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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Die Schneemaus.
Art darstellt; wir haben ja noch nicht genug Beobachtungen gemacht, um uns mit Sicherheit zu ent-
scheiden!

Jn der Lebensweise findet sich, soviel wir wissen, kein Unterschied. "Die Schneemaus,"
sagt Blasius, "hat unter allen Mäusen den kleinsten, aber eigenthümlichsten Verbreitungskreis.
Sie gehört der Alpenkette ihrer ganzen Ausdehnung nach an. Außerdem erhielt Selys sie aus
den Pyrenäen. Es ist mir kein Beispiel bekannt, daß sie in den Alpen regelmäßig unter 3000 Fuß
Meereshöhe gefunden wäre; auch bei 4000 Fuß scheint sie in der Regel nicht häufig vorzukommen.
Vonhieraus aber findet sie sich in allen Höhen bis zu den letzten Grenzpunkten des Pflanzenlebens.
Jn der Nähe der Schneegrenze erscheint sie am häufigsten, aber sogar über die Schneegrenze geht sie
hinaus und bewohnt die kleinsten Pflanzeninseln, die mit ihren kümmerlichen Alpenkräutern spärlich
bewachsenen Blößen auf der Südseite der hohen Alpenspitzen, mitten zwischen den Schneefeldern, wo
die warmen Sonnenstrahlen oft kaum 2 bis 3 Monate lang die wöchentlich sich erneuernden Schnee-
decken überwinden und die Erde auf wenige Schritte hin freilegen können. Jn dieser großartigen
Gebirgseinsamkeit verlebt sie aber nicht blos einen schönen, kurzen Alpensommer, sondern, unter
einer unverwüstlichen Schneedecke begraben, einen 9 bis 10 Monate langen, harten Alpenwinter;
denn sie wandert nicht, obwohl sie sich im Winter Röhren unter dem Schnee anlegt, um Pflanzen-
wurzeln zu sammeln, wenn die gesammelten Vorräthe nicht ausreichen. Kein anderes Säugethier
begleitet die Schneemaus ausdauernd über die Welt des Lebendigen hinaus bis zu diesen luftigen,
starren Alpenhöhen; nur einzeln folgt vorübergehend als unerbittlicher Feind ein Wiesel oder
Hermelin ihren Spuren."

Die Schneemaus ist den Naturforschern erst seit wenig Jahren bekannt geworden. Nager entdeckte
sie im Jahre 1841 in Andermatt am Gotthard, Martins fand sie am Faulhorn, Hugi sie auf dem
höchsten Kamme der Strahleck über 10,000 Fuß hoch und am Finsterarhorn bei einer Meereshöhe von
12,000 Fuß mitten im Winter in einer Alphütte. "Wir suchten," erzählt er, "die Hütte der Stieregg-
alp auf, welche endlich eine etwas erhöhte Schneestelle verrieth, und arbeiteten in die Tiefe. Längst
war es Nacht, als wir das Dach fanden, nun aber ging es an der Hütte schnell abwärts in die
Tiefe. Wir machten die Thüre frei, kehrten ein mit hoher Freude und erschlugen sieben Alpen-
mäuse, während wohl über zwanzig die Flucht ergriffen und nicht geneigt schienen, ihren unter-
irdischen Palast uns streitig zu machen." Blasius beobachtete die Schneemaus auf den Bergen
von Chambery, am Montblanc und am Bernina bei 12,000 Fuß Höhe, auf der obersten, nur
wenige Geviertfuß vom Schnee entblößten Spitze des Piz Linguard im oberen Etzthal. "Jn den
Mittelalpen," sagt er, "habe ich nur die grobhaarige, graue Form gefunden. Die weichhaarige,
weißliche kenne ich aus der Umgegend von Jnterlaken, und die fahlgelbe bisjetzt nur aus den nord-
östlichen Kalkalpen von den bairischen Hochalpen an bis ins nördliche Tirol, bis ans Salz-
burgische."

Das Leben, welches die Schneemaus in ihrer unwirthlichen, traurigarmen Heimat führt, ist
bisjetzt noch räthselhaft. Man weiß, daß sie Pflanzen frißt, hauptsächlich Wurzeln und Alpen-
kräuter, Gras und Heu, und daß sie von diesen Stoffen auch Vorräthe im Winter einsammelt; aber
man begreift kaum, daß sie an vielen Orten, wo sie lebt, noch Nahrung genug findet. An vielen
Stellen ist es blos eine einzige Pflanzenart, welche ihr Nahrung bieten kann, aber an anderen
Orten ist nicht einzusehen, wovon sie leben mag. Jm Sommer freilich hat es keine Noth. Sie
besucht dann die Sennhütten der Kuh- und Schafalpen und nascht von allem Eßbaren, was sie
in den Hütten findet, nur nicht vom Fleisch. Jhre Wohnung schlägt sie dann bald in Erdlöchern,
bald in Geröll und Gemäuer auf. Jn der Nähe ihrer Höhle sieht man sie auch bei Tage umher-
laufen, und sie ist so harmlos, daß man sie dann leicht erschlagen oder wenigstens erschießen kann.
Selbst bei hellem Tage geht sie in die Fallen. Erschreckt, verschwindet sie rasch zwischen Felsblöcken;
doch dauert es selten lange, bis sie wieder zum Vorschein kommt. Jn ihren Bauen findet man zernagtes
Heu und Halme, oft auch Wurzeln von Bibernell, Genzian und anderen Alpenkräutern. Das

Die Schneemaus.
Art darſtellt; wir haben ja noch nicht genug Beobachtungen gemacht, um uns mit Sicherheit zu ent-
ſcheiden!

Jn der Lebensweiſe findet ſich, ſoviel wir wiſſen, kein Unterſchied. „Die Schneemaus,‟
ſagt Blaſius, „hat unter allen Mäuſen den kleinſten, aber eigenthümlichſten Verbreitungskreis.
Sie gehört der Alpenkette ihrer ganzen Ausdehnung nach an. Außerdem erhielt Selys ſie aus
den Pyrenäen. Es iſt mir kein Beiſpiel bekannt, daß ſie in den Alpen regelmäßig unter 3000 Fuß
Meereshöhe gefunden wäre; auch bei 4000 Fuß ſcheint ſie in der Regel nicht häufig vorzukommen.
Vonhieraus aber findet ſie ſich in allen Höhen bis zu den letzten Grenzpunkten des Pflanzenlebens.
Jn der Nähe der Schneegrenze erſcheint ſie am häufigſten, aber ſogar über die Schneegrenze geht ſie
hinaus und bewohnt die kleinſten Pflanzeninſeln, die mit ihren kümmerlichen Alpenkräutern ſpärlich
bewachſenen Blößen auf der Südſeite der hohen Alpenſpitzen, mitten zwiſchen den Schneefeldern, wo
die warmen Sonnenſtrahlen oft kaum 2 bis 3 Monate lang die wöchentlich ſich erneuernden Schnee-
decken überwinden und die Erde auf wenige Schritte hin freilegen können. Jn dieſer großartigen
Gebirgseinſamkeit verlebt ſie aber nicht blos einen ſchönen, kurzen Alpenſommer, ſondern, unter
einer unverwüſtlichen Schneedecke begraben, einen 9 bis 10 Monate langen, harten Alpenwinter;
denn ſie wandert nicht, obwohl ſie ſich im Winter Röhren unter dem Schnee anlegt, um Pflanzen-
wurzeln zu ſammeln, wenn die geſammelten Vorräthe nicht ausreichen. Kein anderes Säugethier
begleitet die Schneemaus ausdauernd über die Welt des Lebendigen hinaus bis zu dieſen luftigen,
ſtarren Alpenhöhen; nur einzeln folgt vorübergehend als unerbittlicher Feind ein Wieſel oder
Hermelin ihren Spuren.‟

Die Schneemaus iſt den Naturforſchern erſt ſeit wenig Jahren bekannt geworden. Nager entdeckte
ſie im Jahre 1841 in Andermatt am Gotthard, Martins fand ſie am Faulhorn, Hugi ſie auf dem
höchſten Kamme der Strahleck über 10,000 Fuß hoch und am Finſterarhorn bei einer Meereshöhe von
12,000 Fuß mitten im Winter in einer Alphütte. „Wir ſuchten,‟ erzählt er, „die Hütte der Stieregg-
alp auf, welche endlich eine etwas erhöhte Schneeſtelle verrieth, und arbeiteten in die Tiefe. Längſt
war es Nacht, als wir das Dach fanden, nun aber ging es an der Hütte ſchnell abwärts in die
Tiefe. Wir machten die Thüre frei, kehrten ein mit hoher Freude und erſchlugen ſieben Alpen-
mäuſe, während wohl über zwanzig die Flucht ergriffen und nicht geneigt ſchienen, ihren unter-
irdiſchen Palaſt uns ſtreitig zu machen.‟ Blaſius beobachtete die Schneemaus auf den Bergen
von Chambery, am Montblanc und am Bernina bei 12,000 Fuß Höhe, auf der oberſten, nur
wenige Geviertfuß vom Schnee entblößten Spitze des Piz Linguard im oberen Etzthal. „Jn den
Mittelalpen,‟ ſagt er, „habe ich nur die grobhaarige, graue Form gefunden. Die weichhaarige,
weißliche kenne ich aus der Umgegend von Jnterlaken, und die fahlgelbe bisjetzt nur aus den nord-
öſtlichen Kalkalpen von den bairiſchen Hochalpen an bis ins nördliche Tirol, bis ans Salz-
burgiſche.‟

Das Leben, welches die Schneemaus in ihrer unwirthlichen, traurigarmen Heimat führt, iſt
bisjetzt noch räthſelhaft. Man weiß, daß ſie Pflanzen frißt, hauptſächlich Wurzeln und Alpen-
kräuter, Gras und Heu, und daß ſie von dieſen Stoffen auch Vorräthe im Winter einſammelt; aber
man begreift kaum, daß ſie an vielen Orten, wo ſie lebt, noch Nahrung genug findet. An vielen
Stellen iſt es blos eine einzige Pflanzenart, welche ihr Nahrung bieten kann, aber an anderen
Orten iſt nicht einzuſehen, wovon ſie leben mag. Jm Sommer freilich hat es keine Noth. Sie
beſucht dann die Sennhütten der Kuh- und Schafalpen und naſcht von allem Eßbaren, was ſie
in den Hütten findet, nur nicht vom Fleiſch. Jhre Wohnung ſchlägt ſie dann bald in Erdlöchern,
bald in Geröll und Gemäuer auf. Jn der Nähe ihrer Höhle ſieht man ſie auch bei Tage umher-
laufen, und ſie iſt ſo harmlos, daß man ſie dann leicht erſchlagen oder wenigſtens erſchießen kann.
Selbſt bei hellem Tage geht ſie in die Fallen. Erſchreckt, verſchwindet ſie raſch zwiſchen Felsblöcken;
doch dauert es ſelten lange, bis ſie wieder zum Vorſchein kommt. Jn ihren Bauen findet man zernagtes
Heu und Halme, oft auch Wurzeln von Bibernell, Genzian und anderen Alpenkräutern. Das

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[157/0173] Die Schneemaus. Art darſtellt; wir haben ja noch nicht genug Beobachtungen gemacht, um uns mit Sicherheit zu ent- ſcheiden! Jn der Lebensweiſe findet ſich, ſoviel wir wiſſen, kein Unterſchied. „Die Schneemaus,‟ ſagt Blaſius, „hat unter allen Mäuſen den kleinſten, aber eigenthümlichſten Verbreitungskreis. Sie gehört der Alpenkette ihrer ganzen Ausdehnung nach an. Außerdem erhielt Selys ſie aus den Pyrenäen. Es iſt mir kein Beiſpiel bekannt, daß ſie in den Alpen regelmäßig unter 3000 Fuß Meereshöhe gefunden wäre; auch bei 4000 Fuß ſcheint ſie in der Regel nicht häufig vorzukommen. Vonhieraus aber findet ſie ſich in allen Höhen bis zu den letzten Grenzpunkten des Pflanzenlebens. Jn der Nähe der Schneegrenze erſcheint ſie am häufigſten, aber ſogar über die Schneegrenze geht ſie hinaus und bewohnt die kleinſten Pflanzeninſeln, die mit ihren kümmerlichen Alpenkräutern ſpärlich bewachſenen Blößen auf der Südſeite der hohen Alpenſpitzen, mitten zwiſchen den Schneefeldern, wo die warmen Sonnenſtrahlen oft kaum 2 bis 3 Monate lang die wöchentlich ſich erneuernden Schnee- decken überwinden und die Erde auf wenige Schritte hin freilegen können. Jn dieſer großartigen Gebirgseinſamkeit verlebt ſie aber nicht blos einen ſchönen, kurzen Alpenſommer, ſondern, unter einer unverwüſtlichen Schneedecke begraben, einen 9 bis 10 Monate langen, harten Alpenwinter; denn ſie wandert nicht, obwohl ſie ſich im Winter Röhren unter dem Schnee anlegt, um Pflanzen- wurzeln zu ſammeln, wenn die geſammelten Vorräthe nicht ausreichen. Kein anderes Säugethier begleitet die Schneemaus ausdauernd über die Welt des Lebendigen hinaus bis zu dieſen luftigen, ſtarren Alpenhöhen; nur einzeln folgt vorübergehend als unerbittlicher Feind ein Wieſel oder Hermelin ihren Spuren.‟ Die Schneemaus iſt den Naturforſchern erſt ſeit wenig Jahren bekannt geworden. Nager entdeckte ſie im Jahre 1841 in Andermatt am Gotthard, Martins fand ſie am Faulhorn, Hugi ſie auf dem höchſten Kamme der Strahleck über 10,000 Fuß hoch und am Finſterarhorn bei einer Meereshöhe von 12,000 Fuß mitten im Winter in einer Alphütte. „Wir ſuchten,‟ erzählt er, „die Hütte der Stieregg- alp auf, welche endlich eine etwas erhöhte Schneeſtelle verrieth, und arbeiteten in die Tiefe. Längſt war es Nacht, als wir das Dach fanden, nun aber ging es an der Hütte ſchnell abwärts in die Tiefe. Wir machten die Thüre frei, kehrten ein mit hoher Freude und erſchlugen ſieben Alpen- mäuſe, während wohl über zwanzig die Flucht ergriffen und nicht geneigt ſchienen, ihren unter- irdiſchen Palaſt uns ſtreitig zu machen.‟ Blaſius beobachtete die Schneemaus auf den Bergen von Chambery, am Montblanc und am Bernina bei 12,000 Fuß Höhe, auf der oberſten, nur wenige Geviertfuß vom Schnee entblößten Spitze des Piz Linguard im oberen Etzthal. „Jn den Mittelalpen,‟ ſagt er, „habe ich nur die grobhaarige, graue Form gefunden. Die weichhaarige, weißliche kenne ich aus der Umgegend von Jnterlaken, und die fahlgelbe bisjetzt nur aus den nord- öſtlichen Kalkalpen von den bairiſchen Hochalpen an bis ins nördliche Tirol, bis ans Salz- burgiſche.‟ Das Leben, welches die Schneemaus in ihrer unwirthlichen, traurigarmen Heimat führt, iſt bisjetzt noch räthſelhaft. Man weiß, daß ſie Pflanzen frißt, hauptſächlich Wurzeln und Alpen- kräuter, Gras und Heu, und daß ſie von dieſen Stoffen auch Vorräthe im Winter einſammelt; aber man begreift kaum, daß ſie an vielen Orten, wo ſie lebt, noch Nahrung genug findet. An vielen Stellen iſt es blos eine einzige Pflanzenart, welche ihr Nahrung bieten kann, aber an anderen Orten iſt nicht einzuſehen, wovon ſie leben mag. Jm Sommer freilich hat es keine Noth. Sie beſucht dann die Sennhütten der Kuh- und Schafalpen und naſcht von allem Eßbaren, was ſie in den Hütten findet, nur nicht vom Fleiſch. Jhre Wohnung ſchlägt ſie dann bald in Erdlöchern, bald in Geröll und Gemäuer auf. Jn der Nähe ihrer Höhle ſieht man ſie auch bei Tage umher- laufen, und ſie iſt ſo harmlos, daß man ſie dann leicht erſchlagen oder wenigſtens erſchießen kann. Selbſt bei hellem Tage geht ſie in die Fallen. Erſchreckt, verſchwindet ſie raſch zwiſchen Felsblöcken; doch dauert es ſelten lange, bis ſie wieder zum Vorſchein kommt. Jn ihren Bauen findet man zernagtes Heu und Halme, oft auch Wurzeln von Bibernell, Genzian und anderen Alpenkräutern. Das

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/173>, abgerufen am 29.11.2024.