Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

Bild:
<< vorherige Seite
Dritte Reihe.
Bahnarme (Edentata).


Wir vereinigen hier in einer besonderen Reihe eine geringe Anzahl von höchst merkwürdigen
Thieren, welche allen Naturforschern hinsichtlich der Einreihung im System große Schwierigkeiten
bereitet haben. Man hat sogar aus einer Gruppe, welcher wir hier den Werth einer Ordnung geben,
während Andere sie als Familie ansehen, eine besondere fünfte Klasse der Wirbelthiere
bilden wollen; denn einige Naturforscher sind lange zweifelhaft gewesen, ob sie den betreffenden Säu-
gern wirklich den Rang von Säugethieren einräumen dürften oder nicht. Die meisten Systematiker
erkennen in unserer dritten Reihe nur eine Ordnung der Nagelfäugethiere, obwohl sie die durchgrei-
fenden und auffallenden Unterschiede in der Nagelbildung zwischen den eigentlichen Nagelthieren und
den Angehörigen unserer Reihe nicht leugnen. Diese Verschiedenheit der Ansichten kann uns
gleichgiltig lassen, da streng genommen weder wir, noch die übrigen Forscher vollständig Recht haben
dürften. Die Zahnarmen sind eben Geschöpfe, welche von den übrigen Säugethieren fast in jeder
Hinsicht abweichen und daher nirgendshin recht passen wollen.

Es ist unmöglich, diese Geschöpfe in allgemeinen Zügen zu kennzeichnen, denn die Unterschiede
zwischen den verschiedenen Ordnungen oder, wie Andere wollen, Familien sind allzugroß. Jeden-
falls bleibt der auffallende Zahnmangel, welchen alle hierher zu rechnenden Thiere mit einander thei-
len, noch das wichtigste Kennzeichen, welches sie vor den übrigen Säugern auszeichnet. Man findet
nämlich unter den Zahnlosen Säuger, auf welche der Name in seiner vollen Bedeutung paßt, da
sie auch nicht eine Spur von Zähnen zeigen, und alle übrigen, welche wirklich Zähne haben, ent-
behren doch immer der Schneide- und Eckzähne: ihr ganzes Gebiß besteht demnach blos aus einfachen
Backzähnen. Es kommen zwar Zähne vor, welche wir Schneidezähne nennen möchten, weil sie im
Zwischenkiefer stehen, allein sie stimmen in Gestalt und Bildung so vollkommen mit den Backzähnen
überein, daß wir den Ausdruck doch nicht in voller Giltigkeit brauchen können. Die Eckzähne, welche
sich äußerst selten finden, unterscheiden sich ebenfalls durch Nichts weiter, als durch ihre bedeutende
Länge von den Backzähnen, und diese selbst haben eine einfache cylindrische oder prismatische Gestalt und
sind durch Lücken von einander getrennt. Sie bestehen blos aus Zahnstoff und Cement ohne allen
Schmelz, ja bei einer Familie oder Ordnung blos aus faseriger, knorplicher Masse, welche auf den
Kieferknochen aufliegt. Jhre Anzahl schwankt zwischen zwei bis sechs und zwanzig in jeder Reihe.

Jm Gegensatz zu dem Gebiß sind bei unseren Thieren die Nägel in eigenthümlicher Weise ent-
wickelt. Selten sind die Zehen vollkommen beweglich, aber immer tragen sie Nägel, welche das
Ende der Zehen ganz umfassen und sich schon aus diesem Grunde wesentlich von den Krallen der

Dritte Reihe.
Bahnarme (Edentata).


Wir vereinigen hier in einer beſonderen Reihe eine geringe Anzahl von höchſt merkwürdigen
Thieren, welche allen Naturforſchern hinſichtlich der Einreihung im Syſtem große Schwierigkeiten
bereitet haben. Man hat ſogar aus einer Gruppe, welcher wir hier den Werth einer Ordnung geben,
während Andere ſie als Familie anſehen, eine beſondere fünfte Klaſſe der Wirbelthiere
bilden wollen; denn einige Naturforſcher ſind lange zweifelhaft geweſen, ob ſie den betreffenden Säu-
gern wirklich den Rang von Säugethieren einräumen dürften oder nicht. Die meiſten Syſtematiker
erkennen in unſerer dritten Reihe nur eine Ordnung der Nagelfäugethiere, obwohl ſie die durchgrei-
fenden und auffallenden Unterſchiede in der Nagelbildung zwiſchen den eigentlichen Nagelthieren und
den Angehörigen unſerer Reihe nicht leugnen. Dieſe Verſchiedenheit der Anſichten kann uns
gleichgiltig laſſen, da ſtreng genommen weder wir, noch die übrigen Forſcher vollſtändig Recht haben
dürften. Die Zahnarmen ſind eben Geſchöpfe, welche von den übrigen Säugethieren faſt in jeder
Hinſicht abweichen und daher nirgendshin recht paſſen wollen.

Es iſt unmöglich, dieſe Geſchöpfe in allgemeinen Zügen zu kennzeichnen, denn die Unterſchiede
zwiſchen den verſchiedenen Ordnungen oder, wie Andere wollen, Familien ſind allzugroß. Jeden-
falls bleibt der auffallende Zahnmangel, welchen alle hierher zu rechnenden Thiere mit einander thei-
len, noch das wichtigſte Kennzeichen, welches ſie vor den übrigen Säugern auszeichnet. Man findet
nämlich unter den Zahnloſen Säuger, auf welche der Name in ſeiner vollen Bedeutung paßt, da
ſie auch nicht eine Spur von Zähnen zeigen, und alle übrigen, welche wirklich Zähne haben, ent-
behren doch immer der Schneide- und Eckzähne: ihr ganzes Gebiß beſteht demnach blos aus einfachen
Backzähnen. Es kommen zwar Zähne vor, welche wir Schneidezähne nennen möchten, weil ſie im
Zwiſchenkiefer ſtehen, allein ſie ſtimmen in Geſtalt und Bildung ſo vollkommen mit den Backzähnen
überein, daß wir den Ausdruck doch nicht in voller Giltigkeit brauchen können. Die Eckzähne, welche
ſich äußerſt ſelten finden, unterſcheiden ſich ebenfalls durch Nichts weiter, als durch ihre bedeutende
Länge von den Backzähnen, und dieſe ſelbſt haben eine einfache cylindriſche oder prismatiſche Geſtalt und
ſind durch Lücken von einander getrennt. Sie beſtehen blos aus Zahnſtoff und Cement ohne allen
Schmelz, ja bei einer Familie oder Ordnung blos aus faſeriger, knorplicher Maſſe, welche auf den
Kieferknochen aufliegt. Jhre Anzahl ſchwankt zwiſchen zwei bis ſechs und zwanzig in jeder Reihe.

Jm Gegenſatz zu dem Gebiß ſind bei unſeren Thieren die Nägel in eigenthümlicher Weiſe ent-
wickelt. Selten ſind die Zehen vollkommen beweglich, aber immer tragen ſie Nägel, welche das
Ende der Zehen ganz umfaſſen und ſich ſchon aus dieſem Grunde weſentlich von den Krallen der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0289" n="[271]"/>
          <div n="3">
            <head>Dritte Reihe.<lb/><hi rendition="#g"><hi rendition="#b">Bahnarme</hi> (<hi rendition="#aq">Edentata</hi>).</hi></head><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p><hi rendition="#in">W</hi>ir vereinigen hier in einer be&#x017F;onderen Reihe eine geringe Anzahl von höch&#x017F;t merkwürdigen<lb/>
Thieren, welche allen Naturfor&#x017F;chern hin&#x017F;ichtlich der Einreihung im Sy&#x017F;tem große Schwierigkeiten<lb/>
bereitet haben. Man hat &#x017F;ogar aus einer Gruppe, welcher wir hier den Werth einer Ordnung geben,<lb/>
während Andere &#x017F;ie als Familie an&#x017F;ehen, eine <hi rendition="#g">be&#x017F;ondere fünfte Kla&#x017F;&#x017F;e der Wirbelthiere</hi><lb/>
bilden wollen; denn einige Naturfor&#x017F;cher &#x017F;ind lange zweifelhaft gewe&#x017F;en, ob &#x017F;ie den betreffenden Säu-<lb/>
gern wirklich den Rang von Säugethieren einräumen dürften oder nicht. Die mei&#x017F;ten Sy&#x017F;tematiker<lb/>
erkennen in un&#x017F;erer dritten Reihe nur eine Ordnung der Nagelfäugethiere, obwohl &#x017F;ie die durchgrei-<lb/>
fenden und auffallenden Unter&#x017F;chiede in der Nagelbildung zwi&#x017F;chen den eigentlichen Nagelthieren und<lb/>
den Angehörigen un&#x017F;erer Reihe nicht leugnen. Die&#x017F;e Ver&#x017F;chiedenheit der An&#x017F;ichten kann uns<lb/>
gleichgiltig la&#x017F;&#x017F;en, da &#x017F;treng genommen weder wir, noch die übrigen For&#x017F;cher voll&#x017F;tändig Recht haben<lb/>
dürften. Die Zahnarmen &#x017F;ind eben Ge&#x017F;chöpfe, welche von den übrigen Säugethieren fa&#x017F;t in jeder<lb/>
Hin&#x017F;icht abweichen und daher nirgendshin recht pa&#x017F;&#x017F;en wollen.</p><lb/>
            <p>Es i&#x017F;t unmöglich, die&#x017F;e Ge&#x017F;chöpfe in allgemeinen Zügen zu kennzeichnen, denn die Unter&#x017F;chiede<lb/>
zwi&#x017F;chen den ver&#x017F;chiedenen Ordnungen oder, wie Andere wollen, Familien &#x017F;ind allzugroß. Jeden-<lb/>
falls bleibt der auffallende Zahnmangel, welchen alle hierher zu rechnenden Thiere mit einander thei-<lb/>
len, noch das wichtig&#x017F;te Kennzeichen, welches &#x017F;ie vor den übrigen Säugern auszeichnet. Man findet<lb/>
nämlich unter den Zahnlo&#x017F;en Säuger, auf welche der Name in &#x017F;einer vollen Bedeutung paßt, da<lb/>
&#x017F;ie auch nicht eine Spur von Zähnen zeigen, und alle übrigen, welche wirklich Zähne haben, ent-<lb/>
behren doch immer der Schneide- und Eckzähne: ihr ganzes Gebiß be&#x017F;teht demnach blos aus einfachen<lb/>
Backzähnen. Es kommen zwar Zähne vor, welche wir Schneidezähne nennen möchten, weil &#x017F;ie im<lb/>
Zwi&#x017F;chenkiefer &#x017F;tehen, allein &#x017F;ie &#x017F;timmen in Ge&#x017F;talt und Bildung &#x017F;o vollkommen mit den Backzähnen<lb/>
überein, daß wir den Ausdruck doch nicht in voller Giltigkeit brauchen können. Die Eckzähne, welche<lb/>
&#x017F;ich äußer&#x017F;t &#x017F;elten finden, unter&#x017F;cheiden &#x017F;ich ebenfalls durch Nichts weiter, als durch ihre bedeutende<lb/>
Länge von den Backzähnen, und die&#x017F;e &#x017F;elb&#x017F;t haben eine einfache cylindri&#x017F;che oder prismati&#x017F;che Ge&#x017F;talt und<lb/>
&#x017F;ind durch Lücken von einander getrennt. Sie be&#x017F;tehen blos aus Zahn&#x017F;toff und Cement ohne allen<lb/>
Schmelz, ja bei einer Familie oder Ordnung blos aus fa&#x017F;eriger, knorplicher Ma&#x017F;&#x017F;e, welche auf den<lb/>
Kieferknochen aufliegt. Jhre Anzahl &#x017F;chwankt zwi&#x017F;chen zwei bis &#x017F;echs und zwanzig in jeder Reihe.</p><lb/>
            <p>Jm Gegen&#x017F;atz zu dem Gebiß &#x017F;ind bei un&#x017F;eren Thieren die Nägel in eigenthümlicher Wei&#x017F;e ent-<lb/>
wickelt. Selten &#x017F;ind die Zehen vollkommen beweglich, aber immer tragen &#x017F;ie Nägel, welche das<lb/>
Ende der Zehen ganz umfa&#x017F;&#x017F;en und &#x017F;ich &#x017F;chon aus die&#x017F;em Grunde we&#x017F;entlich von den Krallen der<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[271]/0289] Dritte Reihe. Bahnarme (Edentata). Wir vereinigen hier in einer beſonderen Reihe eine geringe Anzahl von höchſt merkwürdigen Thieren, welche allen Naturforſchern hinſichtlich der Einreihung im Syſtem große Schwierigkeiten bereitet haben. Man hat ſogar aus einer Gruppe, welcher wir hier den Werth einer Ordnung geben, während Andere ſie als Familie anſehen, eine beſondere fünfte Klaſſe der Wirbelthiere bilden wollen; denn einige Naturforſcher ſind lange zweifelhaft geweſen, ob ſie den betreffenden Säu- gern wirklich den Rang von Säugethieren einräumen dürften oder nicht. Die meiſten Syſtematiker erkennen in unſerer dritten Reihe nur eine Ordnung der Nagelfäugethiere, obwohl ſie die durchgrei- fenden und auffallenden Unterſchiede in der Nagelbildung zwiſchen den eigentlichen Nagelthieren und den Angehörigen unſerer Reihe nicht leugnen. Dieſe Verſchiedenheit der Anſichten kann uns gleichgiltig laſſen, da ſtreng genommen weder wir, noch die übrigen Forſcher vollſtändig Recht haben dürften. Die Zahnarmen ſind eben Geſchöpfe, welche von den übrigen Säugethieren faſt in jeder Hinſicht abweichen und daher nirgendshin recht paſſen wollen. Es iſt unmöglich, dieſe Geſchöpfe in allgemeinen Zügen zu kennzeichnen, denn die Unterſchiede zwiſchen den verſchiedenen Ordnungen oder, wie Andere wollen, Familien ſind allzugroß. Jeden- falls bleibt der auffallende Zahnmangel, welchen alle hierher zu rechnenden Thiere mit einander thei- len, noch das wichtigſte Kennzeichen, welches ſie vor den übrigen Säugern auszeichnet. Man findet nämlich unter den Zahnloſen Säuger, auf welche der Name in ſeiner vollen Bedeutung paßt, da ſie auch nicht eine Spur von Zähnen zeigen, und alle übrigen, welche wirklich Zähne haben, ent- behren doch immer der Schneide- und Eckzähne: ihr ganzes Gebiß beſteht demnach blos aus einfachen Backzähnen. Es kommen zwar Zähne vor, welche wir Schneidezähne nennen möchten, weil ſie im Zwiſchenkiefer ſtehen, allein ſie ſtimmen in Geſtalt und Bildung ſo vollkommen mit den Backzähnen überein, daß wir den Ausdruck doch nicht in voller Giltigkeit brauchen können. Die Eckzähne, welche ſich äußerſt ſelten finden, unterſcheiden ſich ebenfalls durch Nichts weiter, als durch ihre bedeutende Länge von den Backzähnen, und dieſe ſelbſt haben eine einfache cylindriſche oder prismatiſche Geſtalt und ſind durch Lücken von einander getrennt. Sie beſtehen blos aus Zahnſtoff und Cement ohne allen Schmelz, ja bei einer Familie oder Ordnung blos aus faſeriger, knorplicher Maſſe, welche auf den Kieferknochen aufliegt. Jhre Anzahl ſchwankt zwiſchen zwei bis ſechs und zwanzig in jeder Reihe. Jm Gegenſatz zu dem Gebiß ſind bei unſeren Thieren die Nägel in eigenthümlicher Weiſe ent- wickelt. Selten ſind die Zehen vollkommen beweglich, aber immer tragen ſie Nägel, welche das Ende der Zehen ganz umfaſſen und ſich ſchon aus dieſem Grunde weſentlich von den Krallen der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/289
Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. [271]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/289>, abgerufen am 20.12.2024.