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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864.

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Die Raubthiere. Hunde.
so die Abwesenheit des letzten obern Kauzahns, auch die des ersten Lückzahns, die veränderliche Länge,
Dicke und Krümmung der Eckzähne und andere."

"Die angedeuteten Unterschiede im Naturell der Hunderassen sprechen sich gleich auffällig in der
übrigen Bildung des Schädels aus. Das raubgierige Thier mit starkem Gebiß bedarf kräftigere
Kiefermuskeln, und diese größere und bezeichnetere Ansatzpunkte im Schädel, als das sanftere und
gutmüthigere mit feinen Zahnformen. Vergleichen wir die Schädel der schon weit auseinandergehen-
den Hunderassen mit einander, so finden wir viel auffallendere Unterschiede, als bei den Arten irgend
einer andern Raubthiersippe, ja erheblichere, als noch bei sonst verwandten Sippen. Der hirntragende
Schädeltheil geht von der Kugelgestalt, ohne hervortretende Leisten und Kamm, bis zu einer sehr
stark zusammengedrückten, mit ungemein stark entwickelten Leisten über. Die Jochbogen sind entsprechend
schwächer und stärker, weniger oder mehr abstehend; die Augenhöhlen größer oder kleiner; der sie
hinten begrenzende obere Fortsatz ist völlig fehlend, bis sehr stark entwickelt, die Stirn breit, gewölbt,
bis zur Schnauze abfallend, oder schmal, spitz, sanft abfallend, die Nasenbeine sind breit, stumpf oder
spitz und schmal endend, die Zwischenkiefer bald kürzer, bald länger, an denselben hinaufreichend etc.
Die Eigenthümlichkeiten des Schädels gehen auf den vordern Theil der Wirbelsäule über, und die
Abänderungen dieses Theils wirken wieder auf die hintere Wirbelgegend ein. Daß der Schwanz und
die Gliedmaßen äußerlich, wie auch im Geripp gleich große Unterschiede im allgemeinen wie in den
einzelnen Knochen bieten, brauche ich nun kaum noch zu erwähnen. Sehr wichtig für die Systematik,
doch leider bisher wenig gewürdigt, ist aber noch die Erscheinung, daß einige Hunderassen an den
Hinterpfoten äußerlich sowohl als im Skelett fünf vollkommen entwickelte Zehen haben, während die
meisten anderen nur deren vier ausgebildet besitzen und statt der fünften blos eine Afterzehe tragen,
welche im Geripp völlig fehlt. Eine Zehe mehr oder weniger bei Raubthieren reicht für die meisten
Thierkundigen schon aus, die Thiere als Arten zu trennen, auch wenn dieselben in allem Uebrigen
viel geringere Unterschiede bieten, als die erwähnten der Hunderassen."

"Die Unterschiede in den Weichtheilen der Hunderassen, in Form und Größe des Magens und
Darms, der Leber und Milz, der Lunge und des Herzens, der Nieren und der Geschlechtstheile, des
Nerven- und Muskelsystems aufzuzählen: dazu fehlen hinlängliche Beobachtungen. Wir haben zwar
ausgezeichnete thierärztliche Anstalten, reichbegabte Hochschulen, vortrefflich mit Hilfsmitteln und
Kräften ausgestattete Zergliederungsanstalten, aber eine vergleichende Zergliederungskunde der Hunde-
rassen fehlt der heutigen Höhe der Wissenschaft noch gänzlich. Kein ausgesetzter Preis fördert sie,
kein Thierzergliederer stellt die charakteristischen Präparate auf; die Organisationen unserer Haus-
und Stubengenossen, der treusten Wächter unsers Eigenthums, unserer ergebensten Diener, unserer
theilnehmendsten Freunde aus dem Thierreiche finden noch keine ernstliche Theilnahme, obwohl ihre
gründliche Erkenntniß die höchsten und wichtigsten Fragen der Wissenschaft berührt. Meine hierauf
bezüglichen, erst nur an drei Rassen angestellten Untersuchungen, welche bei dem Mangel der nöthigen
Hilfsmittel und bei der nothwendig gewordenen weitern Ausdehnung meiner wissenschaftlichen For-
schungen nur äußerst langsam fortschreiten, bestätigen indeß schon als erste Versuche die Ergebnisse,
welche aus dem Bau der Zähne und des Geripps gewonnen sind, daß nämlich auch in den Weich-
theilen die Hunderassen sehr weit über die Grenzen der Nassenabänderungen und Spielarten hinaus-
gehen. Und sind dann nun nicht auch Naturell und Lebensweife, welche sich auf den verschiedenen
Leibesbau gründen, in der größten Verschiedenartigkeit in den Hunderassen vertreten? Wir haben
Allesfresser, Pflanzenfresser und Fleischfresser unter den Haushunden; die Südseeinsulaner sind ent-
schiedene Pflanzenfresser, die kamtschadalischen und Eskimohunde entschiedene Fischfresser: die Hunde
auf Juan Fernando fressen nur Seehunde, und dem aufmerksamen Beobachter wird es nicht ent-
gehen, daß selbst von unseren einheimischen Haushunden, obwohl dieselben meist von Jugend auf
an gemischte Kost gewöhnt, einige Rassen entschiedene Fleischfresser sind, andere Gemüse vorziehen
und dabei besser gedeihen. Das wilde, bösartige Wesen des Bergamasker- und Punahirten-
hundes,
des Dingo und Nippon steht in auffallendstem Gegensatz zu dem sanften unsers Pudels,

Die Raubthiere. Hunde.
ſo die Abweſenheit des letzten obern Kauzahns, auch die des erſten Lückzahns, die veränderliche Länge,
Dicke und Krümmung der Eckzähne und andere.‟

„Die angedeuteten Unterſchiede im Naturell der Hunderaſſen ſprechen ſich gleich auffällig in der
übrigen Bildung des Schädels aus. Das raubgierige Thier mit ſtarkem Gebiß bedarf kräftigere
Kiefermuskeln, und dieſe größere und bezeichnetere Anſatzpunkte im Schädel, als das ſanftere und
gutmüthigere mit feinen Zahnformen. Vergleichen wir die Schädel der ſchon weit auseinandergehen-
den Hunderaſſen mit einander, ſo finden wir viel auffallendere Unterſchiede, als bei den Arten irgend
einer andern Raubthierſippe, ja erheblichere, als noch bei ſonſt verwandten Sippen. Der hirntragende
Schädeltheil geht von der Kugelgeſtalt, ohne hervortretende Leiſten und Kamm, bis zu einer ſehr
ſtark zuſammengedrückten, mit ungemein ſtark entwickelten Leiſten über. Die Jochbogen ſind entſprechend
ſchwächer und ſtärker, weniger oder mehr abſtehend; die Augenhöhlen größer oder kleiner; der ſie
hinten begrenzende obere Fortſatz iſt völlig fehlend, bis ſehr ſtark entwickelt, die Stirn breit, gewölbt,
bis zur Schnauze abfallend, oder ſchmal, ſpitz, ſanft abfallend, die Naſenbeine ſind breit, ſtumpf oder
ſpitz und ſchmal endend, die Zwiſchenkiefer bald kürzer, bald länger, an denſelben hinaufreichend ꝛc.
Die Eigenthümlichkeiten des Schädels gehen auf den vordern Theil der Wirbelſäule über, und die
Abänderungen dieſes Theils wirken wieder auf die hintere Wirbelgegend ein. Daß der Schwanz und
die Gliedmaßen äußerlich, wie auch im Geripp gleich große Unterſchiede im allgemeinen wie in den
einzelnen Knochen bieten, brauche ich nun kaum noch zu erwähnen. Sehr wichtig für die Syſtematik,
doch leider bisher wenig gewürdigt, iſt aber noch die Erſcheinung, daß einige Hunderaſſen an den
Hinterpfoten äußerlich ſowohl als im Skelett fünf vollkommen entwickelte Zehen haben, während die
meiſten anderen nur deren vier ausgebildet beſitzen und ſtatt der fünften blos eine Afterzehe tragen,
welche im Geripp völlig fehlt. Eine Zehe mehr oder weniger bei Raubthieren reicht für die meiſten
Thierkundigen ſchon aus, die Thiere als Arten zu trennen, auch wenn dieſelben in allem Uebrigen
viel geringere Unterſchiede bieten, als die erwähnten der Hunderaſſen.‟

„Die Unterſchiede in den Weichtheilen der Hunderaſſen, in Form und Größe des Magens und
Darms, der Leber und Milz, der Lunge und des Herzens, der Nieren und der Geſchlechtstheile, des
Nerven- und Muskelſyſtems aufzuzählen: dazu fehlen hinlängliche Beobachtungen. Wir haben zwar
ausgezeichnete thierärztliche Anſtalten, reichbegabte Hochſchulen, vortrefflich mit Hilfsmitteln und
Kräften ausgeſtattete Zergliederungsanſtalten, aber eine vergleichende Zergliederungskunde der Hunde-
raſſen fehlt der heutigen Höhe der Wiſſenſchaft noch gänzlich. Kein ausgeſetzter Preis fördert ſie,
kein Thierzergliederer ſtellt die charakteriſtiſchen Präparate auf; die Organiſationen unſerer Haus-
und Stubengenoſſen, der treuſten Wächter unſers Eigenthums, unſerer ergebenſten Diener, unſerer
theilnehmendſten Freunde aus dem Thierreiche finden noch keine ernſtliche Theilnahme, obwohl ihre
gründliche Erkenntniß die höchſten und wichtigſten Fragen der Wiſſenſchaft berührt. Meine hierauf
bezüglichen, erſt nur an drei Raſſen angeſtellten Unterſuchungen, welche bei dem Mangel der nöthigen
Hilfsmittel und bei der nothwendig gewordenen weitern Ausdehnung meiner wiſſenſchaftlichen For-
ſchungen nur äußerſt langſam fortſchreiten, beſtätigen indeß ſchon als erſte Verſuche die Ergebniſſe,
welche aus dem Bau der Zähne und des Geripps gewonnen ſind, daß nämlich auch in den Weich-
theilen die Hunderaſſen ſehr weit über die Grenzen der Naſſenabänderungen und Spielarten hinaus-
gehen. Und ſind dann nun nicht auch Naturell und Lebensweife, welche ſich auf den verſchiedenen
Leibesbau gründen, in der größten Verſchiedenartigkeit in den Hunderaſſen vertreten? Wir haben
Allesfreſſer, Pflanzenfreſſer und Fleiſchfreſſer unter den Haushunden; die Südſeeinſulaner ſind ent-
ſchiedene Pflanzenfreſſer, die kamtſchadaliſchen und Eskimohunde entſchiedene Fiſchfreſſer: die Hunde
auf Juan Fernando freſſen nur Seehunde, und dem aufmerkſamen Beobachter wird es nicht ent-
gehen, daß ſelbſt von unſeren einheimiſchen Haushunden, obwohl dieſelben meiſt von Jugend auf
an gemiſchte Koſt gewöhnt, einige Raſſen entſchiedene Fleiſchfreſſer ſind, andere Gemüſe vorziehen
und dabei beſſer gedeihen. Das wilde, bösartige Weſen des Bergamasker- und Punahirten-
hundes,
des Dingo und Nippon ſteht in auffallendſtem Gegenſatz zu dem ſanften unſers Pudels,

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[318/0384] Die Raubthiere. Hunde. ſo die Abweſenheit des letzten obern Kauzahns, auch die des erſten Lückzahns, die veränderliche Länge, Dicke und Krümmung der Eckzähne und andere.‟ „Die angedeuteten Unterſchiede im Naturell der Hunderaſſen ſprechen ſich gleich auffällig in der übrigen Bildung des Schädels aus. Das raubgierige Thier mit ſtarkem Gebiß bedarf kräftigere Kiefermuskeln, und dieſe größere und bezeichnetere Anſatzpunkte im Schädel, als das ſanftere und gutmüthigere mit feinen Zahnformen. Vergleichen wir die Schädel der ſchon weit auseinandergehen- den Hunderaſſen mit einander, ſo finden wir viel auffallendere Unterſchiede, als bei den Arten irgend einer andern Raubthierſippe, ja erheblichere, als noch bei ſonſt verwandten Sippen. Der hirntragende Schädeltheil geht von der Kugelgeſtalt, ohne hervortretende Leiſten und Kamm, bis zu einer ſehr ſtark zuſammengedrückten, mit ungemein ſtark entwickelten Leiſten über. Die Jochbogen ſind entſprechend ſchwächer und ſtärker, weniger oder mehr abſtehend; die Augenhöhlen größer oder kleiner; der ſie hinten begrenzende obere Fortſatz iſt völlig fehlend, bis ſehr ſtark entwickelt, die Stirn breit, gewölbt, bis zur Schnauze abfallend, oder ſchmal, ſpitz, ſanft abfallend, die Naſenbeine ſind breit, ſtumpf oder ſpitz und ſchmal endend, die Zwiſchenkiefer bald kürzer, bald länger, an denſelben hinaufreichend ꝛc. Die Eigenthümlichkeiten des Schädels gehen auf den vordern Theil der Wirbelſäule über, und die Abänderungen dieſes Theils wirken wieder auf die hintere Wirbelgegend ein. Daß der Schwanz und die Gliedmaßen äußerlich, wie auch im Geripp gleich große Unterſchiede im allgemeinen wie in den einzelnen Knochen bieten, brauche ich nun kaum noch zu erwähnen. Sehr wichtig für die Syſtematik, doch leider bisher wenig gewürdigt, iſt aber noch die Erſcheinung, daß einige Hunderaſſen an den Hinterpfoten äußerlich ſowohl als im Skelett fünf vollkommen entwickelte Zehen haben, während die meiſten anderen nur deren vier ausgebildet beſitzen und ſtatt der fünften blos eine Afterzehe tragen, welche im Geripp völlig fehlt. Eine Zehe mehr oder weniger bei Raubthieren reicht für die meiſten Thierkundigen ſchon aus, die Thiere als Arten zu trennen, auch wenn dieſelben in allem Uebrigen viel geringere Unterſchiede bieten, als die erwähnten der Hunderaſſen.‟ „Die Unterſchiede in den Weichtheilen der Hunderaſſen, in Form und Größe des Magens und Darms, der Leber und Milz, der Lunge und des Herzens, der Nieren und der Geſchlechtstheile, des Nerven- und Muskelſyſtems aufzuzählen: dazu fehlen hinlängliche Beobachtungen. Wir haben zwar ausgezeichnete thierärztliche Anſtalten, reichbegabte Hochſchulen, vortrefflich mit Hilfsmitteln und Kräften ausgeſtattete Zergliederungsanſtalten, aber eine vergleichende Zergliederungskunde der Hunde- raſſen fehlt der heutigen Höhe der Wiſſenſchaft noch gänzlich. Kein ausgeſetzter Preis fördert ſie, kein Thierzergliederer ſtellt die charakteriſtiſchen Präparate auf; die Organiſationen unſerer Haus- und Stubengenoſſen, der treuſten Wächter unſers Eigenthums, unſerer ergebenſten Diener, unſerer theilnehmendſten Freunde aus dem Thierreiche finden noch keine ernſtliche Theilnahme, obwohl ihre gründliche Erkenntniß die höchſten und wichtigſten Fragen der Wiſſenſchaft berührt. Meine hierauf bezüglichen, erſt nur an drei Raſſen angeſtellten Unterſuchungen, welche bei dem Mangel der nöthigen Hilfsmittel und bei der nothwendig gewordenen weitern Ausdehnung meiner wiſſenſchaftlichen For- ſchungen nur äußerſt langſam fortſchreiten, beſtätigen indeß ſchon als erſte Verſuche die Ergebniſſe, welche aus dem Bau der Zähne und des Geripps gewonnen ſind, daß nämlich auch in den Weich- theilen die Hunderaſſen ſehr weit über die Grenzen der Naſſenabänderungen und Spielarten hinaus- gehen. Und ſind dann nun nicht auch Naturell und Lebensweife, welche ſich auf den verſchiedenen Leibesbau gründen, in der größten Verſchiedenartigkeit in den Hunderaſſen vertreten? Wir haben Allesfreſſer, Pflanzenfreſſer und Fleiſchfreſſer unter den Haushunden; die Südſeeinſulaner ſind ent- ſchiedene Pflanzenfreſſer, die kamtſchadaliſchen und Eskimohunde entſchiedene Fiſchfreſſer: die Hunde auf Juan Fernando freſſen nur Seehunde, und dem aufmerkſamen Beobachter wird es nicht ent- gehen, daß ſelbſt von unſeren einheimiſchen Haushunden, obwohl dieſelben meiſt von Jugend auf an gemiſchte Koſt gewöhnt, einige Raſſen entſchiedene Fleiſchfreſſer ſind, andere Gemüſe vorziehen und dabei beſſer gedeihen. Das wilde, bösartige Weſen des Bergamasker- und Punahirten- hundes, des Dingo und Nippon ſteht in auffallendſtem Gegenſatz zu dem ſanften unſers Pudels,

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben01_1864/384>, abgerufen am 24.11.2024.