nähe der Gehöfte weidenden Lappen; denn Golddiebe gibt es unter ihnen ebenſowenig, als unter dem größten Theile der Norweger: aber den Renthierdiebſtahl können ſie nicht laſſen. Der Vogd von Tana, welchem ich ſehr viele werthvolle Nachrichten über das merkwürdige Volk und ſein Treiben verdanke, hatte oft Gelegenheit, Lappen immer wegen Diebſtahls, und zwar wiederholt zu beſtrafen. Wenn er den Leuten vorſtellte, wie unrecht es wäre, ſich an fremdem Eigenthum zu vergreifen und wie thöricht ſie an ſich ſelbſt handelten, indem ſie ſich der goldenen Freiheit beraubten, hörte er ſtets nur die eine Antwort: „Ja, Herr, das wiſſen wir wohl, daß es unrecht iſt, Renthiere zu ſtehlen: — — aber ſie ſchmecken gar zu gut! Wir können das Stehlen nicht laſſen; es iſt uns unmöglich, ein fremdes Renthier zu ſehen, ohne es uns anzueignen.‟ Dieſes Sichaneignen geſchieht übrigens auch zuweilen in der beſten Abſicht. Wenn die Lappen ihre Renthiere ſammeln, kommt es ihnen zunächſt gar nicht darauf an, ob ſie Thiere zuſammentreiben, welche zu ihrer Herde gehören, oder ob ſie fremde zur Herde vereinigen. Die nächſtwohnenden Renthierbeſitzer kommen verabredetermaßen an einer gewiſſen Oertlichkeit zuſammen; jeder tauſcht ſich dann die ihm gehörigen und von ihm gezeich- neten Thiere aus und gelangt ſo wieder zu ſeinem Eigenthum.
Der geſammte Nutzen, welchen die zahmen Renthiere ihrem Beſitzer bringen, würde, auf un- ſere Verhältniſſe übertragen, gar nicht zu berechnen ſein. Alles, Alles, was das Thier erzeugt, wird verwendet; nicht blos das Fleiſch und die Milch, ſondern auch jeder einzelne Theil des Lei- bes. Die noch knorpeligen Hörner werden ebenſogern gegeſſen, wie die des Elenthieres in gleichem Zuſtande; aus den weichen Fellen der Renthierkälber fertigt man ſich die Kleider; das Wollhaar wird geſponnen und verwebt; aus den Knochen macht man ſich allerlei Werkzeuge; die Sehnen be- nutzt man zu Zwirn u. dgl. Außerdem muß daß Thier auch noch, namentlich während des Winters,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0471"n="445"/><fwplace="top"type="header">Das Renthier.</fw><lb/>
iſt, geht es an ein Zertheilen des Schlachtviehs. Der Kopf, der Hals, der Rücken, die Seiten, die<lb/>
Bruſt werden von einander abgetrennt und dann an ein Gerüſt gehängt, außer dem Bereiche der<lb/>
Hunde. Etwa noch ausfließendes Blut ſammelt man in Gefäßen. Bei fernerem Zertheilen ſchneidet<lb/>
man die Sehnen ſorgfältig heraus, weil ſie ſpäter Zwirn und Rockſchnüre geben ſollen. Das Mark<lb/>
dient als beſonderer Leckerbiſſen. Der Hausvater beſorgt ebenſowohl das Schlachten, wie die Zube-<lb/>
reitung der Speiſe, koſtet dabei von Zeit zu Zeit ganz gehörig, ſo daß er bereits vor dem Mahle ge-<lb/>ſättigt ſein könnte; ißt hierauf noch ſoviel, als ſein Magen aufnehmen kann, und nun erſt kommen<lb/>
die Kinder und ſchließlich die Hunde daran. Zu ſolchen Renthierſchmäuſen werden auch die umwoh-<lb/>
nenden Lappen eingeladen; und während des Septembers gibt es daher eine Völlerei nach der<lb/>
anderen.</p><lb/><p>Mancherlei Seuchen richten oft große Verheerungen unter den Renthieren an, und außerdem<lb/>
trägt das rauhe Klima das Seinige dazu bei, daß ſich die Herden nicht ſo vergrößern, als es, der<lb/>
Fruchtbarkeit des Ren angemeſſen, ſein könnte. Junge und zarte Kälber erliegen der Kälte oder<lb/>
leiden von den heftigen Schneeſtürmen, ſo daß ſie, vollkommen ermattet, der Herde nicht mehr folgen<lb/>
können; ältere Thiere können bei beſonders tiefem Schnee nicht mehr hinlänglich Nahrung finden,<lb/>
und wenn der Lappe unter ſolchen Umſtänden ſich auch weidlich bemüht, ihnen in den Wäldern einige<lb/>
Aeßung zu verſchaffen, wenn er auch die mit Flechten reich behangenen Bäume niederſchlägt: er kann<lb/>
der Herde doch nicht das hinlängliche Futter bieten! Sehr ſchlimm iſt es, wenn zwiſchen dem<lb/>
Schneefall einmal Regen eintritt und der Schnee dadurch eine harte Kruſte erhält. Eine ſolche<lb/>
verwehrt den Renthieren, durch Wegſchlagen der Schneedecke zu ihrer Aeßung zu gelangen. Dann<lb/>
entſteht oft große Noth unter den Lappen, und Leute, welche nach dortigen Volksbegriffen als reich<lb/>
gelten, werden unter ſolchen Umſtänden manchmal in einem einzigen Winter arm. Sie legen ſich<lb/>
nun auf Renthierdiebſtahl und kommen dadurch in Fehde mit anderen Renthierbeſitzern, von denen<lb/>ſie, bei der That ertappt, ohne Umſtände todtgeſchlagen werden.</p><lb/><p>Der Renthierdiebſtahl iſt unter den Lappen ſehr verbreitet. Man kann dieſen rohen Gebirgs-<lb/>
kindern Schätze von Gold zur Aufbewahrung übergeben und darf ſicher ſein, daß auch nicht das<lb/>
Geringſte davon verſchwindet; man braucht nirgends Thür und Thor zu ſchließen vor den in der<lb/>
Nähe der Gehöfte weidenden Lappen; denn Golddiebe gibt es unter ihnen ebenſowenig, als unter<lb/>
dem größten Theile der Norweger: aber den Renthierdiebſtahl können ſie nicht laſſen. Der Vogd<lb/>
von Tana, welchem ich ſehr viele werthvolle Nachrichten über das merkwürdige Volk und ſein Treiben<lb/>
verdanke, hatte oft Gelegenheit, Lappen immer wegen Diebſtahls, und zwar wiederholt zu beſtrafen.<lb/>
Wenn er den Leuten vorſtellte, wie unrecht es wäre, ſich an fremdem Eigenthum zu vergreifen und<lb/>
wie thöricht ſie an ſich ſelbſt handelten, indem ſie ſich der goldenen Freiheit beraubten, hörte er ſtets<lb/>
nur die eine Antwort: „Ja, Herr, das wiſſen wir wohl, daß es unrecht iſt, Renthiere zu ſtehlen:<lb/>—— aber ſie ſchmecken gar zu gut! Wir können das Stehlen nicht laſſen; es iſt uns unmöglich,<lb/>
ein fremdes Renthier zu ſehen, ohne es uns anzueignen.‟ Dieſes Sichaneignen geſchieht übrigens<lb/>
auch zuweilen in der beſten Abſicht. Wenn die Lappen ihre Renthiere ſammeln, kommt es ihnen<lb/>
zunächſt gar nicht darauf an, ob ſie Thiere zuſammentreiben, welche zu ihrer Herde gehören, oder<lb/>
ob ſie fremde zur Herde vereinigen. Die nächſtwohnenden Renthierbeſitzer kommen verabredetermaßen<lb/>
an einer gewiſſen Oertlichkeit zuſammen; jeder tauſcht ſich dann die ihm gehörigen und von ihm gezeich-<lb/>
neten Thiere aus und gelangt ſo wieder zu ſeinem Eigenthum.</p><lb/><p>Der geſammte Nutzen, welchen die zahmen Renthiere ihrem Beſitzer bringen, würde, auf un-<lb/>ſere Verhältniſſe übertragen, gar nicht zu berechnen ſein. Alles, Alles, was das Thier erzeugt,<lb/>
wird verwendet; nicht blos das Fleiſch und die Milch, ſondern auch jeder einzelne Theil des Lei-<lb/>
bes. Die noch knorpeligen Hörner werden ebenſogern gegeſſen, wie die des Elenthieres in gleichem<lb/>
Zuſtande; aus den weichen Fellen der Renthierkälber fertigt man ſich die Kleider; das Wollhaar<lb/>
wird geſponnen und verwebt; aus den Knochen macht man ſich allerlei Werkzeuge; die Sehnen be-<lb/>
nutzt man zu Zwirn u. dgl. Außerdem muß daß Thier auch noch, namentlich während des Winters,<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[445/0471]
Das Renthier.
iſt, geht es an ein Zertheilen des Schlachtviehs. Der Kopf, der Hals, der Rücken, die Seiten, die
Bruſt werden von einander abgetrennt und dann an ein Gerüſt gehängt, außer dem Bereiche der
Hunde. Etwa noch ausfließendes Blut ſammelt man in Gefäßen. Bei fernerem Zertheilen ſchneidet
man die Sehnen ſorgfältig heraus, weil ſie ſpäter Zwirn und Rockſchnüre geben ſollen. Das Mark
dient als beſonderer Leckerbiſſen. Der Hausvater beſorgt ebenſowohl das Schlachten, wie die Zube-
reitung der Speiſe, koſtet dabei von Zeit zu Zeit ganz gehörig, ſo daß er bereits vor dem Mahle ge-
ſättigt ſein könnte; ißt hierauf noch ſoviel, als ſein Magen aufnehmen kann, und nun erſt kommen
die Kinder und ſchließlich die Hunde daran. Zu ſolchen Renthierſchmäuſen werden auch die umwoh-
nenden Lappen eingeladen; und während des Septembers gibt es daher eine Völlerei nach der
anderen.
Mancherlei Seuchen richten oft große Verheerungen unter den Renthieren an, und außerdem
trägt das rauhe Klima das Seinige dazu bei, daß ſich die Herden nicht ſo vergrößern, als es, der
Fruchtbarkeit des Ren angemeſſen, ſein könnte. Junge und zarte Kälber erliegen der Kälte oder
leiden von den heftigen Schneeſtürmen, ſo daß ſie, vollkommen ermattet, der Herde nicht mehr folgen
können; ältere Thiere können bei beſonders tiefem Schnee nicht mehr hinlänglich Nahrung finden,
und wenn der Lappe unter ſolchen Umſtänden ſich auch weidlich bemüht, ihnen in den Wäldern einige
Aeßung zu verſchaffen, wenn er auch die mit Flechten reich behangenen Bäume niederſchlägt: er kann
der Herde doch nicht das hinlängliche Futter bieten! Sehr ſchlimm iſt es, wenn zwiſchen dem
Schneefall einmal Regen eintritt und der Schnee dadurch eine harte Kruſte erhält. Eine ſolche
verwehrt den Renthieren, durch Wegſchlagen der Schneedecke zu ihrer Aeßung zu gelangen. Dann
entſteht oft große Noth unter den Lappen, und Leute, welche nach dortigen Volksbegriffen als reich
gelten, werden unter ſolchen Umſtänden manchmal in einem einzigen Winter arm. Sie legen ſich
nun auf Renthierdiebſtahl und kommen dadurch in Fehde mit anderen Renthierbeſitzern, von denen
ſie, bei der That ertappt, ohne Umſtände todtgeſchlagen werden.
Der Renthierdiebſtahl iſt unter den Lappen ſehr verbreitet. Man kann dieſen rohen Gebirgs-
kindern Schätze von Gold zur Aufbewahrung übergeben und darf ſicher ſein, daß auch nicht das
Geringſte davon verſchwindet; man braucht nirgends Thür und Thor zu ſchließen vor den in der
Nähe der Gehöfte weidenden Lappen; denn Golddiebe gibt es unter ihnen ebenſowenig, als unter
dem größten Theile der Norweger: aber den Renthierdiebſtahl können ſie nicht laſſen. Der Vogd
von Tana, welchem ich ſehr viele werthvolle Nachrichten über das merkwürdige Volk und ſein Treiben
verdanke, hatte oft Gelegenheit, Lappen immer wegen Diebſtahls, und zwar wiederholt zu beſtrafen.
Wenn er den Leuten vorſtellte, wie unrecht es wäre, ſich an fremdem Eigenthum zu vergreifen und
wie thöricht ſie an ſich ſelbſt handelten, indem ſie ſich der goldenen Freiheit beraubten, hörte er ſtets
nur die eine Antwort: „Ja, Herr, das wiſſen wir wohl, daß es unrecht iſt, Renthiere zu ſtehlen:
— — aber ſie ſchmecken gar zu gut! Wir können das Stehlen nicht laſſen; es iſt uns unmöglich,
ein fremdes Renthier zu ſehen, ohne es uns anzueignen.‟ Dieſes Sichaneignen geſchieht übrigens
auch zuweilen in der beſten Abſicht. Wenn die Lappen ihre Renthiere ſammeln, kommt es ihnen
zunächſt gar nicht darauf an, ob ſie Thiere zuſammentreiben, welche zu ihrer Herde gehören, oder
ob ſie fremde zur Herde vereinigen. Die nächſtwohnenden Renthierbeſitzer kommen verabredetermaßen
an einer gewiſſen Oertlichkeit zuſammen; jeder tauſcht ſich dann die ihm gehörigen und von ihm gezeich-
neten Thiere aus und gelangt ſo wieder zu ſeinem Eigenthum.
Der geſammte Nutzen, welchen die zahmen Renthiere ihrem Beſitzer bringen, würde, auf un-
ſere Verhältniſſe übertragen, gar nicht zu berechnen ſein. Alles, Alles, was das Thier erzeugt,
wird verwendet; nicht blos das Fleiſch und die Milch, ſondern auch jeder einzelne Theil des Lei-
bes. Die noch knorpeligen Hörner werden ebenſogern gegeſſen, wie die des Elenthieres in gleichem
Zuſtande; aus den weichen Fellen der Renthierkälber fertigt man ſich die Kleider; das Wollhaar
wird geſponnen und verwebt; aus den Knochen macht man ſich allerlei Werkzeuge; die Sehnen be-
nutzt man zu Zwirn u. dgl. Außerdem muß daß Thier auch noch, namentlich während des Winters,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/471>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.