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Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903.

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Anschauungen unserer Zeit! - ihn sofort politisch rechtlos macht,
als wäre Armuth und Verbrechen gleichbedeutend. Für die Frauen
aber ist Arbeitsunfähigkeit der Ausgangspunkt noch tieferen Falls;
nur zu oft werden sie jetzt, auch wenn sie bisher angesichts großer
Entbehrungen standhaft blieben, zu Opfern der Prostitution. Sie
vor diesem Aeußersten zu schützen, sollte mit die Aufgabe der Ver-
sicherungs-Gesetzgebung sein. Aber selbst hier versagt ihre Leistungs-
fähigkeit. Zunächst hat nur die Arbeiterin auf Jnvalidenrente An-
spruch, die nicht mehr ein Drittel ihrer normalen Erwerbsfähigkeit
besitzt. Eine Konfektionsarbeiterin z. B., die in gesunden Zeiten
und günstigen Falls etwa 700 Mk. jährlich zu verdienen vermochte
und durch jahrelanges Maschinennähen ihre Arbeitskraft soweit ein-
büßte, daß sie nur noch 350 Mk. erwerben kann, erhält keinerlei
Entschädigung für den Lohnausfall, muß sich also einen Nebenerwerb
zu verschaffen suchen, wenn sie nicht verhungern will. Jst ihre
Erwerbsfähigkeit schließlich so weit gesunken, daß sie zum Renten-
empfang berechtigt ist, so bedeutet das für sie noch keine Befreiung
aus Sorge und Noth. Die Höhe der Rente richtet sich nämlich nach
der Zahl der Beitragswochen und nach der Lohnklasse, der die Ver-
sicherte angehörte. Bei der allgemeinen Niedrigkeit der Frauenlöhne
ist das selten eine hohe. Sie wird also nach fünfzig arbeitsreichen
Jahren höchstens auf 330 Mk. im Jahre Anspruch haben! Wie aber,
wenn die Jnvalidität früher und für Angehörige einer niedrigeren
Lohnklasse eintritt? Soll ein armes, von der Arbeit vorzeitig zer-
riebenes Geschöpf mit 116 bis 150 oder 220 Mk. jährlich leben können?!
Noch schlimmer steht es um die Altersrente. Siebzig Jahre muß
eine Arbeiterin alt werden, ehe sie auf eine Rente von 110--230 Mk.
rechnen kann! Selten erreicht sie dieses Alter, meist ist sie eine
müde Greisin lange vorher. Und so ist ihr nicht einmal ein ruhiges
Ausleben und Ausruhen von der Lebenslast gesichert. Mit darben
und arbeiten fing ihr Leben an, mit darben und betteln hört es auf.

Die Arbeiterversicherung umfaßt das ganze Leben des Prole-
tariers, von der Wiege bis zum Grabe. Aber ihre Leistungen er-
scheinen wie tastende Versuche, wie die ersten schüchternen Schritte
auf unbekannter Bahn. Etwas Unfertiges, Dilettantenhaftes klebt
ihnen an; sie zeigen, auch ohne daß es besonders erzählt zu werden
braucht, daß sie ursprünglich nichts weiter sein sollten, als eine Art
Lutschbeutel, den man dem hungernden Kinde in den Mund steckt,
nicht um es zu sättigen, sondern nur, um es am Schreien zu ver-
hindern. Aber so gut wie die Arbeiter sollten auch die Arbeiterinnen
nicht mehr dem Kinde gleichen, das sich noch immer allerlei vor-
täuschen läßt. Freilich: sie wissen meist nichts von ihren Rechten.
Man lehrt ihnen in der Schule zwar die Gesetze der alten Juden,
aber man sagt ihnen nichts von den Gesetzen ihrer Zeit und ihres
Vaterlandes. Wüßten sie darum, sie wären nicht so stumm und
stumpf geblieben.


Anschauungen unserer Zeit! – ihn sofort politisch rechtlos macht,
als wäre Armuth und Verbrechen gleichbedeutend. Für die Frauen
aber ist Arbeitsunfähigkeit der Ausgangspunkt noch tieferen Falls;
nur zu oft werden sie jetzt, auch wenn sie bisher angesichts großer
Entbehrungen standhaft blieben, zu Opfern der Prostitution. Sie
vor diesem Aeußersten zu schützen, sollte mit die Aufgabe der Ver-
sicherungs-Gesetzgebung sein. Aber selbst hier versagt ihre Leistungs-
fähigkeit. Zunächst hat nur die Arbeiterin auf Jnvalidenrente An-
spruch, die nicht mehr ein Drittel ihrer normalen Erwerbsfähigkeit
besitzt. Eine Konfektionsarbeiterin z. B., die in gesunden Zeiten
und günstigen Falls etwa 700 Mk. jährlich zu verdienen vermochte
und durch jahrelanges Maschinennähen ihre Arbeitskraft soweit ein-
büßte, daß sie nur noch 350 Mk. erwerben kann, erhält keinerlei
Entschädigung für den Lohnausfall, muß sich also einen Nebenerwerb
zu verschaffen suchen, wenn sie nicht verhungern will. Jst ihre
Erwerbsfähigkeit schließlich so weit gesunken, daß sie zum Renten-
empfang berechtigt ist, so bedeutet das für sie noch keine Befreiung
aus Sorge und Noth. Die Höhe der Rente richtet sich nämlich nach
der Zahl der Beitragswochen und nach der Lohnklasse, der die Ver-
sicherte angehörte. Bei der allgemeinen Niedrigkeit der Frauenlöhne
ist das selten eine hohe. Sie wird also nach fünfzig arbeitsreichen
Jahren höchstens auf 330 Mk. im Jahre Anspruch haben! Wie aber,
wenn die Jnvalidität früher und für Angehörige einer niedrigeren
Lohnklasse eintritt? Soll ein armes, von der Arbeit vorzeitig zer-
riebenes Geschöpf mit 116 bis 150 oder 220 Mk. jährlich leben können?!
Noch schlimmer steht es um die Altersrente. Siebzig Jahre muß
eine Arbeiterin alt werden, ehe sie auf eine Rente von 110—230 Mk.
rechnen kann! Selten erreicht sie dieses Alter, meist ist sie eine
müde Greisin lange vorher. Und so ist ihr nicht einmal ein ruhiges
Ausleben und Ausruhen von der Lebenslast gesichert. Mit darben
und arbeiten fing ihr Leben an, mit darben und betteln hört es auf.

Die Arbeiterversicherung umfaßt das ganze Leben des Prole-
tariers, von der Wiege bis zum Grabe. Aber ihre Leistungen er-
scheinen wie tastende Versuche, wie die ersten schüchternen Schritte
auf unbekannter Bahn. Etwas Unfertiges, Dilettantenhaftes klebt
ihnen an; sie zeigen, auch ohne daß es besonders erzählt zu werden
braucht, daß sie ursprünglich nichts weiter sein sollten, als eine Art
Lutschbeutel, den man dem hungernden Kinde in den Mund steckt,
nicht um es zu sättigen, sondern nur, um es am Schreien zu ver-
hindern. Aber so gut wie die Arbeiter sollten auch die Arbeiterinnen
nicht mehr dem Kinde gleichen, das sich noch immer allerlei vor-
täuschen läßt. Freilich: sie wissen meist nichts von ihren Rechten.
Man lehrt ihnen in der Schule zwar die Gesetze der alten Juden,
aber man sagt ihnen nichts von den Gesetzen ihrer Zeit und ihres
Vaterlandes. Wüßten sie darum, sie wären nicht so stumm und
stumpf geblieben.


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[22/0021] Anschauungen unserer Zeit! – ihn sofort politisch rechtlos macht, als wäre Armuth und Verbrechen gleichbedeutend. Für die Frauen aber ist Arbeitsunfähigkeit der Ausgangspunkt noch tieferen Falls; nur zu oft werden sie jetzt, auch wenn sie bisher angesichts großer Entbehrungen standhaft blieben, zu Opfern der Prostitution. Sie vor diesem Aeußersten zu schützen, sollte mit die Aufgabe der Ver- sicherungs-Gesetzgebung sein. Aber selbst hier versagt ihre Leistungs- fähigkeit. Zunächst hat nur die Arbeiterin auf Jnvalidenrente An- spruch, die nicht mehr ein Drittel ihrer normalen Erwerbsfähigkeit besitzt. Eine Konfektionsarbeiterin z. B., die in gesunden Zeiten und günstigen Falls etwa 700 Mk. jährlich zu verdienen vermochte und durch jahrelanges Maschinennähen ihre Arbeitskraft soweit ein- büßte, daß sie nur noch 350 Mk. erwerben kann, erhält keinerlei Entschädigung für den Lohnausfall, muß sich also einen Nebenerwerb zu verschaffen suchen, wenn sie nicht verhungern will. Jst ihre Erwerbsfähigkeit schließlich so weit gesunken, daß sie zum Renten- empfang berechtigt ist, so bedeutet das für sie noch keine Befreiung aus Sorge und Noth. Die Höhe der Rente richtet sich nämlich nach der Zahl der Beitragswochen und nach der Lohnklasse, der die Ver- sicherte angehörte. Bei der allgemeinen Niedrigkeit der Frauenlöhne ist das selten eine hohe. Sie wird also nach fünfzig arbeitsreichen Jahren höchstens auf 330 Mk. im Jahre Anspruch haben! Wie aber, wenn die Jnvalidität früher und für Angehörige einer niedrigeren Lohnklasse eintritt? Soll ein armes, von der Arbeit vorzeitig zer- riebenes Geschöpf mit 116 bis 150 oder 220 Mk. jährlich leben können?! Noch schlimmer steht es um die Altersrente. Siebzig Jahre muß eine Arbeiterin alt werden, ehe sie auf eine Rente von 110—230 Mk. rechnen kann! Selten erreicht sie dieses Alter, meist ist sie eine müde Greisin lange vorher. Und so ist ihr nicht einmal ein ruhiges Ausleben und Ausruhen von der Lebenslast gesichert. Mit darben und arbeiten fing ihr Leben an, mit darben und betteln hört es auf. Die Arbeiterversicherung umfaßt das ganze Leben des Prole- tariers, von der Wiege bis zum Grabe. Aber ihre Leistungen er- scheinen wie tastende Versuche, wie die ersten schüchternen Schritte auf unbekannter Bahn. Etwas Unfertiges, Dilettantenhaftes klebt ihnen an; sie zeigen, auch ohne daß es besonders erzählt zu werden braucht, daß sie ursprünglich nichts weiter sein sollten, als eine Art Lutschbeutel, den man dem hungernden Kinde in den Mund steckt, nicht um es zu sättigen, sondern nur, um es am Schreien zu ver- hindern. Aber so gut wie die Arbeiter sollten auch die Arbeiterinnen nicht mehr dem Kinde gleichen, das sich noch immer allerlei vor- täuschen läßt. Freilich: sie wissen meist nichts von ihren Rechten. Man lehrt ihnen in der Schule zwar die Gesetze der alten Juden, aber man sagt ihnen nichts von den Gesetzen ihrer Zeit und ihres Vaterlandes. Wüßten sie darum, sie wären nicht so stumm und stumpf geblieben.

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Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2022-08-30T16:52:29Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt, Dennis Dietrich: Bearbeitung der digitalen Edition. (2022-08-30T16:52:29Z)

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Zitationshilfe: Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903/21>, abgerufen am 24.11.2024.