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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Die Hirsche. -- Das Renthier.
Mitglieder des Rudels wiederkäuend ruhen, immer stehend das Amt des Wächters ausübt; will es
sich selbst niederlassen, so steht augenblicklich ein anderes Altthier auf und übernimmt die Wache.
Niemals wird ein Rudel Renthiere an Halden weiden, wo es gegen den Wind beschlichen werden
kann; es sucht sich stets Stellen aus, auf denen es die Ankunft eines Feindes schon aus großer Ent-
fernung wahrnehmen kann, und dann trollt es eilig davon, gewöhnlich mehrere Stunden, ja selbst
meilenweit. Es kehrt aber nach guten Plätzen zurück, wenn auch nicht in den nächsten Tagen. Manche
Halden des Dovre Fjelds, welche reich an den saftigsten Pflanzen sind, haben als gute Jagdplätze
eine gewisse Berühmtheit erlangt.

Die Jagd des wilden Ren erfordert einen leidenschaftlichen Jäger oder einen echten Natur-
forscher, dem es auf Beschwerden und Entbehrungen nicht ankommt; für gewöhnliche Sonntags-
schützen ist sie durchaus kein Vergnügen. Es gibt in jenen Höhen, wo das vorsichtige Wild
sich aufhält, keine Sennhütten oder Sennhäuschen mit allerliebsten Sennerinnen oder zitherschla-
genden Sennbuben, sondern nur Beschwerden und Mühsale. Eine Lustwandelung in jenen Höhen
verlangt tüchtige Wasserstiefel und abgehärtete Füße für dieselben, einen breiten Rücken, welcher sich
Etwas aufpacken läßt, und vor Allem eine gesunde Brust, welche stundenlang beim Auf- und Nieder-
steigen ohne Beschwerde ihre Dienste thut. Wie bei der Gemsenjagd, muß man sich für mehrere
Tage mit Lebensmitteln versehen; wie der Steinbockjäger in Felsklüften oder, wenn es gut geht, in
verlassenen Steinhütten, welche man vorher gegen den Luftzugang zu schließen hat, während der
Nachtzeit Unterkommen suchen; denn wenn man in einer der Sennhütten, die sich auch nicht überall
finden, übernachten will, muß man im günstigen Fall seine tausend bis anderthalbtausend Fuß
hinab und am anderen Morgen natürlich wieder hinauf steigen. Auf der Jagd heißt es aufpassen!
Alles muß beobachtet werden, der Wind und das Wetter, der Stand der Sonne u. s. w. Man
muß die Lieblingsplätze des Renthiers kennen, mit seinen Sitten vertraut sein und zu schleichen ver-
stehen, wie eine Katze. Ganz besonders nothwendig ist es auch, daß man die Fährten wohl zu
deuten weiß, um zu erfahren, ob sie von heute oder gestern oder von noch früherer Zeit herrührten.
Jedes abgerissene Blatt auf den Halden, jeder weggetragene Stein gibt Fingerzeige. Jn Norwegen
ist bei der Renthierjagd allerdings nicht an Gefahr zu denken; aber Beschwerden gibt es genug. Die
Halden bestehen nur aus wirr durch- und über einander geworfenen Schieferplatten, welche, wenn
man über sie weggeht, in Bewegung gerathen, oder so scharfkantige Ecken und Spitzen hervorstrecken,
daß jeder Schritt durch die Stiefeln hindurch fühlbar wird; die außerordentliche Glätte der Platten,
über welche das Wasser herabläuft, vermehrt nur die Schwierigkeit des Weges, und das jede
Viertelstunde nothwendig werdende Ueberschreiten der glatt gescheuerten Rinnsale erfordert viele und
nicht eben belustigende Springübungen, wenn man es sonst vermeiden will, im kalten Gebirgswasser
ein unfreiwilliges Bad zu nehmen und sich dabei Arme und Beine blutig zu schlagen. Und selbst,
wenn man alle diese Unannehmlichkeiten nicht achten wollte, würde die Jagd noch immerhin ihre eigenen
Schwierigkeiten haben. Die Färbung des Ren stimmt stets so genau mit dem jeweiligen Aufent-
haltsort überein, daß es überaus schwer hält, ein Renthier, welches sich gelagert hat, wahrzunehmen;
an eine weidende Herde aber kommt man so leicht nicht heran. Die Geröllhalden spiegeln dem
Jäger tückisch beständig das Bild des gesuchten Wildes vor; er glaubt sogar alle Sprossen der
Geweihe zu erkennen, und selbst das Fernrohr hilft solche Lügen treulich mit bestärken; man geht
eine gute volle Stunde, eine halbe Stunde weit, kommt zur Stelle und sieht, daß man sich ge-
täuscht und anstatt der Thiere nur Felsblöcke entdeckt hat. Oder, was noch schlimmer, man hat
die Renthiere für Steine angesehen, ist guten Muthes auf sie losgegangen und sieht nun plötzlich,
daß sich das Rudel in einer Entfernung von ungefähr zwei- bis dreihundert Schritten erhebt und
das Weite sucht. Die größte Vorsicht wird nöthig, wenn man endlich nahe zum Rudel kommt.
Jede rasche Bewegung ist jetzt aufs strengste verpönt. Die norwegischen Jäger haben eine eigene Art
niederzuknien und aufzustehen: sie sinken Zoll um Zoll mit gleichmäßiger Langsamkeit förmlich in sich
zusammen und verschwinden so allgemach, daß ein weidendes Renthier, selbst wenn es die sich

Die Hirſche. — Das Renthier.
Mitglieder des Rudels wiederkäuend ruhen, immer ſtehend das Amt des Wächters ausübt; will es
ſich ſelbſt niederlaſſen, ſo ſteht augenblicklich ein anderes Altthier auf und übernimmt die Wache.
Niemals wird ein Rudel Renthiere an Halden weiden, wo es gegen den Wind beſchlichen werden
kann; es ſucht ſich ſtets Stellen aus, auf denen es die Ankunft eines Feindes ſchon aus großer Ent-
fernung wahrnehmen kann, und dann trollt es eilig davon, gewöhnlich mehrere Stunden, ja ſelbſt
meilenweit. Es kehrt aber nach guten Plätzen zurück, wenn auch nicht in den nächſten Tagen. Manche
Halden des Dovre Fjelds, welche reich an den ſaftigſten Pflanzen ſind, haben als gute Jagdplätze
eine gewiſſe Berühmtheit erlangt.

Die Jagd des wilden Ren erfordert einen leidenſchaftlichen Jäger oder einen echten Natur-
forſcher, dem es auf Beſchwerden und Entbehrungen nicht ankommt; für gewöhnliche Sonntags-
ſchützen iſt ſie durchaus kein Vergnügen. Es gibt in jenen Höhen, wo das vorſichtige Wild
ſich aufhält, keine Sennhütten oder Sennhäuschen mit allerliebſten Sennerinnen oder zitherſchla-
genden Sennbuben, ſondern nur Beſchwerden und Mühſale. Eine Luſtwandelung in jenen Höhen
verlangt tüchtige Waſſerſtiefel und abgehärtete Füße für dieſelben, einen breiten Rücken, welcher ſich
Etwas aufpacken läßt, und vor Allem eine geſunde Bruſt, welche ſtundenlang beim Auf- und Nieder-
ſteigen ohne Beſchwerde ihre Dienſte thut. Wie bei der Gemſenjagd, muß man ſich für mehrere
Tage mit Lebensmitteln verſehen; wie der Steinbockjäger in Felsklüften oder, wenn es gut geht, in
verlaſſenen Steinhütten, welche man vorher gegen den Luftzugang zu ſchließen hat, während der
Nachtzeit Unterkommen ſuchen; denn wenn man in einer der Sennhütten, die ſich auch nicht überall
finden, übernachten will, muß man im günſtigen Fall ſeine tauſend bis anderthalbtauſend Fuß
hinab und am anderen Morgen natürlich wieder hinauf ſteigen. Auf der Jagd heißt es aufpaſſen!
Alles muß beobachtet werden, der Wind und das Wetter, der Stand der Sonne u. ſ. w. Man
muß die Lieblingsplätze des Renthiers kennen, mit ſeinen Sitten vertraut ſein und zu ſchleichen ver-
ſtehen, wie eine Katze. Ganz beſonders nothwendig iſt es auch, daß man die Fährten wohl zu
deuten weiß, um zu erfahren, ob ſie von heute oder geſtern oder von noch früherer Zeit herrührten.
Jedes abgeriſſene Blatt auf den Halden, jeder weggetragene Stein gibt Fingerzeige. Jn Norwegen
iſt bei der Renthierjagd allerdings nicht an Gefahr zu denken; aber Beſchwerden gibt es genug. Die
Halden beſtehen nur aus wirr durch- und über einander geworfenen Schieferplatten, welche, wenn
man über ſie weggeht, in Bewegung gerathen, oder ſo ſcharfkantige Ecken und Spitzen hervorſtrecken,
daß jeder Schritt durch die Stiefeln hindurch fühlbar wird; die außerordentliche Glätte der Platten,
über welche das Waſſer herabläuft, vermehrt nur die Schwierigkeit des Weges, und das jede
Viertelſtunde nothwendig werdende Ueberſchreiten der glatt geſcheuerten Rinnſale erfordert viele und
nicht eben beluſtigende Springübungen, wenn man es ſonſt vermeiden will, im kalten Gebirgswaſſer
ein unfreiwilliges Bad zu nehmen und ſich dabei Arme und Beine blutig zu ſchlagen. Und ſelbſt,
wenn man alle dieſe Unannehmlichkeiten nicht achten wollte, würde die Jagd noch immerhin ihre eigenen
Schwierigkeiten haben. Die Färbung des Ren ſtimmt ſtets ſo genau mit dem jeweiligen Aufent-
haltsort überein, daß es überaus ſchwer hält, ein Renthier, welches ſich gelagert hat, wahrzunehmen;
an eine weidende Herde aber kommt man ſo leicht nicht heran. Die Geröllhalden ſpiegeln dem
Jäger tückiſch beſtändig das Bild des geſuchten Wildes vor; er glaubt ſogar alle Sproſſen der
Geweihe zu erkennen, und ſelbſt das Fernrohr hilft ſolche Lügen treulich mit beſtärken; man geht
eine gute volle Stunde, eine halbe Stunde weit, kommt zur Stelle und ſieht, daß man ſich ge-
täuſcht und anſtatt der Thiere nur Felsblöcke entdeckt hat. Oder, was noch ſchlimmer, man hat
die Renthiere für Steine angeſehen, iſt guten Muthes auf ſie losgegangen und ſieht nun plötzlich,
daß ſich das Rudel in einer Entfernung von ungefähr zwei- bis dreihundert Schritten erhebt und
das Weite ſucht. Die größte Vorſicht wird nöthig, wenn man endlich nahe zum Rudel kommt.
Jede raſche Bewegung iſt jetzt aufs ſtrengſte verpönt. Die norwegiſchen Jäger haben eine eigene Art
niederzuknien und aufzuſtehen: ſie ſinken Zoll um Zoll mit gleichmäßiger Langſamkeit förmlich in ſich
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[438/0464] Die Hirſche. — Das Renthier. Mitglieder des Rudels wiederkäuend ruhen, immer ſtehend das Amt des Wächters ausübt; will es ſich ſelbſt niederlaſſen, ſo ſteht augenblicklich ein anderes Altthier auf und übernimmt die Wache. Niemals wird ein Rudel Renthiere an Halden weiden, wo es gegen den Wind beſchlichen werden kann; es ſucht ſich ſtets Stellen aus, auf denen es die Ankunft eines Feindes ſchon aus großer Ent- fernung wahrnehmen kann, und dann trollt es eilig davon, gewöhnlich mehrere Stunden, ja ſelbſt meilenweit. Es kehrt aber nach guten Plätzen zurück, wenn auch nicht in den nächſten Tagen. Manche Halden des Dovre Fjelds, welche reich an den ſaftigſten Pflanzen ſind, haben als gute Jagdplätze eine gewiſſe Berühmtheit erlangt. Die Jagd des wilden Ren erfordert einen leidenſchaftlichen Jäger oder einen echten Natur- forſcher, dem es auf Beſchwerden und Entbehrungen nicht ankommt; für gewöhnliche Sonntags- ſchützen iſt ſie durchaus kein Vergnügen. Es gibt in jenen Höhen, wo das vorſichtige Wild ſich aufhält, keine Sennhütten oder Sennhäuschen mit allerliebſten Sennerinnen oder zitherſchla- genden Sennbuben, ſondern nur Beſchwerden und Mühſale. Eine Luſtwandelung in jenen Höhen verlangt tüchtige Waſſerſtiefel und abgehärtete Füße für dieſelben, einen breiten Rücken, welcher ſich Etwas aufpacken läßt, und vor Allem eine geſunde Bruſt, welche ſtundenlang beim Auf- und Nieder- ſteigen ohne Beſchwerde ihre Dienſte thut. Wie bei der Gemſenjagd, muß man ſich für mehrere Tage mit Lebensmitteln verſehen; wie der Steinbockjäger in Felsklüften oder, wenn es gut geht, in verlaſſenen Steinhütten, welche man vorher gegen den Luftzugang zu ſchließen hat, während der Nachtzeit Unterkommen ſuchen; denn wenn man in einer der Sennhütten, die ſich auch nicht überall finden, übernachten will, muß man im günſtigen Fall ſeine tauſend bis anderthalbtauſend Fuß hinab und am anderen Morgen natürlich wieder hinauf ſteigen. Auf der Jagd heißt es aufpaſſen! Alles muß beobachtet werden, der Wind und das Wetter, der Stand der Sonne u. ſ. w. Man muß die Lieblingsplätze des Renthiers kennen, mit ſeinen Sitten vertraut ſein und zu ſchleichen ver- ſtehen, wie eine Katze. Ganz beſonders nothwendig iſt es auch, daß man die Fährten wohl zu deuten weiß, um zu erfahren, ob ſie von heute oder geſtern oder von noch früherer Zeit herrührten. Jedes abgeriſſene Blatt auf den Halden, jeder weggetragene Stein gibt Fingerzeige. Jn Norwegen iſt bei der Renthierjagd allerdings nicht an Gefahr zu denken; aber Beſchwerden gibt es genug. Die Halden beſtehen nur aus wirr durch- und über einander geworfenen Schieferplatten, welche, wenn man über ſie weggeht, in Bewegung gerathen, oder ſo ſcharfkantige Ecken und Spitzen hervorſtrecken, daß jeder Schritt durch die Stiefeln hindurch fühlbar wird; die außerordentliche Glätte der Platten, über welche das Waſſer herabläuft, vermehrt nur die Schwierigkeit des Weges, und das jede Viertelſtunde nothwendig werdende Ueberſchreiten der glatt geſcheuerten Rinnſale erfordert viele und nicht eben beluſtigende Springübungen, wenn man es ſonſt vermeiden will, im kalten Gebirgswaſſer ein unfreiwilliges Bad zu nehmen und ſich dabei Arme und Beine blutig zu ſchlagen. Und ſelbſt, wenn man alle dieſe Unannehmlichkeiten nicht achten wollte, würde die Jagd noch immerhin ihre eigenen Schwierigkeiten haben. Die Färbung des Ren ſtimmt ſtets ſo genau mit dem jeweiligen Aufent- haltsort überein, daß es überaus ſchwer hält, ein Renthier, welches ſich gelagert hat, wahrzunehmen; an eine weidende Herde aber kommt man ſo leicht nicht heran. Die Geröllhalden ſpiegeln dem Jäger tückiſch beſtändig das Bild des geſuchten Wildes vor; er glaubt ſogar alle Sproſſen der Geweihe zu erkennen, und ſelbſt das Fernrohr hilft ſolche Lügen treulich mit beſtärken; man geht eine gute volle Stunde, eine halbe Stunde weit, kommt zur Stelle und ſieht, daß man ſich ge- täuſcht und anſtatt der Thiere nur Felsblöcke entdeckt hat. Oder, was noch ſchlimmer, man hat die Renthiere für Steine angeſehen, iſt guten Muthes auf ſie losgegangen und ſieht nun plötzlich, daß ſich das Rudel in einer Entfernung von ungefähr zwei- bis dreihundert Schritten erhebt und das Weite ſucht. Die größte Vorſicht wird nöthig, wenn man endlich nahe zum Rudel kommt. Jede raſche Bewegung iſt jetzt aufs ſtrengſte verpönt. Die norwegiſchen Jäger haben eine eigene Art niederzuknien und aufzuſtehen: ſie ſinken Zoll um Zoll mit gleichmäßiger Langſamkeit förmlich in ſich zuſammen und verſchwinden ſo allgemach, daß ein weidendes Renthier, ſelbſt wenn es die ſich

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/464>, abgerufen am 23.11.2024.