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Braun, Karl: Die Vagabundenfrage. Berlin, 1883.

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Nun, der berühmte Thomas Morus hat schon i. J. 1500, oder
etwas später, eine sehr gelehrte und gründliche Abhandlung
geschrieben, worin er zu dem Resultat kommt, daß damals in
England eine solche Uebervölkerung herrschte, daß es nicht
mehr zehn Jahre so fort gehn oder andauern könnte, dann
würden die Menschen einander auffressen. Seitdem ist die Be-
völkerung in England auf das Sechsfache gewachsen, und die
Leute fressen sich noch immer nicht gegenseitig auf, im Gegen-
theil, diese sechsfache Zahl von Menschen lebt weit besser, ver-
gnüglicher und auskömmlicher als damals das eine Sechstel.
Woher kommt das? Das kommt von dem allgemeinen Cultur-
fortschritt, von der Weiterentwicklung, durch welche die Men-
schen immer mehr Herr werden über die Natur, und durch
welche sie im Stande sind, eine immer intensivere Wirthschaft
zu entfalten und immer mehr Mittel zur Befriedigung der Be-
dürfnisse auch einer wachsenden Bevölkerung zu beschaffen.
Das hat nicht nur England gezeigt, sondern auch alle anderen
Länder, in welchen ein gleicher Culturfortschritt stattfindet und
die Menschen nicht durch eine zurückgebliebene Gesetzgebung
gehindert werden, ihre wirthschaftlichen Kräfte zu entfalten. Ich
weiß ja, daß in Deutschland diese Uebervölkerungsangst auch
in verschiedenen Staaten, in welchen man sich darin gefiel, der
Cultur-Entwickelung allerlei künstliche Hindernisse entgegen zu
stellen, grassirt hat; und vielleicht wird, bei wachsender volks-
wirthschaftlicher Reaction dieses Gespenst auf einige Zeit wieder-
kehren und den Menschen eine ungerechtfertigte Angst einflößen.
Predigt ja doch schon heute ein großer Gelehrter, der die
Häupter seiner Lieben nach Halbdutzend zählt, die "Zwei-
Kinderwirthschaft."

Haben ja doch im Laufe des letzten Menschenalters, na-
mentlich während der Reactionszeit von 1850 bis 1858 ver-
schiedene deutsche Staaten auf ihre oder der Gemeinde Kosten
ganze Gemeinden nach Amerika spedirt. Sie haben aus Angst
vor der Uebervölkerung fleißige, brauchbare, tüchtige Menschen
und deren Vermögen über den atlantischen Ocean geschafft.
Das geschah damals namentlich in Nassau, Hessen-Darmstadt
und einigen ähnlichen Ländern. Es ist doch wunderbar, daß
die Staaten an Uebervölkerung nur bei diesen fleißigen Menschen

Nun, der berühmte Thomas Morus hat schon i. J. 1500, oder
etwas später, eine sehr gelehrte und gründliche Abhandlung
geschrieben, worin er zu dem Resultat kommt, daß damals in
England eine solche Uebervölkerung herrschte, daß es nicht
mehr zehn Jahre so fort gehn oder andauern könnte, dann
würden die Menschen einander auffressen. Seitdem ist die Be-
völkerung in England auf das Sechsfache gewachsen, und die
Leute fressen sich noch immer nicht gegenseitig auf, im Gegen-
theil, diese sechsfache Zahl von Menschen lebt weit besser, ver-
gnüglicher und auskömmlicher als damals das eine Sechstel.
Woher kommt das? Das kommt von dem allgemeinen Cultur-
fortschritt, von der Weiterentwicklung, durch welche die Men-
schen immer mehr Herr werden über die Natur, und durch
welche sie im Stande sind, eine immer intensivere Wirthschaft
zu entfalten und immer mehr Mittel zur Befriedigung der Be-
dürfnisse auch einer wachsenden Bevölkerung zu beschaffen.
Das hat nicht nur England gezeigt, sondern auch alle anderen
Länder, in welchen ein gleicher Culturfortschritt stattfindet und
die Menschen nicht durch eine zurückgebliebene Gesetzgebung
gehindert werden, ihre wirthschaftlichen Kräfte zu entfalten. Ich
weiß ja, daß in Deutschland diese Uebervölkerungsangst auch
in verschiedenen Staaten, in welchen man sich darin gefiel, der
Cultur-Entwickelung allerlei künstliche Hindernisse entgegen zu
stellen, grassirt hat; und vielleicht wird, bei wachsender volks-
wirthschaftlicher Reaction dieses Gespenst auf einige Zeit wieder-
kehren und den Menschen eine ungerechtfertigte Angst einflößen.
Predigt ja doch schon heute ein großer Gelehrter, der die
Häupter seiner Lieben nach Halbdutzend zählt, die «Zwei-
Kinderwirthschaft.»

Haben ja doch im Laufe des letzten Menschenalters, na-
mentlich während der Reactionszeit von 1850 bis 1858 ver-
schiedene deutsche Staaten auf ihre oder der Gemeinde Kosten
ganze Gemeinden nach Amerika spedirt. Sie haben aus Angst
vor der Uebervölkerung fleißige, brauchbare, tüchtige Menschen
und deren Vermögen über den atlantischen Ocean geschafft.
Das geschah damals namentlich in Nassau, Hessen-Darmstadt
und einigen ähnlichen Ländern. Es ist doch wunderbar, daß
die Staaten an Uebervölkerung nur bei diesen fleißigen Menschen

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[22/0024] Nun, der berühmte Thomas Morus hat schon i. J. 1500, oder etwas später, eine sehr gelehrte und gründliche Abhandlung geschrieben, worin er zu dem Resultat kommt, daß damals in England eine solche Uebervölkerung herrschte, daß es nicht mehr zehn Jahre so fort gehn oder andauern könnte, dann würden die Menschen einander auffressen. Seitdem ist die Be- völkerung in England auf das Sechsfache gewachsen, und die Leute fressen sich noch immer nicht gegenseitig auf, im Gegen- theil, diese sechsfache Zahl von Menschen lebt weit besser, ver- gnüglicher und auskömmlicher als damals das eine Sechstel. Woher kommt das? Das kommt von dem allgemeinen Cultur- fortschritt, von der Weiterentwicklung, durch welche die Men- schen immer mehr Herr werden über die Natur, und durch welche sie im Stande sind, eine immer intensivere Wirthschaft zu entfalten und immer mehr Mittel zur Befriedigung der Be- dürfnisse auch einer wachsenden Bevölkerung zu beschaffen. Das hat nicht nur England gezeigt, sondern auch alle anderen Länder, in welchen ein gleicher Culturfortschritt stattfindet und die Menschen nicht durch eine zurückgebliebene Gesetzgebung gehindert werden, ihre wirthschaftlichen Kräfte zu entfalten. Ich weiß ja, daß in Deutschland diese Uebervölkerungsangst auch in verschiedenen Staaten, in welchen man sich darin gefiel, der Cultur-Entwickelung allerlei künstliche Hindernisse entgegen zu stellen, grassirt hat; und vielleicht wird, bei wachsender volks- wirthschaftlicher Reaction dieses Gespenst auf einige Zeit wieder- kehren und den Menschen eine ungerechtfertigte Angst einflößen. Predigt ja doch schon heute ein großer Gelehrter, der die Häupter seiner Lieben nach Halbdutzend zählt, die «Zwei- Kinderwirthschaft.» Haben ja doch im Laufe des letzten Menschenalters, na- mentlich während der Reactionszeit von 1850 bis 1858 ver- schiedene deutsche Staaten auf ihre oder der Gemeinde Kosten ganze Gemeinden nach Amerika spedirt. Sie haben aus Angst vor der Uebervölkerung fleißige, brauchbare, tüchtige Menschen und deren Vermögen über den atlantischen Ocean geschafft. Das geschah damals namentlich in Nassau, Hessen-Darmstadt und einigen ähnlichen Ländern. Es ist doch wunderbar, daß die Staaten an Uebervölkerung nur bei diesen fleißigen Menschen

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Zitationshilfe: Braun, Karl: Die Vagabundenfrage. Berlin, 1883, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braun_vagabundenfrage_1883/24>, abgerufen am 22.11.2024.