wo ihm auch diese Kost mangelt, verzehrt er oft unverdauliche Stoffe, um seinen Hunger zu stillen, z. B. alte Kleidungsstücke, Garn, altes Schuhwerk und dergleichen, welche Dinge er sich in der Nähe der Wohnungen aus dem Kehricht hervorsucht. Den Menschen fällt er unter allen Umständen nur dann an, wenn ihn der wüthendste Hunger dazu zwingt. Hat er aber einmal gesehen, wie leicht der Mensch zu überwältigen ist, so zieht er später sein Fleisch dem aller übrigen Thiere vor. Er schleicht sich dann oft in die Dörfer hinein, selbst bei hellem Tage, um Kinder zu rauben. Häufig genug soll es vorgekommen sein, daß er auch Leichen aus der Erde gegraben und diese gefressen hat.
Aus allen diesen Angaben mag hervorgehen, wie schädlich dieses Raubthier ist oder werden kann. Bei den Nomadenvölkern oder allen denen, welche Biehzucht treiben, ist er entschieden der schlimmste ihrer Feinde. Es kommt vor, daß er die Biehzucht wirklich unmöglich macht. So wurde ein Versuch, das so nützliche Ren auch auf den südlichen Gebirgen Norwegens zu züchten, oder in Herden zu halten, durch die Wölfe vereitelt. Man hatte Renthiere aus Lappland gebracht und der Obhut einiger Lappen übergeben, welche ihrem Geschäfte auch wirklich so gut vorstanden, daß nach wenigen Jahren die Herden von Hunderten auf Tausende gewachsen waren. Mit der Vermehrung der Renthiere nahm aber die Zahl der Wölfe derart überhand, daß man zuletzt gezwungen war, die Renthiere theils zu tödten, theils verwildern zu lassen, um nur die Plage wieder loszuwerden. Jn der russischen Provinz Liefland wurden in dem Jahre 1823 bei den Behörden als den Wölfen zur Bente gefallene Thiere angemeldet: 15,182 Schafe, 1807 Rinder, 1841 Pferde, 3270 Lämmer und Ziegen, 4190 Schweine, 703 Hunde und 1873 Gänse und Hühner. Jm Großherzogthum Posen wurden im Jahre 1820 neunzehn Erwachsene und Kinder zerrissen, und doch hatte die preußische Regierung in den vorhergehenden Jahren 4618 Thaler Schußgeld für erlegte Wölfe bezahlt. Dem Rückzug der Frauzosen folgten die vierbeinigen Raubmörder durch ganz Deutschland bis an den Rhein und rich- teten überall namhaften Schaden an. Jn Lappland ist das Wort Friede gleichbedeutend mit "Ruhe vor den Wölfen". Man kennt blos einen Krieg, und dieser gilt den Raubthieren, welche das lebendige Besitzthum der armen Nomaden des Nordens oft in der empfindlichsten Weise schädigen. Auch in Spanien verursachen die Wölfe bedeutende Verluste. Während meiner Anwesenheit in diesem schönen Lande, im Winter von 1856 zu 1857, fand man einmal zwei jener muthigen Sicherheits- beamten, welche Spanien von menschlichen Räubern befreit haben, todt inmitten einer Schar von Wölfen, welche sie vorher erlegt hatten. Die tapferen Männer hatten gekämpft, solange ihr Pulver und Blei ausgereicht hatte, und selbst dann noch mit dem Bayonnet sich vertheidigt, waren aber endlich doch unterlegen, vielleicht mehr der Ermattung und der Kälte, als den hungrigen Wölfen.
Es ist kein Wunder, wenn diese gefährlichen Thiere, zumal da, wo sie in Menge auftreten, nicht blos unter den Menschen, sondern auch unter den Thieren Angst und Schrecken verursachen. Die Pferde werden im hohen Grade unruhig, sobald sie einen Wolf wittern, die übrigen Hausthiere, mit Ausnahme der Hunde, ergreifen die Flucht, wenn sie nur die geringste Wahrnehmung von ihrem Hauptfeinde erlangt haben. Für gute Hunde aber scheint es kein größeres Vergnügen zu geben, als die Wolfsjagd, wie ja überhaupt die Hunde sich dadurch auszeichnen, daß sie gerade diejenige Jagd am liebsten betreiben, welche die gefährlichste ist. Dabei ist es merkwürdig, daß der Haß zwischen zwei so nahen Verwandten, wie es der Hund und Wolf sind, eine so unbeschreibliche Höhe erreichen kann. Ein Hund, welcher auf eine Wolfsfährte gesetzt wird, vergißt Alles, geräth in die namenloseste Wuth und ruht nicht eher, als bis er seinen Feind am Kragen hat. Dann achtet er keine Verwundung, nicht einmal den Tod seiner Gefährten. Noch sterbend sucht er sich an dem Wolf festzubeißen. Aber auch andere Hausthiere wissen sich gegen den Wolf zu vertheidigen. "Jn den südrussischen Steppen," sagt Kohl, "wohnen die Wölfe in selbst gegrabenen Höhlen, die oft klaftertief sind. Kaum sind sie irgendwo häufiger, als in den waldigen und buschigen Ebenen der Ukraine und Kleinrußlands. Jede mensch- liche Wohnung ist dort eine wahre Festung gegen die Wölfe, und mit 12 bis 14 Fuß hohen Dorn- mauern umgeben. Diese Thiere umschleichen in der Nacht immerfort die Herden der russischen Steppen. Den Pferdeherden nahen sie sich mit Vorsicht, suchen einzelne Füllen wegzuschnappen, die sich zuweit
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Seine Schädlichkeit.
wo ihm auch dieſe Koſt mangelt, verzehrt er oft unverdauliche Stoffe, um ſeinen Hunger zu ſtillen, z. B. alte Kleidungsſtücke, Garn, altes Schuhwerk und dergleichen, welche Dinge er ſich in der Nähe der Wohnungen aus dem Kehricht hervorſucht. Den Menſchen fällt er unter allen Umſtänden nur dann an, wenn ihn der wüthendſte Hunger dazu zwingt. Hat er aber einmal geſehen, wie leicht der Menſch zu überwältigen iſt, ſo zieht er ſpäter ſein Fleiſch dem aller übrigen Thiere vor. Er ſchleicht ſich dann oft in die Dörfer hinein, ſelbſt bei hellem Tage, um Kinder zu rauben. Häufig genug ſoll es vorgekommen ſein, daß er auch Leichen aus der Erde gegraben und dieſe gefreſſen hat.
Aus allen dieſen Angaben mag hervorgehen, wie ſchädlich dieſes Raubthier iſt oder werden kann. Bei den Nomadenvölkern oder allen denen, welche Biehzucht treiben, iſt er entſchieden der ſchlimmſte ihrer Feinde. Es kommt vor, daß er die Biehzucht wirklich unmöglich macht. So wurde ein Verſuch, das ſo nützliche Ren auch auf den ſüdlichen Gebirgen Norwegens zu züchten, oder in Herden zu halten, durch die Wölfe vereitelt. Man hatte Renthiere aus Lappland gebracht und der Obhut einiger Lappen übergeben, welche ihrem Geſchäfte auch wirklich ſo gut vorſtanden, daß nach wenigen Jahren die Herden von Hunderten auf Tauſende gewachſen waren. Mit der Vermehrung der Renthiere nahm aber die Zahl der Wölfe derart überhand, daß man zuletzt gezwungen war, die Renthiere theils zu tödten, theils verwildern zu laſſen, um nur die Plage wieder loszuwerden. Jn der ruſſiſchen Provinz Liefland wurden in dem Jahre 1823 bei den Behörden als den Wölfen zur Bente gefallene Thiere angemeldet: 15,182 Schafe, 1807 Rinder, 1841 Pferde, 3270 Lämmer und Ziegen, 4190 Schweine, 703 Hunde und 1873 Gänſe und Hühner. Jm Großherzogthum Poſen wurden im Jahre 1820 neunzehn Erwachſene und Kinder zerriſſen, und doch hatte die preußiſche Regierung in den vorhergehenden Jahren 4618 Thaler Schußgeld für erlegte Wölfe bezahlt. Dem Rückzug der Frauzoſen folgten die vierbeinigen Raubmörder durch ganz Deutſchland bis an den Rhein und rich- teten überall namhaften Schaden an. Jn Lappland iſt das Wort Friede gleichbedeutend mit „Ruhe vor den Wölfen‟. Man kennt blos einen Krieg, und dieſer gilt den Raubthieren, welche das lebendige Beſitzthum der armen Nomaden des Nordens oft in der empfindlichſten Weiſe ſchädigen. Auch in Spanien verurſachen die Wölfe bedeutende Verluſte. Während meiner Anweſenheit in dieſem ſchönen Lande, im Winter von 1856 zu 1857, fand man einmal zwei jener muthigen Sicherheits- beamten, welche Spanien von menſchlichen Räubern befreit haben, todt inmitten einer Schar von Wölfen, welche ſie vorher erlegt hatten. Die tapferen Männer hatten gekämpft, ſolange ihr Pulver und Blei ausgereicht hatte, und ſelbſt dann noch mit dem Bayonnet ſich vertheidigt, waren aber endlich doch unterlegen, vielleicht mehr der Ermattung und der Kälte, als den hungrigen Wölfen.
Es iſt kein Wunder, wenn dieſe gefährlichen Thiere, zumal da, wo ſie in Menge auftreten, nicht blos unter den Menſchen, ſondern auch unter den Thieren Angſt und Schrecken verurſachen. Die Pferde werden im hohen Grade unruhig, ſobald ſie einen Wolf wittern, die übrigen Hausthiere, mit Ausnahme der Hunde, ergreifen die Flucht, wenn ſie nur die geringſte Wahrnehmung von ihrem Hauptfeinde erlangt haben. Für gute Hunde aber ſcheint es kein größeres Vergnügen zu geben, als die Wolfsjagd, wie ja überhaupt die Hunde ſich dadurch auszeichnen, daß ſie gerade diejenige Jagd am liebſten betreiben, welche die gefährlichſte iſt. Dabei iſt es merkwürdig, daß der Haß zwiſchen zwei ſo nahen Verwandten, wie es der Hund und Wolf ſind, eine ſo unbeſchreibliche Höhe erreichen kann. Ein Hund, welcher auf eine Wolfsfährte geſetzt wird, vergißt Alles, geräth in die namenloſeſte Wuth und ruht nicht eher, als bis er ſeinen Feind am Kragen hat. Dann achtet er keine Verwundung, nicht einmal den Tod ſeiner Gefährten. Noch ſterbend ſucht er ſich an dem Wolf feſtzubeißen. Aber auch andere Hausthiere wiſſen ſich gegen den Wolf zu vertheidigen. „Jn den ſüdruſſiſchen Steppen,‟ ſagt Kohl, „wohnen die Wölfe in ſelbſt gegrabenen Höhlen, die oft klaftertief ſind. Kaum ſind ſie irgendwo häufiger, als in den waldigen und buſchigen Ebenen der Ukraine und Kleinrußlands. Jede menſch- liche Wohnung iſt dort eine wahre Feſtung gegen die Wölfe, und mit 12 bis 14 Fuß hohen Dorn- mauern umgeben. Dieſe Thiere umſchleichen in der Nacht immerfort die Herden der ruſſiſchen Steppen. Den Pferdeherden nahen ſie ſich mit Vorſicht, ſuchen einzelne Füllen wegzuſchnappen, die ſich zuweit
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[403/0471]
Seine Schädlichkeit.
wo ihm auch dieſe Koſt mangelt, verzehrt er oft unverdauliche Stoffe, um ſeinen Hunger zu ſtillen,
z. B. alte Kleidungsſtücke, Garn, altes Schuhwerk und dergleichen, welche Dinge er ſich in der Nähe
der Wohnungen aus dem Kehricht hervorſucht. Den Menſchen fällt er unter allen Umſtänden nur
dann an, wenn ihn der wüthendſte Hunger dazu zwingt. Hat er aber einmal geſehen, wie leicht der
Menſch zu überwältigen iſt, ſo zieht er ſpäter ſein Fleiſch dem aller übrigen Thiere vor. Er ſchleicht
ſich dann oft in die Dörfer hinein, ſelbſt bei hellem Tage, um Kinder zu rauben. Häufig genug ſoll
es vorgekommen ſein, daß er auch Leichen aus der Erde gegraben und dieſe gefreſſen hat.
Aus allen dieſen Angaben mag hervorgehen, wie ſchädlich dieſes Raubthier iſt oder werden
kann. Bei den Nomadenvölkern oder allen denen, welche Biehzucht treiben, iſt er entſchieden der
ſchlimmſte ihrer Feinde. Es kommt vor, daß er die Biehzucht wirklich unmöglich macht. So wurde
ein Verſuch, das ſo nützliche Ren auch auf den ſüdlichen Gebirgen Norwegens zu züchten, oder in
Herden zu halten, durch die Wölfe vereitelt. Man hatte Renthiere aus Lappland gebracht und der
Obhut einiger Lappen übergeben, welche ihrem Geſchäfte auch wirklich ſo gut vorſtanden, daß nach
wenigen Jahren die Herden von Hunderten auf Tauſende gewachſen waren. Mit der Vermehrung
der Renthiere nahm aber die Zahl der Wölfe derart überhand, daß man zuletzt gezwungen war, die
Renthiere theils zu tödten, theils verwildern zu laſſen, um nur die Plage wieder loszuwerden. Jn
der ruſſiſchen Provinz Liefland wurden in dem Jahre 1823 bei den Behörden als den Wölfen zur Bente
gefallene Thiere angemeldet: 15,182 Schafe, 1807 Rinder, 1841 Pferde, 3270 Lämmer und Ziegen,
4190 Schweine, 703 Hunde und 1873 Gänſe und Hühner. Jm Großherzogthum Poſen wurden
im Jahre 1820 neunzehn Erwachſene und Kinder zerriſſen, und doch hatte die preußiſche Regierung
in den vorhergehenden Jahren 4618 Thaler Schußgeld für erlegte Wölfe bezahlt. Dem Rückzug der
Frauzoſen folgten die vierbeinigen Raubmörder durch ganz Deutſchland bis an den Rhein und rich-
teten überall namhaften Schaden an. Jn Lappland iſt das Wort Friede gleichbedeutend mit „Ruhe
vor den Wölfen‟. Man kennt blos einen Krieg, und dieſer gilt den Raubthieren, welche das
lebendige Beſitzthum der armen Nomaden des Nordens oft in der empfindlichſten Weiſe ſchädigen.
Auch in Spanien verurſachen die Wölfe bedeutende Verluſte. Während meiner Anweſenheit in dieſem
ſchönen Lande, im Winter von 1856 zu 1857, fand man einmal zwei jener muthigen Sicherheits-
beamten, welche Spanien von menſchlichen Räubern befreit haben, todt inmitten einer Schar von
Wölfen, welche ſie vorher erlegt hatten. Die tapferen Männer hatten gekämpft, ſolange ihr Pulver
und Blei ausgereicht hatte, und ſelbſt dann noch mit dem Bayonnet ſich vertheidigt, waren aber
endlich doch unterlegen, vielleicht mehr der Ermattung und der Kälte, als den hungrigen Wölfen.
Es iſt kein Wunder, wenn dieſe gefährlichen Thiere, zumal da, wo ſie in Menge auftreten, nicht
blos unter den Menſchen, ſondern auch unter den Thieren Angſt und Schrecken verurſachen. Die
Pferde werden im hohen Grade unruhig, ſobald ſie einen Wolf wittern, die übrigen Hausthiere, mit
Ausnahme der Hunde, ergreifen die Flucht, wenn ſie nur die geringſte Wahrnehmung von ihrem
Hauptfeinde erlangt haben. Für gute Hunde aber ſcheint es kein größeres Vergnügen zu geben, als
die Wolfsjagd, wie ja überhaupt die Hunde ſich dadurch auszeichnen, daß ſie gerade diejenige Jagd
am liebſten betreiben, welche die gefährlichſte iſt. Dabei iſt es merkwürdig, daß der Haß zwiſchen zwei
ſo nahen Verwandten, wie es der Hund und Wolf ſind, eine ſo unbeſchreibliche Höhe erreichen kann.
Ein Hund, welcher auf eine Wolfsfährte geſetzt wird, vergißt Alles, geräth in die namenloſeſte Wuth
und ruht nicht eher, als bis er ſeinen Feind am Kragen hat. Dann achtet er keine Verwundung, nicht
einmal den Tod ſeiner Gefährten. Noch ſterbend ſucht er ſich an dem Wolf feſtzubeißen. Aber auch
andere Hausthiere wiſſen ſich gegen den Wolf zu vertheidigen. „Jn den ſüdruſſiſchen Steppen,‟ ſagt
Kohl, „wohnen die Wölfe in ſelbſt gegrabenen Höhlen, die oft klaftertief ſind. Kaum ſind ſie irgendwo
häufiger, als in den waldigen und buſchigen Ebenen der Ukraine und Kleinrußlands. Jede menſch-
liche Wohnung iſt dort eine wahre Feſtung gegen die Wölfe, und mit 12 bis 14 Fuß hohen Dorn-
mauern umgeben. Dieſe Thiere umſchleichen in der Nacht immerfort die Herden der ruſſiſchen Steppen.
Den Pferdeherden nahen ſie ſich mit Vorſicht, ſuchen einzelne Füllen wegzuſchnappen, die ſich zuweit
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben01_1864/471>, abgerufen am 25.11.2024.
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