Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Braun, Karl: Die Vagabundenfrage. Berlin, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

verwirklichen; und wenn sie einen Drang der Wohlthätigkeit
und Menschenfreundlichkeit in sich fühlen, so denken sie auch
hier nicht an das eigene "faire" aus eigenen Mitteln, sondern
verweisen diejenigen, welchen sie Wohlthaten erwiesen zu sehen
wünschen, auf die Mittel anderer Personen, sie ziehen Wechsel
auf das "Patrimonium der Enterbten", oder wie man das nennen
will, was erst gebildet werden soll.

Dadurch, daß man blühende Industriezweige ruinirt oder
monopolisirt, um aus deren Ertrage das gedachte phantastische
"Patrimonium" zu bilden, glaube man doch ja nicht seinen
volkswirthschaftlichen Beruf zur socialen Reform bethätigen zu
können. Ich glaube vielmehr, der Pastor Bodelschwingh, der
selbständig und aus eigenen Mitteln hilft, ist auf einem richtigeren
Wege als diejenigen, welche uns vertrösten auf ein "Patrimonium
der Enterbten", welches nirgends existirt und nirgends existiren
wird, so lange nicht die Grundlagen unsrer wirthschaftlichen
Gesellschaftsordnung umgestürzt werden.

Nun m. H.! komme ich zum zweiten Theil, nämlich zu
der parlamentarisch-dogmatischen Beurtheilung der Frage,
welcher Theil ja am meisten actuelles Tagesinteresse hat. Ich
lehne mich dabei möglichst genau an an die Verhandlungen
des Abgeordnetenhauses vom 28. November vorigen Jahres, in
welchen das Thema der Vagabondage sehr ergiebig erörtert
worden ist.

Ich hoffe, Sie werden es gerechtfertigt finden, wenn ich die
fraglichen Debatten vor Ihnen noch einmal Revue passiren
lasse und da, wo ich die Auffassung für eine irrthümliche halte,
einige kurze Randglossen hinzufüge.

Wenn die von den Oberpräsidenten der preußischen Mon-
archie über den gegenwärtigen Stand des Vagabunden-Wesens
an den Minister des Innern erstatteten Berichte bereits der Oeffent-
lichkeit übergeben wären, so würde ich der Erörterung eines
solchen schätzbaren Materials den Vorzug einräumen. Allein
dasselbe liegt der Oeffentlichkeit immer noch nicht vor. In Er-
mangelung dessen halten wir uns an die Debatten der Landes-
vertretung, welche den gegenwärtigen Stand der öffentlichen
Meinung, natürlich auch mit Inbegriff der Irrthümer derselben,
einigermaaßen wiederspiegelt.

In der Debatte vom 28. November 1882 hat zunächst der

verwirklichen; und wenn sie einen Drang der Wohlthätigkeit
und Menschenfreundlichkeit in sich fühlen, so denken sie auch
hier nicht an das eigene «faire» aus eigenen Mitteln, sondern
verweisen diejenigen, welchen sie Wohlthaten erwiesen zu sehen
wünschen, auf die Mittel anderer Personen, sie ziehen Wechsel
auf das «Patrimonium der Enterbten», oder wie man das nennen
will, was erst gebildet werden soll.

Dadurch, daß man blühende Industriezweige ruinirt oder
monopolisirt, um aus deren Ertrage das gedachte phantastische
«Patrimonium» zu bilden, glaube man doch ja nicht seinen
volkswirthschaftlichen Beruf zur socialen Reform bethätigen zu
können. Ich glaube vielmehr, der Pastor Bodelschwingh, der
selbständig und aus eigenen Mitteln hilft, ist auf einem richtigeren
Wege als diejenigen, welche uns vertrösten auf ein «Patrimonium
der Enterbten», welches nirgends existirt und nirgends existiren
wird, so lange nicht die Grundlagen unsrer wirthschaftlichen
Gesellschaftsordnung umgestürzt werden.

Nun m. H.! komme ich zum zweiten Theil, nämlich zu
der parlamentarisch-dogmatischen Beurtheilung der Frage,
welcher Theil ja am meisten actuelles Tagesinteresse hat. Ich
lehne mich dabei möglichst genau an an die Verhandlungen
des Abgeordnetenhauses vom 28. November vorigen Jahres, in
welchen das Thema der Vagabondage sehr ergiebig erörtert
worden ist.

Ich hoffe, Sie werden es gerechtfertigt finden, wenn ich die
fraglichen Debatten vor Ihnen noch einmal Revue passiren
lasse und da, wo ich die Auffassung für eine irrthümliche halte,
einige kurze Randglossen hinzufüge.

Wenn die von den Oberpräsidenten der preußischen Mon-
archie über den gegenwärtigen Stand des Vagabunden-Wesens
an den Minister des Innern erstatteten Berichte bereits der Oeffent-
lichkeit übergeben wären, so würde ich der Erörterung eines
solchen schätzbaren Materials den Vorzug einräumen. Allein
dasselbe liegt der Oeffentlichkeit immer noch nicht vor. In Er-
mangelung dessen halten wir uns an die Debatten der Landes-
vertretung, welche den gegenwärtigen Stand der öffentlichen
Meinung, natürlich auch mit Inbegriff der Irrthümer derselben,
einigermaaßen wiederspiegelt.

In der Debatte vom 28. November 1882 hat zunächst der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0020" n="18"/>
verwirklichen; und wenn sie einen Drang der Wohlthätigkeit<lb/>
und Menschenfreundlichkeit in sich fühlen, so denken sie auch<lb/>
hier nicht an das eigene «faire» aus eigenen Mitteln, sondern<lb/>
verweisen diejenigen, welchen sie Wohlthaten erwiesen zu sehen<lb/>
wünschen, auf die Mittel anderer Personen, sie ziehen Wechsel<lb/>
auf das «Patrimonium der Enterbten», oder wie man das nennen<lb/>
will, was erst gebildet werden soll.</p><lb/>
        <p>Dadurch, daß man blühende Industriezweige ruinirt oder<lb/>
monopolisirt, um aus deren Ertrage das gedachte phantastische<lb/>
«Patrimonium» zu bilden, glaube man doch ja nicht seinen<lb/>
volkswirthschaftlichen Beruf zur socialen Reform bethätigen zu<lb/>
können. Ich glaube vielmehr, der Pastor Bodelschwingh, der<lb/>
selbständig und aus eigenen Mitteln hilft, ist auf einem richtigeren<lb/>
Wege als diejenigen, welche uns vertrösten auf ein «Patrimonium<lb/>
der Enterbten», welches nirgends existirt und nirgends existiren<lb/>
wird, so lange nicht die Grundlagen unsrer wirthschaftlichen<lb/>
Gesellschaftsordnung umgestürzt werden.</p><lb/>
        <p>Nun m. H.! komme ich zum zweiten Theil, nämlich zu<lb/>
der parlamentarisch-dogmatischen Beurtheilung der Frage,<lb/>
welcher Theil ja am meisten actuelles Tagesinteresse hat. Ich<lb/>
lehne mich dabei möglichst genau an an die Verhandlungen<lb/>
des Abgeordnetenhauses vom 28. November vorigen Jahres, in<lb/>
welchen das Thema der Vagabondage sehr ergiebig erörtert<lb/>
worden ist.</p><lb/>
        <p>Ich hoffe, Sie werden es gerechtfertigt finden, wenn ich die<lb/>
fraglichen Debatten vor Ihnen noch einmal Revue passiren<lb/>
lasse und da, wo ich die Auffassung für eine irrthümliche halte,<lb/>
einige kurze Randglossen hinzufüge.</p><lb/>
        <p>Wenn die von den Oberpräsidenten der preußischen Mon-<lb/>
archie über den gegenwärtigen Stand des Vagabunden-Wesens<lb/>
an den Minister des Innern erstatteten Berichte bereits der Oeffent-<lb/>
lichkeit übergeben wären, so würde ich der Erörterung eines<lb/>
solchen schätzbaren Materials den Vorzug einräumen. Allein<lb/>
dasselbe liegt der Oeffentlichkeit immer noch nicht vor. In Er-<lb/>
mangelung dessen halten wir uns an die Debatten der Landes-<lb/>
vertretung, welche den gegenwärtigen Stand der öffentlichen<lb/>
Meinung, natürlich auch mit Inbegriff der Irrthümer derselben,<lb/>
einigermaaßen wiederspiegelt.</p><lb/>
        <p>In der Debatte vom 28. November 1882 hat zunächst der<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[18/0020] verwirklichen; und wenn sie einen Drang der Wohlthätigkeit und Menschenfreundlichkeit in sich fühlen, so denken sie auch hier nicht an das eigene «faire» aus eigenen Mitteln, sondern verweisen diejenigen, welchen sie Wohlthaten erwiesen zu sehen wünschen, auf die Mittel anderer Personen, sie ziehen Wechsel auf das «Patrimonium der Enterbten», oder wie man das nennen will, was erst gebildet werden soll. Dadurch, daß man blühende Industriezweige ruinirt oder monopolisirt, um aus deren Ertrage das gedachte phantastische «Patrimonium» zu bilden, glaube man doch ja nicht seinen volkswirthschaftlichen Beruf zur socialen Reform bethätigen zu können. Ich glaube vielmehr, der Pastor Bodelschwingh, der selbständig und aus eigenen Mitteln hilft, ist auf einem richtigeren Wege als diejenigen, welche uns vertrösten auf ein «Patrimonium der Enterbten», welches nirgends existirt und nirgends existiren wird, so lange nicht die Grundlagen unsrer wirthschaftlichen Gesellschaftsordnung umgestürzt werden. Nun m. H.! komme ich zum zweiten Theil, nämlich zu der parlamentarisch-dogmatischen Beurtheilung der Frage, welcher Theil ja am meisten actuelles Tagesinteresse hat. Ich lehne mich dabei möglichst genau an an die Verhandlungen des Abgeordnetenhauses vom 28. November vorigen Jahres, in welchen das Thema der Vagabondage sehr ergiebig erörtert worden ist. Ich hoffe, Sie werden es gerechtfertigt finden, wenn ich die fraglichen Debatten vor Ihnen noch einmal Revue passiren lasse und da, wo ich die Auffassung für eine irrthümliche halte, einige kurze Randglossen hinzufüge. Wenn die von den Oberpräsidenten der preußischen Mon- archie über den gegenwärtigen Stand des Vagabunden-Wesens an den Minister des Innern erstatteten Berichte bereits der Oeffent- lichkeit übergeben wären, so würde ich der Erörterung eines solchen schätzbaren Materials den Vorzug einräumen. Allein dasselbe liegt der Oeffentlichkeit immer noch nicht vor. In Er- mangelung dessen halten wir uns an die Debatten der Landes- vertretung, welche den gegenwärtigen Stand der öffentlichen Meinung, natürlich auch mit Inbegriff der Irrthümer derselben, einigermaaßen wiederspiegelt. In der Debatte vom 28. November 1882 hat zunächst der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/braun_vagabundenfrage_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/braun_vagabundenfrage_1883/20
Zitationshilfe: Braun, Karl: Die Vagabundenfrage. Berlin, 1883, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braun_vagabundenfrage_1883/20>, abgerufen am 22.11.2024.