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Braun, Karl: Die Vagabundenfrage. Berlin, 1883.

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her, ich weiß nicht, ob mit gutem Bedacht, oder aus Gleich-
giltigkeit, in unseren öffentlichen Verhandlungen noch nicht her-
vorgehoben worden ist, das ist nämlich unsere frühere Viel- und
Kleinstaaterei in Deutschland. Das Uebel hat sich ja sehr wesent-
lich gebessert; wir sind nicht mehr in dem Zustand wie vor
100 Jahren, wo wir noch 3--400 Souveräne in Deutschland
hatten, sehr komische zum Theil, nicht blos weltliche, sondern
auch geistliche, Bischöfe, Aebte und dergleichen "kleine" Herren,
die sich aber gleichwohl alle für außerordentlich souverän hielten
und nichts weniger duldeten, als einen Eingriff in ihre vermeint-
liche Machtvollkommenheit oder in ihr Gebiet. Da war die Brut-
stätte der eigentlichen Vagabondage. Denn schließt sich ein
Territorium gegen das andere ab, ist Niemand die Niederlassung
erlaubt, umgiebt sich jede Stadt mit einer chinesischen Mauer
dem Anziehenden gegenüber, kann Niemand an die Stelle ge-
langen, wo er seine geistigen und körperlichen Kräfte zu ent-
wickeln und zu bethätigen und sich eine bleibende und gesicherte
Existenz zu begründen im Stande ist, so muß sich daraus noth-
wendig die Vagabondage entwickeln. Gewiß ist die große Mehr-
zahl der Menschen weit mehr geneigt, sich in Ruhe und Behag-
lichkeit niederzulassen, als ohne Aufhören mit dem Aufenthalte
zu wechseln. Jeder will lieber sitzen, als schweifen.

Wenn es aber dem Menschen nicht erlaubt, sich zu setzen,
so schweift er, und so wird er ein Vagabund.

Zugleich aber erschwert das territorial zersplitterte und im
Gemenge liegende Land die Ergreifung und Verfolgung der
Vagabunden und damit die Unterdrückung der Vagabondage.

Die Züchtung von Vagabunden durch einen die Zug-,
Niederlassungs-, Verehelichungs- und Gewerbefreiheit ausschließen-
den Zustand der Staats- und Gemeinde-Verfassung und der son-
stigen Gesetzgebung einerseits, und die der Unterdrückung
der Vagabondage durch die weltliche und geistliche Kleinstaaterei
erwachsenden Schwierigkeiten andererseits, finden ihre beste
Illustration in den Zuständen Deutschlands am Ende des acht-
zehnten Jahrhunderts.

Diese Mißstände zeigten sich da am schreiendsten, wo die
Territorialgrenzen am tollsten durch einander liefen, also in
Oberschwaben und in den fränkischen Landen.

Um eine Probe jener Zustände zu geben, verweise ich auf

her, ich weiß nicht, ob mit gutem Bedacht, oder aus Gleich-
giltigkeit, in unseren öffentlichen Verhandlungen noch nicht her-
vorgehoben worden ist, das ist nämlich unsere frühere Viel- und
Kleinstaaterei in Deutschland. Das Uebel hat sich ja sehr wesent-
lich gebessert; wir sind nicht mehr in dem Zustand wie vor
100 Jahren, wo wir noch 3—400 Souveräne in Deutschland
hatten, sehr komische zum Theil, nicht blos weltliche, sondern
auch geistliche, Bischöfe, Aebte und dergleichen «kleine» Herren,
die sich aber gleichwohl alle für außerordentlich souverän hielten
und nichts weniger duldeten, als einen Eingriff in ihre vermeint-
liche Machtvollkommenheit oder in ihr Gebiet. Da war die Brut-
stätte der eigentlichen Vagabondage. Denn schließt sich ein
Territorium gegen das andere ab, ist Niemand die Niederlassung
erlaubt, umgiebt sich jede Stadt mit einer chinesischen Mauer
dem Anziehenden gegenüber, kann Niemand an die Stelle ge-
langen, wo er seine geistigen und körperlichen Kräfte zu ent-
wickeln und zu bethätigen und sich eine bleibende und gesicherte
Existenz zu begründen im Stande ist, so muß sich daraus noth-
wendig die Vagabondage entwickeln. Gewiß ist die große Mehr-
zahl der Menschen weit mehr geneigt, sich in Ruhe und Behag-
lichkeit niederzulassen, als ohne Aufhören mit dem Aufenthalte
zu wechseln. Jeder will lieber sitzen, als schweifen.

Wenn es aber dem Menschen nicht erlaubt, sich zu setzen,
so schweift er, und so wird er ein Vagabund.

Zugleich aber erschwert das territorial zersplitterte und im
Gemenge liegende Land die Ergreifung und Verfolgung der
Vagabunden und damit die Unterdrückung der Vagabondage.

Die Züchtung von Vagabunden durch einen die Zug-,
Niederlassungs-, Verehelichungs- und Gewerbefreiheit ausschließen-
den Zustand der Staats- und Gemeinde-Verfassung und der son-
stigen Gesetzgebung einerseits, und die der Unterdrückung
der Vagabondage durch die weltliche und geistliche Kleinstaaterei
erwachsenden Schwierigkeiten andererseits, finden ihre beste
Illustration in den Zuständen Deutschlands am Ende des acht-
zehnten Jahrhunderts.

Diese Mißstände zeigten sich da am schreiendsten, wo die
Territorialgrenzen am tollsten durch einander liefen, also in
Oberschwaben und in den fränkischen Landen.

Um eine Probe jener Zustände zu geben, verweise ich auf

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[14/0016] her, ich weiß nicht, ob mit gutem Bedacht, oder aus Gleich- giltigkeit, in unseren öffentlichen Verhandlungen noch nicht her- vorgehoben worden ist, das ist nämlich unsere frühere Viel- und Kleinstaaterei in Deutschland. Das Uebel hat sich ja sehr wesent- lich gebessert; wir sind nicht mehr in dem Zustand wie vor 100 Jahren, wo wir noch 3—400 Souveräne in Deutschland hatten, sehr komische zum Theil, nicht blos weltliche, sondern auch geistliche, Bischöfe, Aebte und dergleichen «kleine» Herren, die sich aber gleichwohl alle für außerordentlich souverän hielten und nichts weniger duldeten, als einen Eingriff in ihre vermeint- liche Machtvollkommenheit oder in ihr Gebiet. Da war die Brut- stätte der eigentlichen Vagabondage. Denn schließt sich ein Territorium gegen das andere ab, ist Niemand die Niederlassung erlaubt, umgiebt sich jede Stadt mit einer chinesischen Mauer dem Anziehenden gegenüber, kann Niemand an die Stelle ge- langen, wo er seine geistigen und körperlichen Kräfte zu ent- wickeln und zu bethätigen und sich eine bleibende und gesicherte Existenz zu begründen im Stande ist, so muß sich daraus noth- wendig die Vagabondage entwickeln. Gewiß ist die große Mehr- zahl der Menschen weit mehr geneigt, sich in Ruhe und Behag- lichkeit niederzulassen, als ohne Aufhören mit dem Aufenthalte zu wechseln. Jeder will lieber sitzen, als schweifen. Wenn es aber dem Menschen nicht erlaubt, sich zu setzen, so schweift er, und so wird er ein Vagabund. Zugleich aber erschwert das territorial zersplitterte und im Gemenge liegende Land die Ergreifung und Verfolgung der Vagabunden und damit die Unterdrückung der Vagabondage. Die Züchtung von Vagabunden durch einen die Zug-, Niederlassungs-, Verehelichungs- und Gewerbefreiheit ausschließen- den Zustand der Staats- und Gemeinde-Verfassung und der son- stigen Gesetzgebung einerseits, und die der Unterdrückung der Vagabondage durch die weltliche und geistliche Kleinstaaterei erwachsenden Schwierigkeiten andererseits, finden ihre beste Illustration in den Zuständen Deutschlands am Ende des acht- zehnten Jahrhunderts. Diese Mißstände zeigten sich da am schreiendsten, wo die Territorialgrenzen am tollsten durch einander liefen, also in Oberschwaben und in den fränkischen Landen. Um eine Probe jener Zustände zu geben, verweise ich auf

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Zitationshilfe: Braun, Karl: Die Vagabundenfrage. Berlin, 1883, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braun_vagabundenfrage_1883/16>, abgerufen am 22.11.2024.