bösen Maden hervor, und die Renthiere verstehen ganz genau, wie viel Gutes die Vögel ihnen an- thun, denn sie lassen sie ruhig gewähren.
Jungeingefangene Renthiere werden ziemlich bald zahm; man würde sich aber einen falschen Begriff machen, wenn man die Renthiere, was die Zähmung anlangt, den in den Hausstand überge- gangenen Thieren gleichstellen wollte. Nicht einmal die Nachkommen Derjenigen, welche schon seit undenklichen Zeiten in der Gefangenschaft leben, sind so zahm, wie unsere Hausthiere, sondern be- finden sich immer noch in einem Zustande von Halbwildheit. Nur Lappen und deren Hunde sind im Stande, solche Herden zu leiten und zu beherrschen.
Uebrigens geben sich nicht blos die Lappen mit der Renthierzucht ab, sondern auch die Finnen und die Sibirier: Wogulen, Ostjaken, Samojeden, Tungusen, Koräken und Tschuktschen, welche, wie Pallas sagt, die größten Renherden halten. Nach den Erfahrungen dieses Naturforschers pflegt kein Volk die Renthiere besser, als die Koräken. Sie besitzen Herden von vierzig- bis funfzigtausend Stück und kennen unter dieser Unmasse die ihnen gehörigen genau. Gegen solche Herden verschwinden die im Westen Europas gehaltenen fast vollständig. Die norwegischen Lap- pen besitzen nach amtlichen Angaben, welche mir von dem Vogd oder Richter zu Tana gemacht wurden, im ganzen nur noch 79,000 Stück Renthiere, und zwar kommen auf den Kreis Tana und Polemak 31,000, auf den Kreis Karasjok 23,000 und auf den Kreis Kautokeino 25,000 Stück, ungefähr 1200 Besitzern zugehörig.
Das zahme Renthier ist die Stütze und der Stolz, die Lust und der Reichthum, die Qual und die Last des Lappen; nach seinen Begriffen steht Derjenige, welcher seine Renthiere nach Hunderten zählt, auf dem Gipfel menschlicher Glückseligkeit. Einzelne Lappen besitzen zwei- bis dreitausend Stück, die meisten aber höchstens deren fünfhundert; niemals jedoch erfährt ein Normann die eigent- liche Zahl der Herde eines dieser Biedermänner: denn alle Lappen glauben, daß Wolf und Unwetter sofort einige Renthiere vernichten würden, wenn sie, die Herren, unnöthiger Weise über ihre Ren- thiere, zumal über deren Zahl sprechen sollten. Mit Stolz schaut der Fjeldlappe, der eigentliche Renthierzüchter, auf alle Anderen seines Volkes herab, welche das Nomadenleben aufgegeben und sich entweder als Fischer an Flüssen, Seen und Meeresarmen niedergelassen, oder gar als Diener an Skandinavier verdingt haben; er fühlt sich als einen echten, freien Mann; er kennt nichts Höheres, als sein "Meer", wie er eine größere Renthierherde zu nennen pflegt. Sein Leben dünkt ihm köstlich; er meint, daß ihm das beste Los auf Erden gefallen wäre.
Und was für ein Leben führen diese Leute! Nicht sie bestimmen es, sondern ihre Herde: -- die Renthiere gehen wohin sie wollen, und die Lappen müssen ihnen folgen. Der Fjeldlappe führt ein wahres Hundeleben. Monatelang verbringt er den größten Theil des Tages im Freien, im Som- mer gequält und gepeinigt von den Mücken, im Winter von der Kälte, gegen die er sich nicht wehren kann. Oft kann er sich nicht einmal Feuer schüren, weil er in den Höhen, welche gerade seine Herde abweidet, kein Holz findet; oft muß er hungern, weil er sich weiter entfernt, als er will; er muß die Freuden der Familie auf lange hin entbehren. Dürftig geschützt durch die Kleidung, ist er allen Unbilden der Witterung preisgegeben; seine Lebensweise macht ihn zu einem halben Thiere. Er wäscht sich nicht; er nährt sich von geradezu abscheulichen Stoffen, die ihm der Hunger eintreibt; er hat oft keinen anderen Gefährten, als seinen treuen Hund, und theilt mit diesem redlich und treulich die geringe Nahrung, welche ihm wird. Und Alles dies erträgt er mit Lust und Liebe, seiner Herde wegen.
Das Leben der zahmen Renthiere unterscheidet sich fast in jeder Hinsicht von dem geschilderten des wilden Ren. Jene sind, wie ich oben angab, kleiner und häßlicher gestaltet; sie werfen später ihr Geweih ab, als die wilden; sie pflanzen sich auch zu einer anderen Zeit im Jahre fort, als diese; und sie sind endlich auf einer beständigen Wanderung begriffen. Manchmal unmittelbar unter der Herrschaft des Menschen lebend, genießen sie zu gewissen Zeiten ihre Freiheit im vollsten Maße: denn ihr Zwingherr weiß sie schon wieder einzufangen. Bald wächst ihnen die Nahrung so reichlich
Die Hirſche. — Das Renthier.
böſen Maden hervor, und die Renthiere verſtehen ganz genau, wie viel Gutes die Vögel ihnen an- thun, denn ſie laſſen ſie ruhig gewähren.
Jungeingefangene Renthiere werden ziemlich bald zahm; man würde ſich aber einen falſchen Begriff machen, wenn man die Renthiere, was die Zähmung anlangt, den in den Hausſtand überge- gangenen Thieren gleichſtellen wollte. Nicht einmal die Nachkommen Derjenigen, welche ſchon ſeit undenklichen Zeiten in der Gefangenſchaft leben, ſind ſo zahm, wie unſere Hausthiere, ſondern be- finden ſich immer noch in einem Zuſtande von Halbwildheit. Nur Lappen und deren Hunde ſind im Stande, ſolche Herden zu leiten und zu beherrſchen.
Uebrigens geben ſich nicht blos die Lappen mit der Renthierzucht ab, ſondern auch die Finnen und die Sibirier: Wogulen, Oſtjaken, Samojeden, Tunguſen, Koräken und Tſchuktſchen, welche, wie Pallas ſagt, die größten Renherden halten. Nach den Erfahrungen dieſes Naturforſchers pflegt kein Volk die Renthiere beſſer, als die Koräken. Sie beſitzen Herden von vierzig- bis funfzigtauſend Stück und kennen unter dieſer Unmaſſe die ihnen gehörigen genau. Gegen ſolche Herden verſchwinden die im Weſten Europas gehaltenen faſt vollſtändig. Die norwegiſchen Lap- pen beſitzen nach amtlichen Angaben, welche mir von dem Vogd oder Richter zu Tana gemacht wurden, im ganzen nur noch 79,000 Stück Renthiere, und zwar kommen auf den Kreis Tana und Polemak 31,000, auf den Kreis Karasjok 23,000 und auf den Kreis Kautokeino 25,000 Stück, ungefähr 1200 Beſitzern zugehörig.
Das zahme Renthier iſt die Stütze und der Stolz, die Luſt und der Reichthum, die Qual und die Laſt des Lappen; nach ſeinen Begriffen ſteht Derjenige, welcher ſeine Renthiere nach Hunderten zählt, auf dem Gipfel menſchlicher Glückſeligkeit. Einzelne Lappen beſitzen zwei- bis dreitauſend Stück, die meiſten aber höchſtens deren fünfhundert; niemals jedoch erfährt ein Normann die eigent- liche Zahl der Herde eines dieſer Biedermänner: denn alle Lappen glauben, daß Wolf und Unwetter ſofort einige Renthiere vernichten würden, wenn ſie, die Herren, unnöthiger Weiſe über ihre Ren- thiere, zumal über deren Zahl ſprechen ſollten. Mit Stolz ſchaut der Fjeldlappe, der eigentliche Renthierzüchter, auf alle Anderen ſeines Volkes herab, welche das Nomadenleben aufgegeben und ſich entweder als Fiſcher an Flüſſen, Seen und Meeresarmen niedergelaſſen, oder gar als Diener an Skandinavier verdingt haben; er fühlt ſich als einen echten, freien Mann; er kennt nichts Höheres, als ſein „Meer‟, wie er eine größere Renthierherde zu nennen pflegt. Sein Leben dünkt ihm köſtlich; er meint, daß ihm das beſte Los auf Erden gefallen wäre.
Und was für ein Leben führen dieſe Leute! Nicht ſie beſtimmen es, ſondern ihre Herde: — die Renthiere gehen wohin ſie wollen, und die Lappen müſſen ihnen folgen. Der Fjeldlappe führt ein wahres Hundeleben. Monatelang verbringt er den größten Theil des Tages im Freien, im Som- mer gequält und gepeinigt von den Mücken, im Winter von der Kälte, gegen die er ſich nicht wehren kann. Oft kann er ſich nicht einmal Feuer ſchüren, weil er in den Höhen, welche gerade ſeine Herde abweidet, kein Holz findet; oft muß er hungern, weil er ſich weiter entfernt, als er will; er muß die Freuden der Familie auf lange hin entbehren. Dürftig geſchützt durch die Kleidung, iſt er allen Unbilden der Witterung preisgegeben; ſeine Lebensweiſe macht ihn zu einem halben Thiere. Er wäſcht ſich nicht; er nährt ſich von geradezu abſcheulichen Stoffen, die ihm der Hunger eintreibt; er hat oft keinen anderen Gefährten, als ſeinen treuen Hund, und theilt mit dieſem redlich und treulich die geringe Nahrung, welche ihm wird. Und Alles dies erträgt er mit Luſt und Liebe, ſeiner Herde wegen.
Das Leben der zahmen Renthiere unterſcheidet ſich faſt in jeder Hinſicht von dem geſchilderten des wilden Ren. Jene ſind, wie ich oben angab, kleiner und häßlicher geſtaltet; ſie werfen ſpäter ihr Geweih ab, als die wilden; ſie pflanzen ſich auch zu einer anderen Zeit im Jahre fort, als dieſe; und ſie ſind endlich auf einer beſtändigen Wanderung begriffen. Manchmal unmittelbar unter der Herrſchaft des Menſchen lebend, genießen ſie zu gewiſſen Zeiten ihre Freiheit im vollſten Maße: denn ihr Zwingherr weiß ſie ſchon wieder einzufangen. Bald wächſt ihnen die Nahrung ſo reichlich
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[442/0468]
Die Hirſche. — Das Renthier.
böſen Maden hervor, und die Renthiere verſtehen ganz genau, wie viel Gutes die Vögel ihnen an-
thun, denn ſie laſſen ſie ruhig gewähren.
Jungeingefangene Renthiere werden ziemlich bald zahm; man würde ſich aber einen falſchen
Begriff machen, wenn man die Renthiere, was die Zähmung anlangt, den in den Hausſtand überge-
gangenen Thieren gleichſtellen wollte. Nicht einmal die Nachkommen Derjenigen, welche ſchon ſeit
undenklichen Zeiten in der Gefangenſchaft leben, ſind ſo zahm, wie unſere Hausthiere, ſondern be-
finden ſich immer noch in einem Zuſtande von Halbwildheit. Nur Lappen und deren Hunde ſind
im Stande, ſolche Herden zu leiten und zu beherrſchen.
Uebrigens geben ſich nicht blos die Lappen mit der Renthierzucht ab, ſondern auch die Finnen
und die Sibirier: Wogulen, Oſtjaken, Samojeden, Tunguſen, Koräken und Tſchuktſchen, welche,
wie Pallas ſagt, die größten Renherden halten. Nach den Erfahrungen dieſes Naturforſchers
pflegt kein Volk die Renthiere beſſer, als die Koräken. Sie beſitzen Herden von vierzig- bis
funfzigtauſend Stück und kennen unter dieſer Unmaſſe die ihnen gehörigen genau. Gegen ſolche
Herden verſchwinden die im Weſten Europas gehaltenen faſt vollſtändig. Die norwegiſchen Lap-
pen beſitzen nach amtlichen Angaben, welche mir von dem Vogd oder Richter zu Tana gemacht
wurden, im ganzen nur noch 79,000 Stück Renthiere, und zwar kommen auf den Kreis Tana
und Polemak 31,000, auf den Kreis Karasjok 23,000 und auf den Kreis Kautokeino
25,000 Stück, ungefähr 1200 Beſitzern zugehörig.
Das zahme Renthier iſt die Stütze und der Stolz, die Luſt und der Reichthum, die Qual und
die Laſt des Lappen; nach ſeinen Begriffen ſteht Derjenige, welcher ſeine Renthiere nach Hunderten
zählt, auf dem Gipfel menſchlicher Glückſeligkeit. Einzelne Lappen beſitzen zwei- bis dreitauſend
Stück, die meiſten aber höchſtens deren fünfhundert; niemals jedoch erfährt ein Normann die eigent-
liche Zahl der Herde eines dieſer Biedermänner: denn alle Lappen glauben, daß Wolf und Unwetter
ſofort einige Renthiere vernichten würden, wenn ſie, die Herren, unnöthiger Weiſe über ihre Ren-
thiere, zumal über deren Zahl ſprechen ſollten. Mit Stolz ſchaut der Fjeldlappe, der eigentliche
Renthierzüchter, auf alle Anderen ſeines Volkes herab, welche das Nomadenleben aufgegeben und
ſich entweder als Fiſcher an Flüſſen, Seen und Meeresarmen niedergelaſſen, oder gar als Diener an
Skandinavier verdingt haben; er fühlt ſich als einen echten, freien Mann; er kennt nichts Höheres,
als ſein „Meer‟, wie er eine größere Renthierherde zu nennen pflegt. Sein Leben dünkt ihm köſtlich;
er meint, daß ihm das beſte Los auf Erden gefallen wäre.
Und was für ein Leben führen dieſe Leute! Nicht ſie beſtimmen es, ſondern ihre Herde: —
die Renthiere gehen wohin ſie wollen, und die Lappen müſſen ihnen folgen. Der Fjeldlappe führt
ein wahres Hundeleben. Monatelang verbringt er den größten Theil des Tages im Freien, im Som-
mer gequält und gepeinigt von den Mücken, im Winter von der Kälte, gegen die er ſich nicht wehren
kann. Oft kann er ſich nicht einmal Feuer ſchüren, weil er in den Höhen, welche gerade ſeine Herde
abweidet, kein Holz findet; oft muß er hungern, weil er ſich weiter entfernt, als er will; er muß die
Freuden der Familie auf lange hin entbehren. Dürftig geſchützt durch die Kleidung, iſt er allen
Unbilden der Witterung preisgegeben; ſeine Lebensweiſe macht ihn zu einem halben Thiere. Er wäſcht
ſich nicht; er nährt ſich von geradezu abſcheulichen Stoffen, die ihm der Hunger eintreibt; er hat oft
keinen anderen Gefährten, als ſeinen treuen Hund, und theilt mit dieſem redlich und treulich
die geringe Nahrung, welche ihm wird. Und Alles dies erträgt er mit Luſt und Liebe, ſeiner
Herde wegen.
Das Leben der zahmen Renthiere unterſcheidet ſich faſt in jeder Hinſicht von dem geſchilderten
des wilden Ren. Jene ſind, wie ich oben angab, kleiner und häßlicher geſtaltet; ſie werfen ſpäter
ihr Geweih ab, als die wilden; ſie pflanzen ſich auch zu einer anderen Zeit im Jahre fort, als dieſe;
und ſie ſind endlich auf einer beſtändigen Wanderung begriffen. Manchmal unmittelbar unter der
Herrſchaft des Menſchen lebend, genießen ſie zu gewiſſen Zeiten ihre Freiheit im vollſten Maße:
denn ihr Zwingherr weiß ſie ſchon wieder einzufangen. Bald wächſt ihnen die Nahrung ſo reichlich
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/468>, abgerufen am 23.11.2024.
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