Thier," sagt Sonnerat, "hat viel Aehnlichkeit mit dem Eichhörnchen, ist aber doch durch einige wesentliche Kennzeichen von demselben unterschieden: es gleichet auch einiger Maßen dem Maki und dem Affen." -- Jn allen späteren Naturgeschichten offenbart sich dieselbe Unsicherheit. Die Einen zählen es den Nachtaffen, die Anderen den Nagern zu; aber Jeder thut Dies mit Vorbehalt.
Da empfängt die Zoologische Gesellschaft in London vor kaum Jahresfrist die freudige Nachricht, daß zwei "Fingerthiere" (Chiromys) oder "Nacktfinger" (Psilodactylus), wie man das Zwitter- wesen inzwischen genannt hat, auf Madagaskar gefangen worden und für den Thiergarten in Regents- Park unterwegs seien. Beide kommen wirklich an, wenn auch nur das eine noch lebend. Jetzt endlich bietet sich den Thierkundigen Gelegenheit, die räthselhaften Geschöpfe so genau als erforderlich zu untersuchen. Noch sind diese Untersuchungen nicht geschlossen, und deshalb ist es auch mir hier un- möglich, Vollständiges zu bieten; doch bin ich im Stande, der von Sonnerat gegebenen Lebens- beschreibung unsers Thieres wenigstens Einiges hinzuzufügen.
[Abbildung]
Das Fingerthier oder der Aye-Aye (Chiromys madagascarensis).
Das Fingerthier oder der Aye-Aye (Chiromys madagascarensis) steht unzweifelhaft den Halbaffen insgemein weit näher, als den Nagern. Die beiden schief von hinten nach vorn gestellten Schneidezähne seiner Kiefer können nur bei flüchtiger Betrachtung mit eigentlichen Nagezähnen ver- glichen werden, und in allem Uebrigen hat das Thier mit keinem Nager irgendwelche Aehnlichkeit. Die Finger an den Vorderhänden sind das eigentlich Bezeichnende an ihm.
Sonnerats Beschreibung des Aye-Aye darf uns noch genügen; ich gebe sie deshalb hier dem Wortlaute des ersten Uebersetzers seines Reisewerkes nach:
"Der Aye-Aye hat an jedem Fuße fünf Finger, davon die an den Vorderfüßen sehr lang und ein wenig krumm sind; welches macht, daß er sehr langsam geht: Diese Finger sind auch mit krummen Nägeln versehen. Die zwey äußersten Gelenke des Mittelfingers sind lang, dünne und unbehaart: Er bedient sich derselben, um aus den Ritzen der Bäume die Würmer hervorzuholen, von denen er sich nährt, und um diese Würmer in seinen Schlund zu stoßen; dem Ansehn nach dienen sie ihm
Die Halbaffen. — Fingerthier oder Aye-Aye.
Thier,‟ ſagt Sonnerat, „hat viel Aehnlichkeit mit dem Eichhörnchen, iſt aber doch durch einige weſentliche Kennzeichen von demſelben unterſchieden: es gleichet auch einiger Maßen dem Maki und dem Affen.‟ — Jn allen ſpäteren Naturgeſchichten offenbart ſich dieſelbe Unſicherheit. Die Einen zählen es den Nachtaffen, die Anderen den Nagern zu; aber Jeder thut Dies mit Vorbehalt.
Da empfängt die Zoologiſche Geſellſchaft in London vor kaum Jahresfriſt die freudige Nachricht, daß zwei „Fingerthiere‟ (Chiromys) oder „Nacktfinger‟ (Psilodactylus), wie man das Zwitter- weſen inzwiſchen genannt hat, auf Madagaskar gefangen worden und für den Thiergarten in Regents- Park unterwegs ſeien. Beide kommen wirklich an, wenn auch nur das eine noch lebend. Jetzt endlich bietet ſich den Thierkundigen Gelegenheit, die räthſelhaften Geſchöpfe ſo genau als erforderlich zu unterſuchen. Noch ſind dieſe Unterſuchungen nicht geſchloſſen, und deshalb iſt es auch mir hier un- möglich, Vollſtändiges zu bieten; doch bin ich im Stande, der von Sonnerat gegebenen Lebens- beſchreibung unſers Thieres wenigſtens Einiges hinzuzufügen.
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Das Fingerthier oder der Aye-Aye (Chiromys madagascarensis).
Das Fingerthier oder der Aye-Aye (Chiromys madagascarensis) ſteht unzweifelhaft den Halbaffen insgemein weit näher, als den Nagern. Die beiden ſchief von hinten nach vorn geſtellten Schneidezähne ſeiner Kiefer können nur bei flüchtiger Betrachtung mit eigentlichen Nagezähnen ver- glichen werden, und in allem Uebrigen hat das Thier mit keinem Nager irgendwelche Aehnlichkeit. Die Finger an den Vorderhänden ſind das eigentlich Bezeichnende an ihm.
Sonnerats Beſchreibung des Aye-Aye darf uns noch genügen; ich gebe ſie deshalb hier dem Wortlaute des erſten Ueberſetzers ſeines Reiſewerkes nach:
„Der Aye-Aye hat an jedem Fuße fünf Finger, davon die an den Vorderfüßen ſehr lang und ein wenig krumm ſind; welches macht, daß er ſehr langſam geht: Dieſe Finger ſind auch mit krummen Nägeln verſehen. Die zwey äußerſten Gelenke des Mittelfingers ſind lang, dünne und unbehaart: Er bedient ſich derſelben, um aus den Ritzen der Bäume die Würmer hervorzuholen, von denen er ſich nährt, und um dieſe Würmer in ſeinen Schlund zu ſtoßen; dem Anſehn nach dienen ſie ihm
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Die Halbaffen. — Fingerthier oder Aye-Aye.
Thier,‟ ſagt Sonnerat, „hat viel Aehnlichkeit mit dem Eichhörnchen, iſt aber doch durch einige
weſentliche Kennzeichen von demſelben unterſchieden: es gleichet auch einiger Maßen dem Maki und
dem Affen.‟ — Jn allen ſpäteren Naturgeſchichten offenbart ſich dieſelbe Unſicherheit. Die Einen
zählen es den Nachtaffen, die Anderen den Nagern zu; aber Jeder thut Dies mit Vorbehalt.
Da empfängt die Zoologiſche Geſellſchaft in London vor kaum Jahresfriſt die freudige Nachricht,
daß zwei „Fingerthiere‟ (Chiromys) oder „Nacktfinger‟ (Psilodactylus), wie man das Zwitter-
weſen inzwiſchen genannt hat, auf Madagaskar gefangen worden und für den Thiergarten in Regents-
Park unterwegs ſeien. Beide kommen wirklich an, wenn auch nur das eine noch lebend. Jetzt endlich
bietet ſich den Thierkundigen Gelegenheit, die räthſelhaften Geſchöpfe ſo genau als erforderlich zu
unterſuchen. Noch ſind dieſe Unterſuchungen nicht geſchloſſen, und deshalb iſt es auch mir hier un-
möglich, Vollſtändiges zu bieten; doch bin ich im Stande, der von Sonnerat gegebenen Lebens-
beſchreibung unſers Thieres wenigſtens Einiges hinzuzufügen.
[Abbildung Das Fingerthier oder der Aye-Aye (Chiromys madagascarensis).]
Das Fingerthier oder der Aye-Aye (Chiromys madagascarensis) ſteht unzweifelhaft den
Halbaffen insgemein weit näher, als den Nagern. Die beiden ſchief von hinten nach vorn geſtellten
Schneidezähne ſeiner Kiefer können nur bei flüchtiger Betrachtung mit eigentlichen Nagezähnen ver-
glichen werden, und in allem Uebrigen hat das Thier mit keinem Nager irgendwelche Aehnlichkeit.
Die Finger an den Vorderhänden ſind das eigentlich Bezeichnende an ihm.
Sonnerats Beſchreibung des Aye-Aye darf uns noch genügen; ich gebe ſie deshalb hier dem
Wortlaute des erſten Ueberſetzers ſeines Reiſewerkes nach:
„Der Aye-Aye hat an jedem Fuße fünf Finger, davon die an den Vorderfüßen ſehr lang und
ein wenig krumm ſind; welches macht, daß er ſehr langſam geht: Dieſe Finger ſind auch mit krummen
Nägeln verſehen. Die zwey äußerſten Gelenke des Mittelfingers ſind lang, dünne und unbehaart:
Er bedient ſich derſelben, um aus den Ritzen der Bäume die Würmer hervorzuholen, von denen er
ſich nährt, und um dieſe Würmer in ſeinen Schlund zu ſtoßen; dem Anſehn nach dienen ſie ihm
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben01_1864/206>, abgerufen am 23.11.2024.
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