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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Das eigentliche Murmelthier.
Graden erwacht es, bewegt sich taumelnd hin und her, wird nach und nach munterer und beginnt
endlich, zu fressen. Jm Frühjahre erscheinen die Murmelthiere in sehr abgemagertem Zustande vor
den Oeffnungen ihrer Winterwohnungen und sehen sich sehnsüchtig nach etwas Genießbarem um.
Wie schon erwähnt, müssen sie oft weit wandern, um an den Ecken und Kanten der Berge,
da, wo der Wind den Schnee weggetrieben hat, etwas verdorrtes Gras aufzutreiben. Dieses über-
winterte Gras dient ihnen überhaupt im Anfange zur hauptsächlichsten Nahrung, dann aber kommen
die jungen, frischen, saftigen Alpenpflanzen, und diese verschaffen ihnen gar bald wieder ihr volles
Aussehen.

Jagd und Fang des Murmelthieres haben ihre großen Schwierigkeiten. Der herannahende
Jäger wird fast regelmäßig von irgend einem Gliede der Gesellschaft bemerkt und den übrigen
durch helles Pfeifen angezeigt. Dann flüchtet natürlich Alles nach dem Bau, und diesen Tag würde
man vergeblich vor der Höhle warten. Man muß also vor Sonnenaufgang zur Stelle sein, wenn man
ein solches Wild erlegen will. Uebrigens werden die wenigsten Murmelthiere, welche der Mensch er-
beutet, mit dem Feuergewehr erlegt. Man stellt ihnen Fallen aller Art oder gräbt sie im Anfange des
Winters aus. Dem höheren Alpenbewohner ist das kleine Thier nicht blos der Nahrung wegen wich-
tig, sondern dient auch als Arzneimittel für allerlei Krankheiten. Das fette, äußerst wohlschmeckende
Fleisch gilt als besonderes Stärkungsmittel für Wöchnerinnen; das Fett soll die Geburt erleichtern,
Leibschneiden heilen, dem Husten abhelfen, Brustverhärtungen zertheilen, der frisch abgezogene Balg
wird bei gichtischen Schmerzen angewandt und dergleichen mehr. Frischem Fleisch haftet ein so
starker erdiger Wildgeschmack an, daß es dem an diese Speise nicht Gewöhnten Ekel verursacht; des-
halb werden auch die frisch gefangenen Murmelthiere, nachdem sie wie ein Schwein gebrüht und ge-
schabt worden sind, einige Tage in den Rauch gehängt und dann erst gekocht oder gebraten. Ein
derart vorbereitetes Murmelthierwildpret ist sehr schmackhaft. Die Mönche im St. Galler Stift
hatten schon um das Jahr 1000 einen eigenen Segensspruch für das Gericht: "Möge die Benediction
es fett machen!" Jn damaliger Zeit wurde das Thierchen in den Klöstern Cassus alpinus genannt,
und gelehrte Leute beschäftigten sich mit seiner Beschreibung. Der Jesuit Kircher hielt es nach
Tschudi für einen Blendling von Dachs und Eichhorn; Altmann aber verwahrt sich gegen
solche Einbildungen und kennzeichnet das Murmelthier als einen kleinen Dachs, der mit den wahren,
echten zu den Schweinen gehöre; er erzählt auch, daß es vierzehn Tage vor dem Winterschlafe Nichts
mehr zu sich nehme, wohl aber viel Wasser trinke und dadurch seine Eingeweide ansspüle, damit sie
über Winter nicht verfaulten!

Schon in alten Zeiten wurde dem armen Gebirgskinde eifrig nachgestellt, und in der Neuzeit
ist es nicht besser geworden. Die Fallen liefern, so einfach sie sind, immer guten Ertrag und ver-
mindern die Murmelthiere um ein Beträchtliches; die Nachgrabungen im Winter rotten sie familien-
weise aus. Mit Recht ist deshalb in vielen Kantonen der Schweiz das Graben auf Murmelthiere
verboten; denn dadurch würde in kurzer Zeit ihre vollständige Vernichtung herbeigeführt werden,
während die einfache Jagd bei der Vorsicht unserer Thiere ihnen nie sehr gefährlich wird. Den
Fallen entgehen sie freilich schwer. Hier und da sind, wie Tschudi berichtet, die Bergbewohner ver-
nünftig und bescheiden genug, ihre Fallen blos für die alten Thiere einzurichten, so z. B. an der
Gletscheralp im Walliser Saaßthale, wo die Thiere in größerer Menge vorhanden sind, weil die
Jungen stets geschont werden.

Jm Sommer hilft das Nachgraben gar Nichts, weil die dann vollständig wachen Thiere viel
schneller tiefer in den Berg hineingraben, als der Mensch ihnen nachkommen kann. Jm äußersten
Nothfalle vertheidigen sich die Murmelthiere auch noch mit Muth und Entschlossenheit gegen ihre
Gegner, indem sie stark beißen oder auch ihre starken Krallen anwenden. Wird eine Gesellschaft
gar zu heftig verfolgt, so zieht sie aus und wandert, um sicher zu sein, von einem Berge zum andern.

Für die Gefangenschaft und Zähmung wählt man sich am liebsten die Jungen, obgleich es
schwierig ist, diese der Mutter wegzuhaschen, wenn sie den ersten Ausgang machen. Sehr jung ein-

Das eigentliche Murmelthier.
Graden erwacht es, bewegt ſich taumelnd hin und her, wird nach und nach munterer und beginnt
endlich, zu freſſen. Jm Frühjahre erſcheinen die Murmelthiere in ſehr abgemagertem Zuſtande vor
den Oeffnungen ihrer Winterwohnungen und ſehen ſich ſehnſüchtig nach etwas Genießbarem um.
Wie ſchon erwähnt, müſſen ſie oft weit wandern, um an den Ecken und Kanten der Berge,
da, wo der Wind den Schnee weggetrieben hat, etwas verdorrtes Gras aufzutreiben. Dieſes über-
winterte Gras dient ihnen überhaupt im Anfange zur hauptſächlichſten Nahrung, dann aber kommen
die jungen, friſchen, ſaftigen Alpenpflanzen, und dieſe verſchaffen ihnen gar bald wieder ihr volles
Ausſehen.

Jagd und Fang des Murmelthieres haben ihre großen Schwierigkeiten. Der herannahende
Jäger wird faſt regelmäßig von irgend einem Gliede der Geſellſchaft bemerkt und den übrigen
durch helles Pfeifen angezeigt. Dann flüchtet natürlich Alles nach dem Bau, und dieſen Tag würde
man vergeblich vor der Höhle warten. Man muß alſo vor Sonnenaufgang zur Stelle ſein, wenn man
ein ſolches Wild erlegen will. Uebrigens werden die wenigſten Murmelthiere, welche der Menſch er-
beutet, mit dem Feuergewehr erlegt. Man ſtellt ihnen Fallen aller Art oder gräbt ſie im Anfange des
Winters aus. Dem höheren Alpenbewohner iſt das kleine Thier nicht blos der Nahrung wegen wich-
tig, ſondern dient auch als Arzneimittel für allerlei Krankheiten. Das fette, äußerſt wohlſchmeckende
Fleiſch gilt als beſonderes Stärkungsmittel für Wöchnerinnen; das Fett ſoll die Geburt erleichtern,
Leibſchneiden heilen, dem Huſten abhelfen, Bruſtverhärtungen zertheilen, der friſch abgezogene Balg
wird bei gichtiſchen Schmerzen angewandt und dergleichen mehr. Friſchem Fleiſch haftet ein ſo
ſtarker erdiger Wildgeſchmack an, daß es dem an dieſe Speiſe nicht Gewöhnten Ekel verurſacht; des-
halb werden auch die friſch gefangenen Murmelthiere, nachdem ſie wie ein Schwein gebrüht und ge-
ſchabt worden ſind, einige Tage in den Rauch gehängt und dann erſt gekocht oder gebraten. Ein
derart vorbereitetes Murmelthierwildpret iſt ſehr ſchmackhaft. Die Mönche im St. Galler Stift
hatten ſchon um das Jahr 1000 einen eigenen Segensſpruch für das Gericht: „Möge die Benediction
es fett machen!‟ Jn damaliger Zeit wurde das Thierchen in den Klöſtern Cassus alpinus genannt,
und gelehrte Leute beſchäftigten ſich mit ſeiner Beſchreibung. Der Jeſuit Kircher hielt es nach
Tſchudi für einen Blendling von Dachs und Eichhorn; Altmann aber verwahrt ſich gegen
ſolche Einbildungen und kennzeichnet das Murmelthier als einen kleinen Dachs, der mit den wahren,
echten zu den Schweinen gehöre; er erzählt auch, daß es vierzehn Tage vor dem Winterſchlafe Nichts
mehr zu ſich nehme, wohl aber viel Waſſer trinke und dadurch ſeine Eingeweide ansſpüle, damit ſie
über Winter nicht verfaulten!

Schon in alten Zeiten wurde dem armen Gebirgskinde eifrig nachgeſtellt, und in der Neuzeit
iſt es nicht beſſer geworden. Die Fallen liefern, ſo einfach ſie ſind, immer guten Ertrag und ver-
mindern die Murmelthiere um ein Beträchtliches; die Nachgrabungen im Winter rotten ſie familien-
weiſe aus. Mit Recht iſt deshalb in vielen Kantonen der Schweiz das Graben auf Murmelthiere
verboten; denn dadurch würde in kurzer Zeit ihre vollſtändige Vernichtung herbeigeführt werden,
während die einfache Jagd bei der Vorſicht unſerer Thiere ihnen nie ſehr gefährlich wird. Den
Fallen entgehen ſie freilich ſchwer. Hier und da ſind, wie Tſchudi berichtet, die Bergbewohner ver-
nünftig und beſcheiden genug, ihre Fallen blos für die alten Thiere einzurichten, ſo z. B. an der
Gletſcheralp im Walliſer Saaßthale, wo die Thiere in größerer Menge vorhanden ſind, weil die
Jungen ſtets geſchont werden.

Jm Sommer hilft das Nachgraben gar Nichts, weil die dann vollſtändig wachen Thiere viel
ſchneller tiefer in den Berg hineingraben, als der Menſch ihnen nachkommen kann. Jm äußerſten
Nothfalle vertheidigen ſich die Murmelthiere auch noch mit Muth und Entſchloſſenheit gegen ihre
Gegner, indem ſie ſtark beißen oder auch ihre ſtarken Krallen anwenden. Wird eine Geſellſchaft
gar zu heftig verfolgt, ſo zieht ſie aus und wandert, um ſicher zu ſein, von einem Berge zum andern.

Für die Gefangenſchaft und Zähmung wählt man ſich am liebſten die Jungen, obgleich es
ſchwierig iſt, dieſe der Mutter wegzuhaſchen, wenn ſie den erſten Ausgang machen. Sehr jung ein-

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[95/0109] Das eigentliche Murmelthier. Graden erwacht es, bewegt ſich taumelnd hin und her, wird nach und nach munterer und beginnt endlich, zu freſſen. Jm Frühjahre erſcheinen die Murmelthiere in ſehr abgemagertem Zuſtande vor den Oeffnungen ihrer Winterwohnungen und ſehen ſich ſehnſüchtig nach etwas Genießbarem um. Wie ſchon erwähnt, müſſen ſie oft weit wandern, um an den Ecken und Kanten der Berge, da, wo der Wind den Schnee weggetrieben hat, etwas verdorrtes Gras aufzutreiben. Dieſes über- winterte Gras dient ihnen überhaupt im Anfange zur hauptſächlichſten Nahrung, dann aber kommen die jungen, friſchen, ſaftigen Alpenpflanzen, und dieſe verſchaffen ihnen gar bald wieder ihr volles Ausſehen. Jagd und Fang des Murmelthieres haben ihre großen Schwierigkeiten. Der herannahende Jäger wird faſt regelmäßig von irgend einem Gliede der Geſellſchaft bemerkt und den übrigen durch helles Pfeifen angezeigt. Dann flüchtet natürlich Alles nach dem Bau, und dieſen Tag würde man vergeblich vor der Höhle warten. Man muß alſo vor Sonnenaufgang zur Stelle ſein, wenn man ein ſolches Wild erlegen will. Uebrigens werden die wenigſten Murmelthiere, welche der Menſch er- beutet, mit dem Feuergewehr erlegt. Man ſtellt ihnen Fallen aller Art oder gräbt ſie im Anfange des Winters aus. Dem höheren Alpenbewohner iſt das kleine Thier nicht blos der Nahrung wegen wich- tig, ſondern dient auch als Arzneimittel für allerlei Krankheiten. Das fette, äußerſt wohlſchmeckende Fleiſch gilt als beſonderes Stärkungsmittel für Wöchnerinnen; das Fett ſoll die Geburt erleichtern, Leibſchneiden heilen, dem Huſten abhelfen, Bruſtverhärtungen zertheilen, der friſch abgezogene Balg wird bei gichtiſchen Schmerzen angewandt und dergleichen mehr. Friſchem Fleiſch haftet ein ſo ſtarker erdiger Wildgeſchmack an, daß es dem an dieſe Speiſe nicht Gewöhnten Ekel verurſacht; des- halb werden auch die friſch gefangenen Murmelthiere, nachdem ſie wie ein Schwein gebrüht und ge- ſchabt worden ſind, einige Tage in den Rauch gehängt und dann erſt gekocht oder gebraten. Ein derart vorbereitetes Murmelthierwildpret iſt ſehr ſchmackhaft. Die Mönche im St. Galler Stift hatten ſchon um das Jahr 1000 einen eigenen Segensſpruch für das Gericht: „Möge die Benediction es fett machen!‟ Jn damaliger Zeit wurde das Thierchen in den Klöſtern Cassus alpinus genannt, und gelehrte Leute beſchäftigten ſich mit ſeiner Beſchreibung. Der Jeſuit Kircher hielt es nach Tſchudi für einen Blendling von Dachs und Eichhorn; Altmann aber verwahrt ſich gegen ſolche Einbildungen und kennzeichnet das Murmelthier als einen kleinen Dachs, der mit den wahren, echten zu den Schweinen gehöre; er erzählt auch, daß es vierzehn Tage vor dem Winterſchlafe Nichts mehr zu ſich nehme, wohl aber viel Waſſer trinke und dadurch ſeine Eingeweide ansſpüle, damit ſie über Winter nicht verfaulten! Schon in alten Zeiten wurde dem armen Gebirgskinde eifrig nachgeſtellt, und in der Neuzeit iſt es nicht beſſer geworden. Die Fallen liefern, ſo einfach ſie ſind, immer guten Ertrag und ver- mindern die Murmelthiere um ein Beträchtliches; die Nachgrabungen im Winter rotten ſie familien- weiſe aus. Mit Recht iſt deshalb in vielen Kantonen der Schweiz das Graben auf Murmelthiere verboten; denn dadurch würde in kurzer Zeit ihre vollſtändige Vernichtung herbeigeführt werden, während die einfache Jagd bei der Vorſicht unſerer Thiere ihnen nie ſehr gefährlich wird. Den Fallen entgehen ſie freilich ſchwer. Hier und da ſind, wie Tſchudi berichtet, die Bergbewohner ver- nünftig und beſcheiden genug, ihre Fallen blos für die alten Thiere einzurichten, ſo z. B. an der Gletſcheralp im Walliſer Saaßthale, wo die Thiere in größerer Menge vorhanden ſind, weil die Jungen ſtets geſchont werden. Jm Sommer hilft das Nachgraben gar Nichts, weil die dann vollſtändig wachen Thiere viel ſchneller tiefer in den Berg hineingraben, als der Menſch ihnen nachkommen kann. Jm äußerſten Nothfalle vertheidigen ſich die Murmelthiere auch noch mit Muth und Entſchloſſenheit gegen ihre Gegner, indem ſie ſtark beißen oder auch ihre ſtarken Krallen anwenden. Wird eine Geſellſchaft gar zu heftig verfolgt, ſo zieht ſie aus und wandert, um ſicher zu ſein, von einem Berge zum andern. Für die Gefangenſchaft und Zähmung wählt man ſich am liebſten die Jungen, obgleich es ſchwierig iſt, dieſe der Mutter wegzuhaſchen, wenn ſie den erſten Ausgang machen. Sehr jung ein-

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/109>, abgerufen am 24.11.2024.