den Wind herankommt, sich aufs sorgfältigste zu verbergen. Dabei ist das Thier lecker; denn es sucht sich nur die besten Alpenpflanzen heraus, und sein Gefühl beweist es sehr deutlich, wenn es die Mücken plagen; ja, das zahme Renthier zuckt bei der leisesten Berührung zusammen. Alle Jäger, welche wilde Renthiere beobachteten, schreiben ihnen eine große Klugheit, ja selbst eine gewisse List zu: scheu und vorsichtig im höchsten Grade sind sie unzweifelhaft. Gegen andere Thiere beweisen die Renthiere nicht die geringste Scheu. Sie kommen vertrauensvoll an die Kühe und Pferde heran, welche in ihren Höhen weiden, und vereinigen sich da, wo es Zahme ihrer Art gibt, sehr gern mit diesen, obgleich sie sehr wohl wissen, daß sie es nicht mit ihres Gleichen zu thun haben. Hieraus geht hervor, daß ihre Scheu und Furcht vor den Menschen ein Ergebniß ihrer Erfahrung ist, und somit muß man ihnen einen ziemlich hohen Grad von Verstand zugestehen.
Das wilde Renthier äßt sich im Sommer mit den saftigen Alpenkräutern, namentlich mit den Blättern und Blüthen der Schneeranunkel, des Renthierampfers, der Saponarien, des Hahnenfußes, Schwingels etc. Während des Winters gräbt es mit seinen Hufen Renthierflechten aus und frißt von den Steinen die Schnee- und Osterflechten ab. Jn Norwegen meidet es auch im Winter den nah- rungsreichen Wald, geht aber dann öfters in den Sumpf, um sich dort von allerlei Kräutern zu äßen. Sehr gern frißt es die Knospen und jungen Schößlinge der Zwergbirken, niemals aber die anderer Birkenarten. Die Auswahl unter der Nahrung ist immer eine höchst sorgfältige, und deshalb ist das Thier auch auf sehr wenige Pflanzen beschränkt. Niemals gräbt es mit dem Geweih, wie oft behauptet worden ist, sondern immer mit seinen Vorderläufen. Am eifrigsten geht es in den Morgen- und Abendstunden der Nahrung nach; während der Mittagszeit ruht es wiederkäuend, am liebsten auf Schneefeldern und Gletschern, oder wenigstens ganz in der Nähe derselben. Ob es auch des Nachts schläft, ist nicht bekannt.
Jn Norwegen tritt der Hirsch Ende Septembers auf die Brunst. Sein Geweih, welches Ende Novembers oder Dezembers abgeworfen wurde, ist jetzt wieder vollständig geworden, und er weiß es zu gebrauchen. Mit lautem Schrei ruft er Mitbewerber heran, orgelt wiederholt in der ausdrucksvollsten Weise, häufige Kämpfe mit den betreffenden Mitbewerbern bestehend, angesichts der jetzt sehr ver- stärkten Rudel. Die wackeren Streiter verschlingen sich oft mit ihren Geweihen und bleiben manchmal stundenlang an einander gefesselt; dabei kommt es dann auch vor, wie bei den Hirschen, daß die schwächeren Renthierböcke, welche von den älteren während der Fortpflanzungszeit sehr übermüthig behandelt werden, sich die Gelegenheit zu Nutze machen und die brünstigen Thiere beschlagen. Gegen das Altthier benimmt sich der Hirsch sehr ungestüm. Er treibt das erkorene Stück oft lange umher, bevor es zur Paarung kommt. Dann wird er zärtlicher. Hat er nach längerem Lauf endlich Halt gemacht, so beleckt er die auserkorene Schöne, hebt den Kopf in die Höhe und stößt hierbei rasch und hinter einander dumpfe, grunzende Laute aus, bläht seine Lippen auf, schlägt sie wieder zusammen, beugt den hinteren Theil des Leibes nieder und geberdet sich überhaupt sehr eigenthümlich. Der Be- schlag selbst geht außerordentlich rasch vor sich, währt aber immer nur kurze Zeit; dabei pfaucht der Hirsch niesend mit der Nase. Mit Dam- oder Edelwild paart sich das Ren ungezwungen nicht. Mitte Aprils ist die Satzzeit; das alte Thier geht also etwa dreißig Wochen hoch beschlagen. Niemals setzen wilde Renthiere mehr als ein Kalb. Dieses ist ein kleines schmuckes Geschöpf, welches von seiner Mutter zärtlich geliebt und lange gesäugt wird. Jn Norwegen nennt man das junge Renthier entweder Bockkalb oder Semlekalb, je nachdem es männlich oder weiblich ist; die erwachsenen Renthiere werden ebenfalls als Bock und Semle unterschieden. Schon gegen das Frühjahr hin trennt sich das hochbeschlagene Thier mit einem Bock von einem Rudel und schweift nur mit diesem bis zur Satzzeit und auch nach ihr noch umher. Solche Familien, welche aus dem Bock, der Semle und dem Kalb bestehen, trifft man häufig; die Schmalthiere und die jungen Böcke bilden ihrerseits stärkere Rudel, bei denen ein geltes Altthier die Leitung übernimmt. Erst wenn die Kälber groß geworden sind, vereinigen sich die Familien wieder mit den Rudeln; dann theilen sich die Altthiere in die Lei- tung. Die Renthiere sind so besorgt um ihre Sicherheit, daß das Leitthier, auch wenn alle übrigen
Das Renthier.
den Wind herankommt, ſich aufs ſorgfältigſte zu verbergen. Dabei iſt das Thier lecker; denn es ſucht ſich nur die beſten Alpenpflanzen heraus, und ſein Gefühl beweiſt es ſehr deutlich, wenn es die Mücken plagen; ja, das zahme Renthier zuckt bei der leiſeſten Berührung zuſammen. Alle Jäger, welche wilde Renthiere beobachteten, ſchreiben ihnen eine große Klugheit, ja ſelbſt eine gewiſſe Liſt zu: ſcheu und vorſichtig im höchſten Grade ſind ſie unzweifelhaft. Gegen andere Thiere beweiſen die Renthiere nicht die geringſte Scheu. Sie kommen vertrauensvoll an die Kühe und Pferde heran, welche in ihren Höhen weiden, und vereinigen ſich da, wo es Zahme ihrer Art gibt, ſehr gern mit dieſen, obgleich ſie ſehr wohl wiſſen, daß ſie es nicht mit ihres Gleichen zu thun haben. Hieraus geht hervor, daß ihre Scheu und Furcht vor den Menſchen ein Ergebniß ihrer Erfahrung iſt, und ſomit muß man ihnen einen ziemlich hohen Grad von Verſtand zugeſtehen.
Das wilde Renthier äßt ſich im Sommer mit den ſaftigen Alpenkräutern, namentlich mit den Blättern und Blüthen der Schneeranunkel, des Renthierampfers, der Saponarien, des Hahnenfußes, Schwingels ꝛc. Während des Winters gräbt es mit ſeinen Hufen Renthierflechten aus und frißt von den Steinen die Schnee- und Oſterflechten ab. Jn Norwegen meidet es auch im Winter den nah- rungsreichen Wald, geht aber dann öfters in den Sumpf, um ſich dort von allerlei Kräutern zu äßen. Sehr gern frißt es die Knospen und jungen Schößlinge der Zwergbirken, niemals aber die anderer Birkenarten. Die Auswahl unter der Nahrung iſt immer eine höchſt ſorgfältige, und deshalb iſt das Thier auch auf ſehr wenige Pflanzen beſchränkt. Niemals gräbt es mit dem Geweih, wie oft behauptet worden iſt, ſondern immer mit ſeinen Vorderläufen. Am eifrigſten geht es in den Morgen- und Abendſtunden der Nahrung nach; während der Mittagszeit ruht es wiederkäuend, am liebſten auf Schneefeldern und Gletſchern, oder wenigſtens ganz in der Nähe derſelben. Ob es auch des Nachts ſchläft, iſt nicht bekannt.
Jn Norwegen tritt der Hirſch Ende Septembers auf die Brunſt. Sein Geweih, welches Ende Novembers oder Dezembers abgeworfen wurde, iſt jetzt wieder vollſtändig geworden, und er weiß es zu gebrauchen. Mit lautem Schrei ruft er Mitbewerber heran, orgelt wiederholt in der ausdrucksvollſten Weiſe, häufige Kämpfe mit den betreffenden Mitbewerbern beſtehend, angeſichts der jetzt ſehr ver- ſtärkten Rudel. Die wackeren Streiter verſchlingen ſich oft mit ihren Geweihen und bleiben manchmal ſtundenlang an einander gefeſſelt; dabei kommt es dann auch vor, wie bei den Hirſchen, daß die ſchwächeren Renthierböcke, welche von den älteren während der Fortpflanzungszeit ſehr übermüthig behandelt werden, ſich die Gelegenheit zu Nutze machen und die brünſtigen Thiere beſchlagen. Gegen das Altthier benimmt ſich der Hirſch ſehr ungeſtüm. Er treibt das erkorene Stück oft lange umher, bevor es zur Paarung kommt. Dann wird er zärtlicher. Hat er nach längerem Lauf endlich Halt gemacht, ſo beleckt er die auserkorene Schöne, hebt den Kopf in die Höhe und ſtößt hierbei raſch und hinter einander dumpfe, grunzende Laute aus, bläht ſeine Lippen auf, ſchlägt ſie wieder zuſammen, beugt den hinteren Theil des Leibes nieder und geberdet ſich überhaupt ſehr eigenthümlich. Der Be- ſchlag ſelbſt geht außerordentlich raſch vor ſich, währt aber immer nur kurze Zeit; dabei pfaucht der Hirſch nieſend mit der Naſe. Mit Dam- oder Edelwild paart ſich das Ren ungezwungen nicht. Mitte Aprils iſt die Satzzeit; das alte Thier geht alſo etwa dreißig Wochen hoch beſchlagen. Niemals ſetzen wilde Renthiere mehr als ein Kalb. Dieſes iſt ein kleines ſchmuckes Geſchöpf, welches von ſeiner Mutter zärtlich geliebt und lange geſäugt wird. Jn Norwegen nennt man das junge Renthier entweder Bockkalb oder Semlekalb, je nachdem es männlich oder weiblich iſt; die erwachſenen Renthiere werden ebenfalls als Bock und Semle unterſchieden. Schon gegen das Frühjahr hin trennt ſich das hochbeſchlagene Thier mit einem Bock von einem Rudel und ſchweift nur mit dieſem bis zur Satzzeit und auch nach ihr noch umher. Solche Familien, welche aus dem Bock, der Semle und dem Kalb beſtehen, trifft man häufig; die Schmalthiere und die jungen Böcke bilden ihrerſeits ſtärkere Rudel, bei denen ein geltes Altthier die Leitung übernimmt. Erſt wenn die Kälber groß geworden ſind, vereinigen ſich die Familien wieder mit den Rudeln; dann theilen ſich die Altthiere in die Lei- tung. Die Renthiere ſind ſo beſorgt um ihre Sicherheit, daß das Leitthier, auch wenn alle übrigen
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[437/0463]
Das Renthier.
den Wind herankommt, ſich aufs ſorgfältigſte zu verbergen. Dabei iſt das Thier lecker; denn es
ſucht ſich nur die beſten Alpenpflanzen heraus, und ſein Gefühl beweiſt es ſehr deutlich, wenn es die
Mücken plagen; ja, das zahme Renthier zuckt bei der leiſeſten Berührung zuſammen. Alle Jäger,
welche wilde Renthiere beobachteten, ſchreiben ihnen eine große Klugheit, ja ſelbſt eine gewiſſe Liſt
zu: ſcheu und vorſichtig im höchſten Grade ſind ſie unzweifelhaft. Gegen andere Thiere beweiſen die
Renthiere nicht die geringſte Scheu. Sie kommen vertrauensvoll an die Kühe und Pferde heran,
welche in ihren Höhen weiden, und vereinigen ſich da, wo es Zahme ihrer Art gibt, ſehr gern mit dieſen,
obgleich ſie ſehr wohl wiſſen, daß ſie es nicht mit ihres Gleichen zu thun haben. Hieraus geht hervor,
daß ihre Scheu und Furcht vor den Menſchen ein Ergebniß ihrer Erfahrung iſt, und ſomit muß man
ihnen einen ziemlich hohen Grad von Verſtand zugeſtehen.
Das wilde Renthier äßt ſich im Sommer mit den ſaftigen Alpenkräutern, namentlich mit den
Blättern und Blüthen der Schneeranunkel, des Renthierampfers, der Saponarien, des Hahnenfußes,
Schwingels ꝛc. Während des Winters gräbt es mit ſeinen Hufen Renthierflechten aus und frißt von
den Steinen die Schnee- und Oſterflechten ab. Jn Norwegen meidet es auch im Winter den nah-
rungsreichen Wald, geht aber dann öfters in den Sumpf, um ſich dort von allerlei Kräutern zu
äßen. Sehr gern frißt es die Knospen und jungen Schößlinge der Zwergbirken, niemals aber
die anderer Birkenarten. Die Auswahl unter der Nahrung iſt immer eine höchſt ſorgfältige, und
deshalb iſt das Thier auch auf ſehr wenige Pflanzen beſchränkt. Niemals gräbt es mit dem Geweih,
wie oft behauptet worden iſt, ſondern immer mit ſeinen Vorderläufen. Am eifrigſten geht es in den
Morgen- und Abendſtunden der Nahrung nach; während der Mittagszeit ruht es wiederkäuend, am
liebſten auf Schneefeldern und Gletſchern, oder wenigſtens ganz in der Nähe derſelben. Ob es auch
des Nachts ſchläft, iſt nicht bekannt.
Jn Norwegen tritt der Hirſch Ende Septembers auf die Brunſt. Sein Geweih, welches Ende
Novembers oder Dezembers abgeworfen wurde, iſt jetzt wieder vollſtändig geworden, und er weiß es zu
gebrauchen. Mit lautem Schrei ruft er Mitbewerber heran, orgelt wiederholt in der ausdrucksvollſten
Weiſe, häufige Kämpfe mit den betreffenden Mitbewerbern beſtehend, angeſichts der jetzt ſehr ver-
ſtärkten Rudel. Die wackeren Streiter verſchlingen ſich oft mit ihren Geweihen und bleiben manchmal
ſtundenlang an einander gefeſſelt; dabei kommt es dann auch vor, wie bei den Hirſchen, daß die
ſchwächeren Renthierböcke, welche von den älteren während der Fortpflanzungszeit ſehr übermüthig
behandelt werden, ſich die Gelegenheit zu Nutze machen und die brünſtigen Thiere beſchlagen. Gegen
das Altthier benimmt ſich der Hirſch ſehr ungeſtüm. Er treibt das erkorene Stück oft lange umher,
bevor es zur Paarung kommt. Dann wird er zärtlicher. Hat er nach längerem Lauf endlich Halt
gemacht, ſo beleckt er die auserkorene Schöne, hebt den Kopf in die Höhe und ſtößt hierbei raſch und
hinter einander dumpfe, grunzende Laute aus, bläht ſeine Lippen auf, ſchlägt ſie wieder zuſammen,
beugt den hinteren Theil des Leibes nieder und geberdet ſich überhaupt ſehr eigenthümlich. Der Be-
ſchlag ſelbſt geht außerordentlich raſch vor ſich, währt aber immer nur kurze Zeit; dabei pfaucht der
Hirſch nieſend mit der Naſe. Mit Dam- oder Edelwild paart ſich das Ren ungezwungen nicht.
Mitte Aprils iſt die Satzzeit; das alte Thier geht alſo etwa dreißig Wochen hoch beſchlagen. Niemals
ſetzen wilde Renthiere mehr als ein Kalb. Dieſes iſt ein kleines ſchmuckes Geſchöpf, welches von
ſeiner Mutter zärtlich geliebt und lange geſäugt wird. Jn Norwegen nennt man das junge Renthier
entweder Bockkalb oder Semlekalb, je nachdem es männlich oder weiblich iſt; die erwachſenen
Renthiere werden ebenfalls als Bock und Semle unterſchieden. Schon gegen das Frühjahr hin trennt
ſich das hochbeſchlagene Thier mit einem Bock von einem Rudel und ſchweift nur mit dieſem bis zur
Satzzeit und auch nach ihr noch umher. Solche Familien, welche aus dem Bock, der Semle und dem
Kalb beſtehen, trifft man häufig; die Schmalthiere und die jungen Böcke bilden ihrerſeits ſtärkere
Rudel, bei denen ein geltes Altthier die Leitung übernimmt. Erſt wenn die Kälber groß geworden
ſind, vereinigen ſich die Familien wieder mit den Rudeln; dann theilen ſich die Altthiere in die Lei-
tung. Die Renthiere ſind ſo beſorgt um ihre Sicherheit, daß das Leitthier, auch wenn alle übrigen
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/463>, abgerufen am 23.11.2024.
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