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Braun, Karl: Die Vagabundenfrage. Berlin, 1883.

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Das Uebel, über welches sie klagen, ist eine Folge des Ueber-
gangszustandes, in welchem sie sich befinden. Man hat dort
die wirthschaftliche Freiheit nicht zu früh, sondern zu spät ein-
geführt.

Daß Westfalen unter der Fluctuirung der Arbeiterbevöl-
kerung zu leiden hat, ergiebt sich daraus, daß es eine große
Industrie besitzt und daß in Folge der wirthschaftlichen Krisis
eine Verschiebung der Bevölkerung theils von Westen nach
Osten und theils von Osten nach Westen stattgefunden hat, die
ihre Passage durch und nach Westfalen genommen, eine Ver-
schiebung, die u. A. auch gefördert worden ist durch die Zoll-
gesetzgebung, namentlich durch die Schutzzölle, die an Stelle
einer gesunden auswärtigen Concurrenz eine ungesunde Concur-
renz im Innern setzten, eine Concurrenz, die allerdings unter Um-
ständen sehr unangenehm und empfindlich werden musste.

Es heißt dann weiter: "Der Unterstützungswohnsitz, das
ist der Hauptfehler, der bedroht Alles." Ja, m. H.! was ist der
Unterstützungswohnsitz? Sein Princip lautet: "Wo der Mann
arbeitet, soll er auch unterstützt werden." Ehe man den Unter-
stützungswohnsitz hatte, wurde der Mann zurückgeschoben an
den Ort, wo er her war, wo er sein heimaths- und Domicilrecht
hatte, wo er aber lange fremd geworden. War das gerecht?

Dann sagt Hr. v. Schorlemer-Alst: "Die Vagabunden müssen
zuerst gereinigt und gespeist werden, aber vor Allem ist es
nöthig, daß sie eine tüchtige Tracht Prügel zum Willkomm
bekommen."

Ja, mit der Tracht Prügel ist es ein eigenthümliches Ding.
Wenn man wüßte, daß sie immer an den richtigen Mann gelangt,
so könnte man im Grunde genommen nicht so viel dagegen
haben. Aber das ist ja eben das Schlimme, daß mit solchen
extremen Mitteln in der Regel ein schreiender Mißbrauch ge-
trieben wird. Ich weiß nicht, ob Hr. v. Schorlemer die schöne
Erzählung von Schiller gelesen hat: "Der Verbrecher aus ver-
lorener Ehre"; dann wüsste er vielleicht, wie unter Umständen
solche drastischen Mittel zu wirken pflegen, und wie namentlich
auf dem Gebiete, von welchem wir sprechen, die unzeitige An-
wendung von Prügeln den letzten Rest von Ehrgefühl erstickt
und die Leute für immer der Landstreicherei in die Arme wirft,

Das Uebel, über welches sie klagen, ist eine Folge des Ueber-
gangszustandes, in welchem sie sich befinden. Man hat dort
die wirthschaftliche Freiheit nicht zu früh, sondern zu spät ein-
geführt.

Daß Westfalen unter der Fluctuirung der Arbeiterbevöl-
kerung zu leiden hat, ergiebt sich daraus, daß es eine große
Industrie besitzt und daß in Folge der wirthschaftlichen Krisis
eine Verschiebung der Bevölkerung theils von Westen nach
Osten und theils von Osten nach Westen stattgefunden hat, die
ihre Passage durch und nach Westfalen genommen, eine Ver-
schiebung, die u. A. auch gefördert worden ist durch die Zoll-
gesetzgebung, namentlich durch die Schutzzölle, die an Stelle
einer gesunden auswärtigen Concurrenz eine ungesunde Concur-
renz im Innern setzten, eine Concurrenz, die allerdings unter Um-
ständen sehr unangenehm und empfindlich werden musste.

Es heißt dann weiter: «Der Unterstützungswohnsitz, das
ist der Hauptfehler, der bedroht Alles.» Ja, m. H.! was ist der
Unterstützungswohnsitz? Sein Princip lautet: «Wo der Mann
arbeitet, soll er auch unterstützt werden.» Ehe man den Unter-
stützungswohnsitz hatte, wurde der Mann zurückgeschoben an
den Ort, wo er her war, wo er sein heimaths- und Domicilrecht
hatte, wo er aber lange fremd geworden. War das gerecht?

Dann sagt Hr. v. Schorlemer-Alst: «Die Vagabunden müssen
zuerst gereinigt und gespeist werden, aber vor Allem ist es
nöthig, daß sie eine tüchtige Tracht Prügel zum Willkomm
bekommen.»

Ja, mit der Tracht Prügel ist es ein eigenthümliches Ding.
Wenn man wüßte, daß sie immer an den richtigen Mann gelangt,
so könnte man im Grunde genommen nicht so viel dagegen
haben. Aber das ist ja eben das Schlimme, daß mit solchen
extremen Mitteln in der Regel ein schreiender Mißbrauch ge-
trieben wird. Ich weiß nicht, ob Hr. v. Schorlemer die schöne
Erzählung von Schiller gelesen hat: «Der Verbrecher aus ver-
lorener Ehre»; dann wüsste er vielleicht, wie unter Umständen
solche drastischen Mittel zu wirken pflegen, und wie namentlich
auf dem Gebiete, von welchem wir sprechen, die unzeitige An-
wendung von Prügeln den letzten Rest von Ehrgefühl erstickt
und die Leute für immer der Landstreicherei in die Arme wirft,

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[27/0029] Das Uebel, über welches sie klagen, ist eine Folge des Ueber- gangszustandes, in welchem sie sich befinden. Man hat dort die wirthschaftliche Freiheit nicht zu früh, sondern zu spät ein- geführt. Daß Westfalen unter der Fluctuirung der Arbeiterbevöl- kerung zu leiden hat, ergiebt sich daraus, daß es eine große Industrie besitzt und daß in Folge der wirthschaftlichen Krisis eine Verschiebung der Bevölkerung theils von Westen nach Osten und theils von Osten nach Westen stattgefunden hat, die ihre Passage durch und nach Westfalen genommen, eine Ver- schiebung, die u. A. auch gefördert worden ist durch die Zoll- gesetzgebung, namentlich durch die Schutzzölle, die an Stelle einer gesunden auswärtigen Concurrenz eine ungesunde Concur- renz im Innern setzten, eine Concurrenz, die allerdings unter Um- ständen sehr unangenehm und empfindlich werden musste. Es heißt dann weiter: «Der Unterstützungswohnsitz, das ist der Hauptfehler, der bedroht Alles.» Ja, m. H.! was ist der Unterstützungswohnsitz? Sein Princip lautet: «Wo der Mann arbeitet, soll er auch unterstützt werden.» Ehe man den Unter- stützungswohnsitz hatte, wurde der Mann zurückgeschoben an den Ort, wo er her war, wo er sein heimaths- und Domicilrecht hatte, wo er aber lange fremd geworden. War das gerecht? Dann sagt Hr. v. Schorlemer-Alst: «Die Vagabunden müssen zuerst gereinigt und gespeist werden, aber vor Allem ist es nöthig, daß sie eine tüchtige Tracht Prügel zum Willkomm bekommen.» Ja, mit der Tracht Prügel ist es ein eigenthümliches Ding. Wenn man wüßte, daß sie immer an den richtigen Mann gelangt, so könnte man im Grunde genommen nicht so viel dagegen haben. Aber das ist ja eben das Schlimme, daß mit solchen extremen Mitteln in der Regel ein schreiender Mißbrauch ge- trieben wird. Ich weiß nicht, ob Hr. v. Schorlemer die schöne Erzählung von Schiller gelesen hat: «Der Verbrecher aus ver- lorener Ehre»; dann wüsste er vielleicht, wie unter Umständen solche drastischen Mittel zu wirken pflegen, und wie namentlich auf dem Gebiete, von welchem wir sprechen, die unzeitige An- wendung von Prügeln den letzten Rest von Ehrgefühl erstickt und die Leute für immer der Landstreicherei in die Arme wirft,

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Zitationshilfe: Braun, Karl: Die Vagabundenfrage. Berlin, 1883, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braun_vagabundenfrage_1883/29>, abgerufen am 25.11.2024.