Magen der Wiederkäuer. Sinnesthätigkeit. Gefühl. Geschmack.
Es scheint, als ob das Geschäft des Wiederkäuens zu jeder Zeit stattfinden könne, sobald nur das Thier nicht mit Abbeißen und Verschlingen der ersten Nahrung thätig ist. Eine behagliche Lage und eine gewisse Ruhe ist unbedingtes Erforderniß zum Wiederkänen; ich wenigstens habe bis- her blos Kamele während des Laufens wiederkäuen sehen. Sowie aber die gewünschte Ruhe des Leibes eingetreten ist, beginnt der Magen augenblicklich sein Geschäft, und das Thier betreibt die wichtige Sache mit solcher Hingebung, daß es aussieht, als sei es in die tiefsinnigsten Gedanken ver- sunken. Jn Wahrheit aber denkt es an gar Nichts, oder höchstens daran, daß die faule Ruhe des Leibes in keiner Weise unterbrochen werde. Deshalb käut das Leitthier eines Wildrudels nur dann wieder, wenn es nicht mehr für das Wohl der Gesammtheit zu sorgen hat, sondern durch einen anderen Wächter abgelöst worden ist. Das alte, noch immer beliebte Sprichwort:
"Nach dem Essen sollst Du stehen Oder tausend Schritte gehen"
wird von den sehr eß- und verdauungsverständigen Wiederkäuern am schlagendsten widerlegt.
So lange wir uns mit der rein leiblichen Thätigkeit der Säugethiere beschäftigten, mußten wir die großen Vorzüge anerkennen, welche die Bewegungsthiere oder Vögel, wenigstens in vielen Stücken, unserer Klasse, den Empfindungsthieren, gegenüber besitzen. Anders ist es aber, wenn wir die geistigen Fähigkeiten der Säuger betrachten. Die Sinnesthätigkeit, welche bei den unteren Klassen als die einzige geistige Regung angesehen werden muß, ist auch noch bei den Fischen und Lurchen noch eine verhältnißmäßig sehr geringe und bei den Vögeln eine vielfach beschränkte; bei unserer Klasse aber treten alle Sinne gleichsam erst in volle Wirksamkeit. Jhre einhellige und gleichmäßige Entwickelung erhebt die Säugethiere hoch über die Vögel. Sie, die letzteren, sind vorzugsweise Au- gen-, jene "Allsinnsthiere". Die Vögel sehen besser, als die Säuger, weil ihr großes Auge vermöge seiner inneren Beweglichkeit für verschiedene Entfernungen eingestellt und sehfähig ge- macht werden kann: sie stehen dagegen in allen übrigen Sinnesthätigkeiten weit hinter den letzteren zurück. Bei den Säugethieren zeigt sich schon überall mehr oder weniger jene Allseitigkeit, welche im Menschen zur vollen Geltung gelaugt: und deshalb eben stehen sie an der Spitze des Thierreichs.
Das Gefühl dürfte unter allen Sinnen derjenige sein, welcher am wenigsten hervortritt: und wie ausgebildet ist gerade dieser Sinn bei den Säugethieren! Der gewaltige Walfisch soll durch die geringste Verührung seiner Haut zum sofortigen Tieftauchen bewogen werden; der Elefant spürt augenblicklich die Fliege, welche sich auf seinem dicken Felle festsetzt; dem Ochsen verursacht leises Krabbeln zwischen seinen Hörnern angenehmen Kitzel; den schlafenden Hund erweckt das sanfteste Streicheln. Und alle diese Thiere sind gefühllos zu nennen, im Vergleich zum Menschen. Bei ihm ist die äußere Haut ja so zartfühlend, daß auch der leiseste Lufthauch, welcher sie trifft, empfunden wird. Der Tastsinn zeigt sich zwar schwächer, als die Empfindung, aber doch auch überall mindestens in demselben Grade, wie bei den Vögeln. Selbst die Einhufer besitzen ein gewisses Tastgefühl in ihren Füßen, trotz des Hornschuhes, welcher vom Hufbeschläger wie ein dürres Stück Holz behandelt werden kann; man muß nur ein Pferd beobachten, wenn es nachts das Gebirge hinauf- oder hinab- steigt: mit seinem Hufe prüft es den Weg, mit ihm betastet es den Boden. Die Tastfähigkeit der Schnurrhaare ist schon viel größer; die mit ihnen versehenen Thiere tasten wohl fast ebenso gut, wie viele Kerbthiere, welche ihren ersten Sinn in den Fühlhörnern tragen. Unsere Hauskatze, die Ratte oder die Maus zeigen in sehr ersichtlicher Weise, wie nützlich ihnen die Schnurrhaare sind: sie beschnuppern oft nur scheinbar einen Gegenstand oder wenigstens erst, nachdem sie ihn betastet haben. Allen Nachtsäugethieren sind die Schnurrhaare ganz unentbehrliche Wegweiser bei ihren nächt- lichen Wanderungen: sie schützen vielfach die edleren Sinneswerkzeuge des Gesichts und Geruchs. Zu welcher bewunderungswürdigen Vollkommenheit aber der Tastsinn in unserer Klasse gelangen kann, hat jeder meiner Leser an seiner eigenen Hand erfahren, wenn diese auch noch weit hinter der eines Künstlers oder eines Blinden zurückstehen dürfte. Die Hand ist das vollkommenste aller Tastwerkzeuge: sie kann das Gesicht, wenn auch nicht ersetzen, so doch oft und wirksam vertreten.
Magen der Wiederkäuer. Sinnesthätigkeit. Gefühl. Geſchmack.
Es ſcheint, als ob das Geſchäft des Wiederkäuens zu jeder Zeit ſtattfinden könne, ſobald nur das Thier nicht mit Abbeißen und Verſchlingen der erſten Nahrung thätig iſt. Eine behagliche Lage und eine gewiſſe Ruhe iſt unbedingtes Erforderniß zum Wiederkänen; ich wenigſtens habe bis- her blos Kamele während des Laufens wiederkäuen ſehen. Sowie aber die gewünſchte Ruhe des Leibes eingetreten iſt, beginnt der Magen augenblicklich ſein Geſchäft, und das Thier betreibt die wichtige Sache mit ſolcher Hingebung, daß es ausſieht, als ſei es in die tiefſinnigſten Gedanken ver- ſunken. Jn Wahrheit aber denkt es an gar Nichts, oder höchſtens daran, daß die faule Ruhe des Leibes in keiner Weiſe unterbrochen werde. Deshalb käut das Leitthier eines Wildrudels nur dann wieder, wenn es nicht mehr für das Wohl der Geſammtheit zu ſorgen hat, ſondern durch einen anderen Wächter abgelöſt worden iſt. Das alte, noch immer beliebte Sprichwort:
„Nach dem Eſſen ſollſt Du ſtehen Oder tauſend Schritte gehen‟
wird von den ſehr eß- und verdauungsverſtändigen Wiederkäuern am ſchlagendſten widerlegt.
So lange wir uns mit der rein leiblichen Thätigkeit der Säugethiere beſchäftigten, mußten wir die großen Vorzüge anerkennen, welche die Bewegungsthiere oder Vögel, wenigſtens in vielen Stücken, unſerer Klaſſe, den Empfindungsthieren, gegenüber beſitzen. Anders iſt es aber, wenn wir die geiſtigen Fähigkeiten der Säuger betrachten. Die Sinnesthätigkeit, welche bei den unteren Klaſſen als die einzige geiſtige Regung angeſehen werden muß, iſt auch noch bei den Fiſchen und Lurchen noch eine verhältnißmäßig ſehr geringe und bei den Vögeln eine vielfach beſchränkte; bei unſerer Klaſſe aber treten alle Sinne gleichſam erſt in volle Wirkſamkeit. Jhre einhellige und gleichmäßige Entwickelung erhebt die Säugethiere hoch über die Vögel. Sie, die letzteren, ſind vorzugsweiſe Au- gen-, jene „Allſinnsthiere‟. Die Vögel ſehen beſſer, als die Säuger, weil ihr großes Auge vermöge ſeiner inneren Beweglichkeit für verſchiedene Entfernungen eingeſtellt und ſehfähig ge- macht werden kann: ſie ſtehen dagegen in allen übrigen Sinnesthätigkeiten weit hinter den letzteren zurück. Bei den Säugethieren zeigt ſich ſchon überall mehr oder weniger jene Allſeitigkeit, welche im Menſchen zur vollen Geltung gelaugt: und deshalb eben ſtehen ſie an der Spitze des Thierreichs.
Das Gefühl dürfte unter allen Sinnen derjenige ſein, welcher am wenigſten hervortritt: und wie ausgebildet iſt gerade dieſer Sinn bei den Säugethieren! Der gewaltige Walfiſch ſoll durch die geringſte Verührung ſeiner Haut zum ſofortigen Tieftauchen bewogen werden; der Elefant ſpürt augenblicklich die Fliege, welche ſich auf ſeinem dicken Felle feſtſetzt; dem Ochſen verurſacht leiſes Krabbeln zwiſchen ſeinen Hörnern angenehmen Kitzel; den ſchlafenden Hund erweckt das ſanfteſte Streicheln. Und alle dieſe Thiere ſind gefühllos zu nennen, im Vergleich zum Menſchen. Bei ihm iſt die äußere Haut ja ſo zartfühlend, daß auch der leiſeſte Lufthauch, welcher ſie trifft, empfunden wird. Der Taſtſinn zeigt ſich zwar ſchwächer, als die Empfindung, aber doch auch überall mindeſtens in demſelben Grade, wie bei den Vögeln. Selbſt die Einhufer beſitzen ein gewiſſes Taſtgefühl in ihren Füßen, trotz des Hornſchuhes, welcher vom Hufbeſchläger wie ein dürres Stück Holz behandelt werden kann; man muß nur ein Pferd beobachten, wenn es nachts das Gebirge hinauf- oder hinab- ſteigt: mit ſeinem Hufe prüft es den Weg, mit ihm betaſtet es den Boden. Die Taſtfähigkeit der Schnurrhaare iſt ſchon viel größer; die mit ihnen verſehenen Thiere taſten wohl faſt ebenſo gut, wie viele Kerbthiere, welche ihren erſten Sinn in den Fühlhörnern tragen. Unſere Hauskatze, die Ratte oder die Maus zeigen in ſehr erſichtlicher Weiſe, wie nützlich ihnen die Schnurrhaare ſind: ſie beſchnuppern oft nur ſcheinbar einen Gegenſtand oder wenigſtens erſt, nachdem ſie ihn betaſtet haben. Allen Nachtſäugethieren ſind die Schnurrhaare ganz unentbehrliche Wegweiſer bei ihren nächt- lichen Wanderungen: ſie ſchützen vielfach die edleren Sinneswerkzeuge des Geſichts und Geruchs. Zu welcher bewunderungswürdigen Vollkommenheit aber der Taſtſinn in unſerer Klaſſe gelangen kann, hat jeder meiner Leſer an ſeiner eigenen Hand erfahren, wenn dieſe auch noch weit hinter der eines Künſtlers oder eines Blinden zurückſtehen dürfte. Die Hand iſt das vollkommenſte aller Taſtwerkzeuge: ſie kann das Geſicht, wenn auch nicht erſetzen, ſo doch oft und wirkſam vertreten.
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[XXIII[XXIII]/0033]
Magen der Wiederkäuer. Sinnesthätigkeit. Gefühl. Geſchmack.
Es ſcheint, als ob das Geſchäft des Wiederkäuens zu jeder Zeit ſtattfinden könne, ſobald
nur das Thier nicht mit Abbeißen und Verſchlingen der erſten Nahrung thätig iſt. Eine behagliche
Lage und eine gewiſſe Ruhe iſt unbedingtes Erforderniß zum Wiederkänen; ich wenigſtens habe bis-
her blos Kamele während des Laufens wiederkäuen ſehen. Sowie aber die gewünſchte Ruhe des
Leibes eingetreten iſt, beginnt der Magen augenblicklich ſein Geſchäft, und das Thier betreibt die
wichtige Sache mit ſolcher Hingebung, daß es ausſieht, als ſei es in die tiefſinnigſten Gedanken ver-
ſunken. Jn Wahrheit aber denkt es an gar Nichts, oder höchſtens daran, daß die faule Ruhe des
Leibes in keiner Weiſe unterbrochen werde. Deshalb käut das Leitthier eines Wildrudels nur dann
wieder, wenn es nicht mehr für das Wohl der Geſammtheit zu ſorgen hat, ſondern durch einen
anderen Wächter abgelöſt worden iſt. Das alte, noch immer beliebte Sprichwort:
„Nach dem Eſſen ſollſt Du ſtehen
Oder tauſend Schritte gehen‟
wird von den ſehr eß- und verdauungsverſtändigen Wiederkäuern am ſchlagendſten widerlegt.
So lange wir uns mit der rein leiblichen Thätigkeit der Säugethiere beſchäftigten, mußten
wir die großen Vorzüge anerkennen, welche die Bewegungsthiere oder Vögel, wenigſtens in vielen
Stücken, unſerer Klaſſe, den Empfindungsthieren, gegenüber beſitzen. Anders iſt es aber, wenn wir
die geiſtigen Fähigkeiten der Säuger betrachten. Die Sinnesthätigkeit, welche bei den unteren Klaſſen
als die einzige geiſtige Regung angeſehen werden muß, iſt auch noch bei den Fiſchen und Lurchen
noch eine verhältnißmäßig ſehr geringe und bei den Vögeln eine vielfach beſchränkte; bei unſerer
Klaſſe aber treten alle Sinne gleichſam erſt in volle Wirkſamkeit. Jhre einhellige und gleichmäßige
Entwickelung erhebt die Säugethiere hoch über die Vögel. Sie, die letzteren, ſind vorzugsweiſe Au-
gen-, jene „Allſinnsthiere‟. Die Vögel ſehen beſſer, als die Säuger, weil ihr großes Auge
vermöge ſeiner inneren Beweglichkeit für verſchiedene Entfernungen eingeſtellt und ſehfähig ge-
macht werden kann: ſie ſtehen dagegen in allen übrigen Sinnesthätigkeiten weit hinter den letzteren
zurück. Bei den Säugethieren zeigt ſich ſchon überall mehr oder weniger jene Allſeitigkeit, welche im
Menſchen zur vollen Geltung gelaugt: und deshalb eben ſtehen ſie an der Spitze des Thierreichs.
Das Gefühl dürfte unter allen Sinnen derjenige ſein, welcher am wenigſten hervortritt: und
wie ausgebildet iſt gerade dieſer Sinn bei den Säugethieren! Der gewaltige Walfiſch ſoll durch
die geringſte Verührung ſeiner Haut zum ſofortigen Tieftauchen bewogen werden; der Elefant ſpürt
augenblicklich die Fliege, welche ſich auf ſeinem dicken Felle feſtſetzt; dem Ochſen verurſacht leiſes
Krabbeln zwiſchen ſeinen Hörnern angenehmen Kitzel; den ſchlafenden Hund erweckt das ſanfteſte
Streicheln. Und alle dieſe Thiere ſind gefühllos zu nennen, im Vergleich zum Menſchen. Bei ihm
iſt die äußere Haut ja ſo zartfühlend, daß auch der leiſeſte Lufthauch, welcher ſie trifft, empfunden
wird. Der Taſtſinn zeigt ſich zwar ſchwächer, als die Empfindung, aber doch auch überall mindeſtens
in demſelben Grade, wie bei den Vögeln. Selbſt die Einhufer beſitzen ein gewiſſes Taſtgefühl in
ihren Füßen, trotz des Hornſchuhes, welcher vom Hufbeſchläger wie ein dürres Stück Holz behandelt
werden kann; man muß nur ein Pferd beobachten, wenn es nachts das Gebirge hinauf- oder hinab-
ſteigt: mit ſeinem Hufe prüft es den Weg, mit ihm betaſtet es den Boden. Die Taſtfähigkeit der
Schnurrhaare iſt ſchon viel größer; die mit ihnen verſehenen Thiere taſten wohl faſt ebenſo gut, wie
viele Kerbthiere, welche ihren erſten Sinn in den Fühlhörnern tragen. Unſere Hauskatze, die
Ratte oder die Maus zeigen in ſehr erſichtlicher Weiſe, wie nützlich ihnen die Schnurrhaare ſind:
ſie beſchnuppern oft nur ſcheinbar einen Gegenſtand oder wenigſtens erſt, nachdem ſie ihn betaſtet
haben. Allen Nachtſäugethieren ſind die Schnurrhaare ganz unentbehrliche Wegweiſer bei ihren nächt-
lichen Wanderungen: ſie ſchützen vielfach die edleren Sinneswerkzeuge des Geſichts und Geruchs.
Zu welcher bewunderungswürdigen Vollkommenheit aber der Taſtſinn in unſerer Klaſſe gelangen
kann, hat jeder meiner Leſer an ſeiner eigenen Hand erfahren, wenn dieſe auch noch weit hinter
der eines Künſtlers oder eines Blinden zurückſtehen dürfte. Die Hand iſt das vollkommenſte aller
Taſtwerkzeuge: ſie kann das Geſicht, wenn auch nicht erſetzen, ſo doch oft und wirkſam vertreten.
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864, S. XXIII[XXIII]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben01_1864/33>, abgerufen am 23.11.2024.
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