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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864.

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Belege für die Furchtbarkeit des Tigers. Tafelfreuden und Schmarotzer.
der Tiger, ohne Zweifel, weil er seine Beute nicht mehr erblickte, auf der Rückkehr war. Der Verfolgte
gelangte glücklich an den Kahn, in welchem sich sein Freund befand.

Ein anderer Tiger schwamm quer über einen Strom einem Boote zu und erkletterte es trotz alles
Schreiens der entsetzten Schiffer. Einige von diesen stürzten sich augenblicklich in die Wellen, die anderen
verrammelten sich in der kleinen Kajüte am Hintertheile des Fahrzeuges. Der Tiger, jetzt alleiniger
Herr des Bootes, saß stolz am Vordertheile und ließ sich ruhig stromabwärts treiben; da er aber sah,
daß die beabsichtigte Beute ihm entgangen war, sprang er endlich mit einem Satze in den Fluß, stieg
aus Ufer, schüttelte sich ein wenig und verschwand bald darauf in den Dschungeln.

Die Stärke des Tigers ist unglaublich groß. Er schleppt mit Leichtigkeit nicht blos einen Menschen
oder einen Hirsch, sondern selbst ein Pferd oder einen Büffel meilenweit mit sich fort; dabei zeigt er
zugleich viel Klugheit. Niemals oder nur höchst ungern schleift er ein solches Thier über eine breite
Straße weg, wahrscheinlich, um sich nicht selbst zu verrathen. Dennoch kann er aber die Spuren, die
ein solcher Streifzug hinterläßt, nicht verdecken. Wenn er ein großes Thier schlägt oder tödtet, z. B.
einen Ochsen, springt er auf den Rücken, schlägt seine fürchterlichen Klauen ein und leckt das Blut,
welches aus der Wunde strömt. Dann erst trägt er das Thier weiter in das Dickicht, bewacht es dort
bis zum Abend und frißt dann während der Nacht ungestört und ruhig, soviel er fressen kann. Er
beginnt bei den Schenkeln, von dort aus frißt er weiter gegen das Haupt hin. Er ist unmäßiger,
als der Wolf, und frißt, soviel als er kann; dabei geht er ab und zu nach den benachbarten Quellen
oder Flüssen, um zu trinken. Man versichert, daß er keineswegs ein Leckermaul sei, sondern Alles
fresse, was ihm vorkomme, das Fell und die Knochen ebenfalls mit. Nur diejenigen Tiger, welche
einmal Menschenfleisch gekostet haben, sollen dies dem aller übrigen Thiere vorziehen und werden
deshalb, wie die Löwen in Afrika, geradezu Menschenfresser genannt. Die Jagd auf den tölpischen
und unbehilflichen Menschen behagt ihnen mehr, als andere.

Nach einer sehr guten Mahlzeit fällt der Tiger in Schlaf und liegt manchmal länger als einen
ganzen Tag in einem halb bewußtlosen Zustande. Er bewegt sich blos, um zu trinken, und giebt sich
mit einer gewissen Wolluft der Verdauung hin. Die Jnder behaupten, daß er zuweilen sogar drei
Tage an einer und derselben Stelle liege, während andere versichern, daß er am nächsten Morgen,
spätestens am nächsten Abende wieder zu seiner früher gemachten Beute zurückkehre, um nochmals von
ihr zu fressen, falls er noch Ueberreste finden sollte: -- denn auch an seiner königlichen Tafel speist
das hungrige Bettelgesindel, wie an der Tafel des Löwen. Die Schakale, Füchse und wilden
Hunde,
welche bei Nacht den Wald durchstreifen, verfolgen die blutige Fährte des geschleiften Thieres
und fressen sich an den Ueberbleibseln des Leichnams toll und voll. Bei Tage aber entdecken die Aas-
geier
bald die Leiche und kommen scharenweise herbeigeflogen. Nicht selten entsteht sogar noch Kampf
und Streit auf ihr zwischen diesen Thieren. Die vierfüßigen Schmarotzer sind so regelmäßige Gäste
an der Tafel des Tigers, daß sie, zumal die Schakale, geradezu als seine Boten und Kundschafter
angesehen werden und wie die Pfauen oder Affen, welche aus Furcht vor dem Tiger ihn verrathen,
dazu dienen, seine Aufsuchung zu erleichtern.

Es wird uns nach dem Mitgetheilten nicht Wunder nehmen, daß alle Jnder, und die europäischen
Bewohner des schönen Tropenlandes nicht minder, den Tiger als den Jnbegriff alles Entsetzlichen
ansehen und ihn für ein Scheusal halten, welches die Hölle selbst ausgespieen. Damit steht nicht im
Widerspruche, daß das Ungeheuer an vielen Orten Jndiens geradezu geschont, ja an einigen sogar als
Gottheit betrachtet wird, wie ja das Uebermächtige und Eigenthümliche von Unverständigen immer für
etwas Erhabenes gehalten wird. Der Jnder sucht eben aus jedem Thiere, welches sich einigermaßen
bemerklich macht, etwas Besonderes zu machen und sieht in solchen, welche sehr schädlich werden, eine
Art von strafendem Gotte. Man hat die Gewohnheit, an den Orten, wo ein Mensch von einem Tiger
getödtet worden ist, eine hohe Stange mit einem farbigen Tuche als Warnungszeichen aufzupflanzen
und errichtet daneben auch gewöhnlich eine Hütte, in welcher sich die Reisenden zum Gebet versammeln.
Ereignet es sich nun, daß an derselben Stelle zum zweiten Male ein Mensch dem Tiger als Opfer

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Belege für die Furchtbarkeit des Tigers. Tafelfreuden und Schmarotzer.
der Tiger, ohne Zweifel, weil er ſeine Beute nicht mehr erblickte, auf der Rückkehr war. Der Verfolgte
gelangte glücklich an den Kahn, in welchem ſich ſein Freund befand.

Ein anderer Tiger ſchwamm quer über einen Strom einem Boote zu und erkletterte es trotz alles
Schreiens der entſetzten Schiffer. Einige von dieſen ſtürzten ſich augenblicklich in die Wellen, die anderen
verrammelten ſich in der kleinen Kajüte am Hintertheile des Fahrzeuges. Der Tiger, jetzt alleiniger
Herr des Bootes, ſaß ſtolz am Vordertheile und ließ ſich ruhig ſtromabwärts treiben; da er aber ſah,
daß die beabſichtigte Beute ihm entgangen war, ſprang er endlich mit einem Satze in den Fluß, ſtieg
aus Ufer, ſchüttelte ſich ein wenig und verſchwand bald darauf in den Dſchungeln.

Die Stärke des Tigers iſt unglaublich groß. Er ſchleppt mit Leichtigkeit nicht blos einen Menſchen
oder einen Hirſch, ſondern ſelbſt ein Pferd oder einen Büffel meilenweit mit ſich fort; dabei zeigt er
zugleich viel Klugheit. Niemals oder nur höchſt ungern ſchleift er ein ſolches Thier über eine breite
Straße weg, wahrſcheinlich, um ſich nicht ſelbſt zu verrathen. Dennoch kann er aber die Spuren, die
ein ſolcher Streifzug hinterläßt, nicht verdecken. Wenn er ein großes Thier ſchlägt oder tödtet, z. B.
einen Ochſen, ſpringt er auf den Rücken, ſchlägt ſeine fürchterlichen Klauen ein und leckt das Blut,
welches aus der Wunde ſtrömt. Dann erſt trägt er das Thier weiter in das Dickicht, bewacht es dort
bis zum Abend und frißt dann während der Nacht ungeſtört und ruhig, ſoviel er freſſen kann. Er
beginnt bei den Schenkeln, von dort aus frißt er weiter gegen das Haupt hin. Er iſt unmäßiger,
als der Wolf, und frißt, ſoviel als er kann; dabei geht er ab und zu nach den benachbarten Quellen
oder Flüſſen, um zu trinken. Man verſichert, daß er keineswegs ein Leckermaul ſei, ſondern Alles
freſſe, was ihm vorkomme, das Fell und die Knochen ebenfalls mit. Nur diejenigen Tiger, welche
einmal Menſchenfleiſch gekoſtet haben, ſollen dies dem aller übrigen Thiere vorziehen und werden
deshalb, wie die Löwen in Afrika, geradezu Menſchenfreſſer genannt. Die Jagd auf den tölpiſchen
und unbehilflichen Menſchen behagt ihnen mehr, als andere.

Nach einer ſehr guten Mahlzeit fällt der Tiger in Schlaf und liegt manchmal länger als einen
ganzen Tag in einem halb bewußtloſen Zuſtande. Er bewegt ſich blos, um zu trinken, und giebt ſich
mit einer gewiſſen Wolluft der Verdauung hin. Die Jnder behaupten, daß er zuweilen ſogar drei
Tage an einer und derſelben Stelle liege, während andere verſichern, daß er am nächſten Morgen,
ſpäteſtens am nächſten Abende wieder zu ſeiner früher gemachten Beute zurückkehre, um nochmals von
ihr zu freſſen, falls er noch Ueberreſte finden ſollte: — denn auch an ſeiner königlichen Tafel ſpeiſt
das hungrige Bettelgeſindel, wie an der Tafel des Löwen. Die Schakale, Füchſe und wilden
Hunde,
welche bei Nacht den Wald durchſtreifen, verfolgen die blutige Fährte des geſchleiften Thieres
und freſſen ſich an den Ueberbleibſeln des Leichnams toll und voll. Bei Tage aber entdecken die Aas-
geier
bald die Leiche und kommen ſcharenweiſe herbeigeflogen. Nicht ſelten entſteht ſogar noch Kampf
und Streit auf ihr zwiſchen dieſen Thieren. Die vierfüßigen Schmarotzer ſind ſo regelmäßige Gäſte
an der Tafel des Tigers, daß ſie, zumal die Schakale, geradezu als ſeine Boten und Kundſchafter
angeſehen werden und wie die Pfauen oder Affen, welche aus Furcht vor dem Tiger ihn verrathen,
dazu dienen, ſeine Aufſuchung zu erleichtern.

Es wird uns nach dem Mitgetheilten nicht Wunder nehmen, daß alle Jnder, und die europäiſchen
Bewohner des ſchönen Tropenlandes nicht minder, den Tiger als den Jnbegriff alles Entſetzlichen
anſehen und ihn für ein Scheuſal halten, welches die Hölle ſelbſt ausgeſpieen. Damit ſteht nicht im
Widerſpruche, daß das Ungeheuer an vielen Orten Jndiens geradezu geſchont, ja an einigen ſogar als
Gottheit betrachtet wird, wie ja das Uebermächtige und Eigenthümliche von Unverſtändigen immer für
etwas Erhabenes gehalten wird. Der Jnder ſucht eben aus jedem Thiere, welches ſich einigermaßen
bemerklich macht, etwas Beſonderes zu machen und ſieht in ſolchen, welche ſehr ſchädlich werden, eine
Art von ſtrafendem Gotte. Man hat die Gewohnheit, an den Orten, wo ein Menſch von einem Tiger
getödtet worden iſt, eine hohe Stange mit einem farbigen Tuche als Warnungszeichen aufzupflanzen
und errichtet daneben auch gewöhnlich eine Hütte, in welcher ſich die Reiſenden zum Gebet verſammeln.
Ereignet es ſich nun, daß an derſelben Stelle zum zweiten Male ein Menſch dem Tiger als Opfer

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[227/0291] Belege für die Furchtbarkeit des Tigers. Tafelfreuden und Schmarotzer. der Tiger, ohne Zweifel, weil er ſeine Beute nicht mehr erblickte, auf der Rückkehr war. Der Verfolgte gelangte glücklich an den Kahn, in welchem ſich ſein Freund befand. Ein anderer Tiger ſchwamm quer über einen Strom einem Boote zu und erkletterte es trotz alles Schreiens der entſetzten Schiffer. Einige von dieſen ſtürzten ſich augenblicklich in die Wellen, die anderen verrammelten ſich in der kleinen Kajüte am Hintertheile des Fahrzeuges. Der Tiger, jetzt alleiniger Herr des Bootes, ſaß ſtolz am Vordertheile und ließ ſich ruhig ſtromabwärts treiben; da er aber ſah, daß die beabſichtigte Beute ihm entgangen war, ſprang er endlich mit einem Satze in den Fluß, ſtieg aus Ufer, ſchüttelte ſich ein wenig und verſchwand bald darauf in den Dſchungeln. Die Stärke des Tigers iſt unglaublich groß. Er ſchleppt mit Leichtigkeit nicht blos einen Menſchen oder einen Hirſch, ſondern ſelbſt ein Pferd oder einen Büffel meilenweit mit ſich fort; dabei zeigt er zugleich viel Klugheit. Niemals oder nur höchſt ungern ſchleift er ein ſolches Thier über eine breite Straße weg, wahrſcheinlich, um ſich nicht ſelbſt zu verrathen. Dennoch kann er aber die Spuren, die ein ſolcher Streifzug hinterläßt, nicht verdecken. Wenn er ein großes Thier ſchlägt oder tödtet, z. B. einen Ochſen, ſpringt er auf den Rücken, ſchlägt ſeine fürchterlichen Klauen ein und leckt das Blut, welches aus der Wunde ſtrömt. Dann erſt trägt er das Thier weiter in das Dickicht, bewacht es dort bis zum Abend und frißt dann während der Nacht ungeſtört und ruhig, ſoviel er freſſen kann. Er beginnt bei den Schenkeln, von dort aus frißt er weiter gegen das Haupt hin. Er iſt unmäßiger, als der Wolf, und frißt, ſoviel als er kann; dabei geht er ab und zu nach den benachbarten Quellen oder Flüſſen, um zu trinken. Man verſichert, daß er keineswegs ein Leckermaul ſei, ſondern Alles freſſe, was ihm vorkomme, das Fell und die Knochen ebenfalls mit. Nur diejenigen Tiger, welche einmal Menſchenfleiſch gekoſtet haben, ſollen dies dem aller übrigen Thiere vorziehen und werden deshalb, wie die Löwen in Afrika, geradezu Menſchenfreſſer genannt. Die Jagd auf den tölpiſchen und unbehilflichen Menſchen behagt ihnen mehr, als andere. Nach einer ſehr guten Mahlzeit fällt der Tiger in Schlaf und liegt manchmal länger als einen ganzen Tag in einem halb bewußtloſen Zuſtande. Er bewegt ſich blos, um zu trinken, und giebt ſich mit einer gewiſſen Wolluft der Verdauung hin. Die Jnder behaupten, daß er zuweilen ſogar drei Tage an einer und derſelben Stelle liege, während andere verſichern, daß er am nächſten Morgen, ſpäteſtens am nächſten Abende wieder zu ſeiner früher gemachten Beute zurückkehre, um nochmals von ihr zu freſſen, falls er noch Ueberreſte finden ſollte: — denn auch an ſeiner königlichen Tafel ſpeiſt das hungrige Bettelgeſindel, wie an der Tafel des Löwen. Die Schakale, Füchſe und wilden Hunde, welche bei Nacht den Wald durchſtreifen, verfolgen die blutige Fährte des geſchleiften Thieres und freſſen ſich an den Ueberbleibſeln des Leichnams toll und voll. Bei Tage aber entdecken die Aas- geier bald die Leiche und kommen ſcharenweiſe herbeigeflogen. Nicht ſelten entſteht ſogar noch Kampf und Streit auf ihr zwiſchen dieſen Thieren. Die vierfüßigen Schmarotzer ſind ſo regelmäßige Gäſte an der Tafel des Tigers, daß ſie, zumal die Schakale, geradezu als ſeine Boten und Kundſchafter angeſehen werden und wie die Pfauen oder Affen, welche aus Furcht vor dem Tiger ihn verrathen, dazu dienen, ſeine Aufſuchung zu erleichtern. Es wird uns nach dem Mitgetheilten nicht Wunder nehmen, daß alle Jnder, und die europäiſchen Bewohner des ſchönen Tropenlandes nicht minder, den Tiger als den Jnbegriff alles Entſetzlichen anſehen und ihn für ein Scheuſal halten, welches die Hölle ſelbſt ausgeſpieen. Damit ſteht nicht im Widerſpruche, daß das Ungeheuer an vielen Orten Jndiens geradezu geſchont, ja an einigen ſogar als Gottheit betrachtet wird, wie ja das Uebermächtige und Eigenthümliche von Unverſtändigen immer für etwas Erhabenes gehalten wird. Der Jnder ſucht eben aus jedem Thiere, welches ſich einigermaßen bemerklich macht, etwas Beſonderes zu machen und ſieht in ſolchen, welche ſehr ſchädlich werden, eine Art von ſtrafendem Gotte. Man hat die Gewohnheit, an den Orten, wo ein Menſch von einem Tiger getödtet worden iſt, eine hohe Stange mit einem farbigen Tuche als Warnungszeichen aufzupflanzen und errichtet daneben auch gewöhnlich eine Hütte, in welcher ſich die Reiſenden zum Gebet verſammeln. Ereignet es ſich nun, daß an derſelben Stelle zum zweiten Male ein Menſch dem Tiger als Opfer 15*

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben01_1864/291>, abgerufen am 22.11.2024.