Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Renthier.
ist, geht es an ein Zertheilen des Schlachtviehs. Der Kopf, der Hals, der Rücken, die Seiten, die
Brust werden von einander abgetrennt und dann an ein Gerüst gehängt, außer dem Bereiche der
Hunde. Etwa noch ausfließendes Blut sammelt man in Gefäßen. Bei fernerem Zertheilen schneidet
man die Sehnen sorgfältig heraus, weil sie später Zwirn und Rockschnüre geben sollen. Das Mark
dient als besonderer Leckerbissen. Der Hausvater besorgt ebensowohl das Schlachten, wie die Zube-
reitung der Speise, kostet dabei von Zeit zu Zeit ganz gehörig, so daß er bereits vor dem Mahle ge-
sättigt sein könnte; ißt hierauf noch soviel, als sein Magen aufnehmen kann, und nun erst kommen
die Kinder und schließlich die Hunde daran. Zu solchen Renthierschmäusen werden auch die umwoh-
nenden Lappen eingeladen; und während des Septembers gibt es daher eine Völlerei nach der
anderen.

Mancherlei Seuchen richten oft große Verheerungen unter den Renthieren an, und außerdem
trägt das rauhe Klima das Seinige dazu bei, daß sich die Herden nicht so vergrößern, als es, der
Fruchtbarkeit des Ren angemessen, sein könnte. Junge und zarte Kälber erliegen der Kälte oder
leiden von den heftigen Schneestürmen, so daß sie, vollkommen ermattet, der Herde nicht mehr folgen
können; ältere Thiere können bei besonders tiefem Schnee nicht mehr hinlänglich Nahrung finden,
und wenn der Lappe unter solchen Umständen sich auch weidlich bemüht, ihnen in den Wäldern einige
Aeßung zu verschaffen, wenn er auch die mit Flechten reich behangenen Bäume niederschlägt: er kann
der Herde doch nicht das hinlängliche Futter bieten! Sehr schlimm ist es, wenn zwischen dem
Schneefall einmal Regen eintritt und der Schnee dadurch eine harte Kruste erhält. Eine solche
verwehrt den Renthieren, durch Wegschlagen der Schneedecke zu ihrer Aeßung zu gelangen. Dann
entsteht oft große Noth unter den Lappen, und Leute, welche nach dortigen Volksbegriffen als reich
gelten, werden unter solchen Umständen manchmal in einem einzigen Winter arm. Sie legen sich
nun auf Renthierdiebstahl und kommen dadurch in Fehde mit anderen Renthierbesitzern, von denen
sie, bei der That ertappt, ohne Umstände todtgeschlagen werden.

Der Renthierdiebstahl ist unter den Lappen sehr verbreitet. Man kann diesen rohen Gebirgs-
kindern Schätze von Gold zur Aufbewahrung übergeben und darf sicher sein, daß auch nicht das
Geringste davon verschwindet; man braucht nirgends Thür und Thor zu schließen vor den in der
Nähe der Gehöfte weidenden Lappen; denn Golddiebe gibt es unter ihnen ebensowenig, als unter
dem größten Theile der Norweger: aber den Renthierdiebstahl können sie nicht lassen. Der Vogd
von Tana, welchem ich sehr viele werthvolle Nachrichten über das merkwürdige Volk und sein Treiben
verdanke, hatte oft Gelegenheit, Lappen immer wegen Diebstahls, und zwar wiederholt zu bestrafen.
Wenn er den Leuten vorstellte, wie unrecht es wäre, sich an fremdem Eigenthum zu vergreifen und
wie thöricht sie an sich selbst handelten, indem sie sich der goldenen Freiheit beraubten, hörte er stets
nur die eine Antwort: "Ja, Herr, das wissen wir wohl, daß es unrecht ist, Renthiere zu stehlen:
-- -- aber sie schmecken gar zu gut! Wir können das Stehlen nicht lassen; es ist uns unmöglich,
ein fremdes Renthier zu sehen, ohne es uns anzueignen." Dieses Sichaneignen geschieht übrigens
auch zuweilen in der besten Absicht. Wenn die Lappen ihre Renthiere sammeln, kommt es ihnen
zunächst gar nicht darauf an, ob sie Thiere zusammentreiben, welche zu ihrer Herde gehören, oder
ob sie fremde zur Herde vereinigen. Die nächstwohnenden Renthierbesitzer kommen verabredetermaßen
an einer gewissen Oertlichkeit zusammen; jeder tauscht sich dann die ihm gehörigen und von ihm gezeich-
neten Thiere aus und gelangt so wieder zu seinem Eigenthum.

Der gesammte Nutzen, welchen die zahmen Renthiere ihrem Besitzer bringen, würde, auf un-
sere Verhältnisse übertragen, gar nicht zu berechnen sein. Alles, Alles, was das Thier erzeugt,
wird verwendet; nicht blos das Fleisch und die Milch, sondern auch jeder einzelne Theil des Lei-
bes. Die noch knorpeligen Hörner werden ebensogern gegessen, wie die des Elenthieres in gleichem
Zustande; aus den weichen Fellen der Renthierkälber fertigt man sich die Kleider; das Wollhaar
wird gesponnen und verwebt; aus den Knochen macht man sich allerlei Werkzeuge; die Sehnen be-
nutzt man zu Zwirn u. dgl. Außerdem muß daß Thier auch noch, namentlich während des Winters,

Das Renthier.
iſt, geht es an ein Zertheilen des Schlachtviehs. Der Kopf, der Hals, der Rücken, die Seiten, die
Bruſt werden von einander abgetrennt und dann an ein Gerüſt gehängt, außer dem Bereiche der
Hunde. Etwa noch ausfließendes Blut ſammelt man in Gefäßen. Bei fernerem Zertheilen ſchneidet
man die Sehnen ſorgfältig heraus, weil ſie ſpäter Zwirn und Rockſchnüre geben ſollen. Das Mark
dient als beſonderer Leckerbiſſen. Der Hausvater beſorgt ebenſowohl das Schlachten, wie die Zube-
reitung der Speiſe, koſtet dabei von Zeit zu Zeit ganz gehörig, ſo daß er bereits vor dem Mahle ge-
ſättigt ſein könnte; ißt hierauf noch ſoviel, als ſein Magen aufnehmen kann, und nun erſt kommen
die Kinder und ſchließlich die Hunde daran. Zu ſolchen Renthierſchmäuſen werden auch die umwoh-
nenden Lappen eingeladen; und während des Septembers gibt es daher eine Völlerei nach der
anderen.

Mancherlei Seuchen richten oft große Verheerungen unter den Renthieren an, und außerdem
trägt das rauhe Klima das Seinige dazu bei, daß ſich die Herden nicht ſo vergrößern, als es, der
Fruchtbarkeit des Ren angemeſſen, ſein könnte. Junge und zarte Kälber erliegen der Kälte oder
leiden von den heftigen Schneeſtürmen, ſo daß ſie, vollkommen ermattet, der Herde nicht mehr folgen
können; ältere Thiere können bei beſonders tiefem Schnee nicht mehr hinlänglich Nahrung finden,
und wenn der Lappe unter ſolchen Umſtänden ſich auch weidlich bemüht, ihnen in den Wäldern einige
Aeßung zu verſchaffen, wenn er auch die mit Flechten reich behangenen Bäume niederſchlägt: er kann
der Herde doch nicht das hinlängliche Futter bieten! Sehr ſchlimm iſt es, wenn zwiſchen dem
Schneefall einmal Regen eintritt und der Schnee dadurch eine harte Kruſte erhält. Eine ſolche
verwehrt den Renthieren, durch Wegſchlagen der Schneedecke zu ihrer Aeßung zu gelangen. Dann
entſteht oft große Noth unter den Lappen, und Leute, welche nach dortigen Volksbegriffen als reich
gelten, werden unter ſolchen Umſtänden manchmal in einem einzigen Winter arm. Sie legen ſich
nun auf Renthierdiebſtahl und kommen dadurch in Fehde mit anderen Renthierbeſitzern, von denen
ſie, bei der That ertappt, ohne Umſtände todtgeſchlagen werden.

Der Renthierdiebſtahl iſt unter den Lappen ſehr verbreitet. Man kann dieſen rohen Gebirgs-
kindern Schätze von Gold zur Aufbewahrung übergeben und darf ſicher ſein, daß auch nicht das
Geringſte davon verſchwindet; man braucht nirgends Thür und Thor zu ſchließen vor den in der
Nähe der Gehöfte weidenden Lappen; denn Golddiebe gibt es unter ihnen ebenſowenig, als unter
dem größten Theile der Norweger: aber den Renthierdiebſtahl können ſie nicht laſſen. Der Vogd
von Tana, welchem ich ſehr viele werthvolle Nachrichten über das merkwürdige Volk und ſein Treiben
verdanke, hatte oft Gelegenheit, Lappen immer wegen Diebſtahls, und zwar wiederholt zu beſtrafen.
Wenn er den Leuten vorſtellte, wie unrecht es wäre, ſich an fremdem Eigenthum zu vergreifen und
wie thöricht ſie an ſich ſelbſt handelten, indem ſie ſich der goldenen Freiheit beraubten, hörte er ſtets
nur die eine Antwort: „Ja, Herr, das wiſſen wir wohl, daß es unrecht iſt, Renthiere zu ſtehlen:
— — aber ſie ſchmecken gar zu gut! Wir können das Stehlen nicht laſſen; es iſt uns unmöglich,
ein fremdes Renthier zu ſehen, ohne es uns anzueignen.‟ Dieſes Sichaneignen geſchieht übrigens
auch zuweilen in der beſten Abſicht. Wenn die Lappen ihre Renthiere ſammeln, kommt es ihnen
zunächſt gar nicht darauf an, ob ſie Thiere zuſammentreiben, welche zu ihrer Herde gehören, oder
ob ſie fremde zur Herde vereinigen. Die nächſtwohnenden Renthierbeſitzer kommen verabredetermaßen
an einer gewiſſen Oertlichkeit zuſammen; jeder tauſcht ſich dann die ihm gehörigen und von ihm gezeich-
neten Thiere aus und gelangt ſo wieder zu ſeinem Eigenthum.

Der geſammte Nutzen, welchen die zahmen Renthiere ihrem Beſitzer bringen, würde, auf un-
ſere Verhältniſſe übertragen, gar nicht zu berechnen ſein. Alles, Alles, was das Thier erzeugt,
wird verwendet; nicht blos das Fleiſch und die Milch, ſondern auch jeder einzelne Theil des Lei-
bes. Die noch knorpeligen Hörner werden ebenſogern gegeſſen, wie die des Elenthieres in gleichem
Zuſtande; aus den weichen Fellen der Renthierkälber fertigt man ſich die Kleider; das Wollhaar
wird geſponnen und verwebt; aus den Knochen macht man ſich allerlei Werkzeuge; die Sehnen be-
nutzt man zu Zwirn u. dgl. Außerdem muß daß Thier auch noch, namentlich während des Winters,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0471" n="445"/><fw place="top" type="header">Das Renthier.</fw><lb/>
i&#x017F;t, geht es an ein Zertheilen des Schlachtviehs. Der Kopf, der Hals, der Rücken, die Seiten, die<lb/>
Bru&#x017F;t werden von einander abgetrennt und dann an ein Gerü&#x017F;t gehängt, außer dem Bereiche der<lb/>
Hunde. Etwa noch ausfließendes Blut &#x017F;ammelt man in Gefäßen. Bei fernerem Zertheilen &#x017F;chneidet<lb/>
man die Sehnen &#x017F;orgfältig heraus, weil &#x017F;ie &#x017F;päter Zwirn und Rock&#x017F;chnüre geben &#x017F;ollen. Das Mark<lb/>
dient als be&#x017F;onderer Leckerbi&#x017F;&#x017F;en. Der Hausvater be&#x017F;orgt eben&#x017F;owohl das Schlachten, wie die Zube-<lb/>
reitung der Spei&#x017F;e, ko&#x017F;tet dabei von Zeit zu Zeit ganz gehörig, &#x017F;o daß er bereits vor dem Mahle ge-<lb/>
&#x017F;ättigt &#x017F;ein könnte; ißt hierauf noch &#x017F;oviel, als &#x017F;ein Magen aufnehmen kann, und nun er&#x017F;t kommen<lb/>
die Kinder und &#x017F;chließlich die Hunde daran. Zu &#x017F;olchen Renthier&#x017F;chmäu&#x017F;en werden auch die umwoh-<lb/>
nenden Lappen eingeladen; und während des Septembers gibt es daher eine Völlerei nach der<lb/>
anderen.</p><lb/>
              <p>Mancherlei Seuchen richten oft große Verheerungen unter den Renthieren an, und außerdem<lb/>
trägt das rauhe Klima das Seinige dazu bei, daß &#x017F;ich die Herden nicht &#x017F;o vergrößern, als es, der<lb/>
Fruchtbarkeit des Ren angeme&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ein könnte. Junge und zarte Kälber erliegen der Kälte oder<lb/>
leiden von den heftigen Schnee&#x017F;türmen, &#x017F;o daß &#x017F;ie, vollkommen ermattet, der Herde nicht mehr folgen<lb/>
können; ältere Thiere können bei be&#x017F;onders tiefem Schnee nicht mehr hinlänglich Nahrung finden,<lb/>
und wenn der Lappe unter &#x017F;olchen Um&#x017F;tänden &#x017F;ich auch weidlich bemüht, ihnen in den Wäldern einige<lb/>
Aeßung zu ver&#x017F;chaffen, wenn er auch die mit Flechten reich behangenen Bäume nieder&#x017F;chlägt: er kann<lb/>
der Herde doch nicht das hinlängliche Futter bieten! Sehr &#x017F;chlimm i&#x017F;t es, wenn zwi&#x017F;chen dem<lb/>
Schneefall einmal Regen eintritt und der Schnee dadurch eine harte Kru&#x017F;te erhält. Eine &#x017F;olche<lb/>
verwehrt den Renthieren, durch Weg&#x017F;chlagen der Schneedecke zu ihrer Aeßung zu gelangen. Dann<lb/>
ent&#x017F;teht oft große Noth unter den Lappen, und Leute, welche nach dortigen Volksbegriffen als reich<lb/>
gelten, werden unter &#x017F;olchen Um&#x017F;tänden manchmal in einem einzigen Winter arm. Sie legen &#x017F;ich<lb/>
nun auf Renthierdieb&#x017F;tahl und kommen dadurch in Fehde mit anderen Renthierbe&#x017F;itzern, von denen<lb/>
&#x017F;ie, bei der That ertappt, ohne Um&#x017F;tände todtge&#x017F;chlagen werden.</p><lb/>
              <p>Der Renthierdieb&#x017F;tahl i&#x017F;t unter den Lappen &#x017F;ehr verbreitet. Man kann die&#x017F;en rohen Gebirgs-<lb/>
kindern Schätze von Gold zur Aufbewahrung übergeben und darf &#x017F;icher &#x017F;ein, daß auch nicht das<lb/>
Gering&#x017F;te davon ver&#x017F;chwindet; man braucht nirgends Thür und Thor zu &#x017F;chließen vor den in der<lb/>
Nähe der Gehöfte weidenden Lappen; denn Golddiebe gibt es unter ihnen eben&#x017F;owenig, als unter<lb/>
dem größten Theile der Norweger: aber den Renthierdieb&#x017F;tahl können &#x017F;ie nicht la&#x017F;&#x017F;en. Der Vogd<lb/>
von Tana, welchem ich &#x017F;ehr viele werthvolle Nachrichten über das merkwürdige Volk und &#x017F;ein Treiben<lb/>
verdanke, hatte oft Gelegenheit, Lappen immer wegen Dieb&#x017F;tahls, und zwar wiederholt zu be&#x017F;trafen.<lb/>
Wenn er den Leuten vor&#x017F;tellte, wie unrecht es wäre, &#x017F;ich an fremdem Eigenthum zu vergreifen und<lb/>
wie thöricht &#x017F;ie an &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t handelten, indem &#x017F;ie &#x017F;ich der goldenen Freiheit beraubten, hörte er &#x017F;tets<lb/>
nur die eine Antwort: &#x201E;Ja, Herr, das wi&#x017F;&#x017F;en wir wohl, daß es unrecht i&#x017F;t, Renthiere zu &#x017F;tehlen:<lb/>
&#x2014; &#x2014; aber &#x017F;ie &#x017F;chmecken gar zu gut! Wir können das Stehlen nicht la&#x017F;&#x017F;en; es i&#x017F;t uns unmöglich,<lb/>
ein fremdes Renthier zu &#x017F;ehen, ohne es uns anzueignen.&#x201F; Die&#x017F;es Sichaneignen ge&#x017F;chieht übrigens<lb/>
auch zuweilen in der be&#x017F;ten Ab&#x017F;icht. Wenn die Lappen ihre Renthiere &#x017F;ammeln, kommt es ihnen<lb/>
zunäch&#x017F;t gar nicht darauf an, ob &#x017F;ie Thiere zu&#x017F;ammentreiben, welche zu ihrer Herde gehören, oder<lb/>
ob &#x017F;ie fremde zur Herde vereinigen. Die näch&#x017F;twohnenden Renthierbe&#x017F;itzer kommen verabredetermaßen<lb/>
an einer gewi&#x017F;&#x017F;en Oertlichkeit zu&#x017F;ammen; jeder tau&#x017F;cht &#x017F;ich dann die ihm gehörigen und von ihm gezeich-<lb/>
neten Thiere aus und gelangt &#x017F;o wieder zu &#x017F;einem Eigenthum.</p><lb/>
              <p>Der ge&#x017F;ammte Nutzen, welchen die zahmen Renthiere ihrem Be&#x017F;itzer bringen, würde, auf un-<lb/>
&#x017F;ere Verhältni&#x017F;&#x017F;e übertragen, gar nicht zu berechnen &#x017F;ein. Alles, Alles, was das Thier erzeugt,<lb/>
wird verwendet; nicht blos das Flei&#x017F;ch und die Milch, &#x017F;ondern auch jeder einzelne Theil des Lei-<lb/>
bes. Die noch knorpeligen Hörner werden eben&#x017F;ogern gege&#x017F;&#x017F;en, wie die des Elenthieres in gleichem<lb/>
Zu&#x017F;tande; aus den weichen Fellen der Renthierkälber fertigt man &#x017F;ich die Kleider; das Wollhaar<lb/>
wird ge&#x017F;ponnen und verwebt; aus den Knochen macht man &#x017F;ich allerlei Werkzeuge; die Sehnen be-<lb/>
nutzt man zu Zwirn u. dgl. Außerdem muß daß Thier auch noch, namentlich während des Winters,<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[445/0471] Das Renthier. iſt, geht es an ein Zertheilen des Schlachtviehs. Der Kopf, der Hals, der Rücken, die Seiten, die Bruſt werden von einander abgetrennt und dann an ein Gerüſt gehängt, außer dem Bereiche der Hunde. Etwa noch ausfließendes Blut ſammelt man in Gefäßen. Bei fernerem Zertheilen ſchneidet man die Sehnen ſorgfältig heraus, weil ſie ſpäter Zwirn und Rockſchnüre geben ſollen. Das Mark dient als beſonderer Leckerbiſſen. Der Hausvater beſorgt ebenſowohl das Schlachten, wie die Zube- reitung der Speiſe, koſtet dabei von Zeit zu Zeit ganz gehörig, ſo daß er bereits vor dem Mahle ge- ſättigt ſein könnte; ißt hierauf noch ſoviel, als ſein Magen aufnehmen kann, und nun erſt kommen die Kinder und ſchließlich die Hunde daran. Zu ſolchen Renthierſchmäuſen werden auch die umwoh- nenden Lappen eingeladen; und während des Septembers gibt es daher eine Völlerei nach der anderen. Mancherlei Seuchen richten oft große Verheerungen unter den Renthieren an, und außerdem trägt das rauhe Klima das Seinige dazu bei, daß ſich die Herden nicht ſo vergrößern, als es, der Fruchtbarkeit des Ren angemeſſen, ſein könnte. Junge und zarte Kälber erliegen der Kälte oder leiden von den heftigen Schneeſtürmen, ſo daß ſie, vollkommen ermattet, der Herde nicht mehr folgen können; ältere Thiere können bei beſonders tiefem Schnee nicht mehr hinlänglich Nahrung finden, und wenn der Lappe unter ſolchen Umſtänden ſich auch weidlich bemüht, ihnen in den Wäldern einige Aeßung zu verſchaffen, wenn er auch die mit Flechten reich behangenen Bäume niederſchlägt: er kann der Herde doch nicht das hinlängliche Futter bieten! Sehr ſchlimm iſt es, wenn zwiſchen dem Schneefall einmal Regen eintritt und der Schnee dadurch eine harte Kruſte erhält. Eine ſolche verwehrt den Renthieren, durch Wegſchlagen der Schneedecke zu ihrer Aeßung zu gelangen. Dann entſteht oft große Noth unter den Lappen, und Leute, welche nach dortigen Volksbegriffen als reich gelten, werden unter ſolchen Umſtänden manchmal in einem einzigen Winter arm. Sie legen ſich nun auf Renthierdiebſtahl und kommen dadurch in Fehde mit anderen Renthierbeſitzern, von denen ſie, bei der That ertappt, ohne Umſtände todtgeſchlagen werden. Der Renthierdiebſtahl iſt unter den Lappen ſehr verbreitet. Man kann dieſen rohen Gebirgs- kindern Schätze von Gold zur Aufbewahrung übergeben und darf ſicher ſein, daß auch nicht das Geringſte davon verſchwindet; man braucht nirgends Thür und Thor zu ſchließen vor den in der Nähe der Gehöfte weidenden Lappen; denn Golddiebe gibt es unter ihnen ebenſowenig, als unter dem größten Theile der Norweger: aber den Renthierdiebſtahl können ſie nicht laſſen. Der Vogd von Tana, welchem ich ſehr viele werthvolle Nachrichten über das merkwürdige Volk und ſein Treiben verdanke, hatte oft Gelegenheit, Lappen immer wegen Diebſtahls, und zwar wiederholt zu beſtrafen. Wenn er den Leuten vorſtellte, wie unrecht es wäre, ſich an fremdem Eigenthum zu vergreifen und wie thöricht ſie an ſich ſelbſt handelten, indem ſie ſich der goldenen Freiheit beraubten, hörte er ſtets nur die eine Antwort: „Ja, Herr, das wiſſen wir wohl, daß es unrecht iſt, Renthiere zu ſtehlen: — — aber ſie ſchmecken gar zu gut! Wir können das Stehlen nicht laſſen; es iſt uns unmöglich, ein fremdes Renthier zu ſehen, ohne es uns anzueignen.‟ Dieſes Sichaneignen geſchieht übrigens auch zuweilen in der beſten Abſicht. Wenn die Lappen ihre Renthiere ſammeln, kommt es ihnen zunächſt gar nicht darauf an, ob ſie Thiere zuſammentreiben, welche zu ihrer Herde gehören, oder ob ſie fremde zur Herde vereinigen. Die nächſtwohnenden Renthierbeſitzer kommen verabredetermaßen an einer gewiſſen Oertlichkeit zuſammen; jeder tauſcht ſich dann die ihm gehörigen und von ihm gezeich- neten Thiere aus und gelangt ſo wieder zu ſeinem Eigenthum. Der geſammte Nutzen, welchen die zahmen Renthiere ihrem Beſitzer bringen, würde, auf un- ſere Verhältniſſe übertragen, gar nicht zu berechnen ſein. Alles, Alles, was das Thier erzeugt, wird verwendet; nicht blos das Fleiſch und die Milch, ſondern auch jeder einzelne Theil des Lei- bes. Die noch knorpeligen Hörner werden ebenſogern gegeſſen, wie die des Elenthieres in gleichem Zuſtande; aus den weichen Fellen der Renthierkälber fertigt man ſich die Kleider; das Wollhaar wird geſponnen und verwebt; aus den Knochen macht man ſich allerlei Werkzeuge; die Sehnen be- nutzt man zu Zwirn u. dgl. Außerdem muß daß Thier auch noch, namentlich während des Winters,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/471
Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/471>, abgerufen am 16.07.2024.