den sich da, wo das Schmelzen des Schnees im Sommer theils durch Regen, theils durch Sonnenwärme, noch statt findet, und wo daher der Schnee, weil ein bis in die Thäler hinab vollständiges Aufthauen nicht möglich ist, sich in eine dichte Eismasse verwan- delt. Die so entstandenen Eismassen füllen die Gebirgsthäler und lagern sich an den Abhängen, und indem sie an den Abhängen all- jährlich, durch Abthauen an der untern Grenze, ihre Stützpuncte verlieren, sinken die höher liegenden Massen allmählig immer tiefer herab, und gelangen in Gegenden, die weit niedriger liegen, als es der eigentlichen Schneegrenze, derjenigen Höhe nämlich, wo der jährlich fallende Schnee nicht mehr ganz aufthauet, gemäß ist. Auf diesem Umstande beruhet es, daß die Gletscher sich gegen ihre untern Grenzen hin an der Erdfläche unterhöhlt zeigen, und daß Ströme ihren Ursprung aus den Gletschern, wo sie aus Eisgewölben hervor- strömen, haben. Die Erde nämlich hat in der Gegend, wo sie noch mit Gletscher-Eis bedeckt ist, eine größere Wärme als die Nulltemperatur, und obgleich sie in der Oberfläche selbst durch das aufliegende Eis unaufhörlich abgekühlt wird, und ihre Wärme durch das Aufthauen des Eises verliert, so bringt doch die stetige, wenn gleich langsame, Zuleitung der Wärme aus dem Innern der Erde unaufhörlich neue Wärme an die Oberfläche, wodurch das Aufthauen des Eises unterhalten wird. So höhlt sich also der untere Theil des Eises aus, und wenn nun im Sommer die un- tern Ränder der Gletscher wegthauen, so rücken die höher liegenden Eismassen herab und drängen sich oft mit solcher Gewalt vor- wärts, daß sie bebautes Land und selbst Wälder vor sich fortschie- ben, wobei oft weite Strecken des bebauten Landes überdeckt und verüstet werden. Dieses Vorrücken der Gletscher ist in kalten Sommern und nach schneereichen Wintern oft so bedeutend, daß sie Flächen von 1000 Fuß breit in wenigen Jahren neu bedecken, wogegen sie in warmen Sommern sich etwas wieder zurückziehen; doch scheint die allgemeine Erfahrung auf ein Wachsen im Ganzen in unserm Jahrhundert hinzudeuten. Jenes allgemeine Vorrücken aber, welches oft nur darin besteht, daß die höhern Massen den Platz der abgethauten einnehmen, findet in jedem Jahre statt. Es ist mit dem Entstehen der tief hinabgehenden Spalten verbunden, die durch das Abtrennen der niedrigern Massen, welche dem Thale
den ſich da, wo das Schmelzen des Schnees im Sommer theils durch Regen, theils durch Sonnenwaͤrme, noch ſtatt findet, und wo daher der Schnee, weil ein bis in die Thaͤler hinab vollſtaͤndiges Aufthauen nicht moͤglich iſt, ſich in eine dichte Eismaſſe verwan- delt. Die ſo entſtandenen Eismaſſen fuͤllen die Gebirgsthaͤler und lagern ſich an den Abhaͤngen, und indem ſie an den Abhaͤngen all- jaͤhrlich, durch Abthauen an der untern Grenze, ihre Stuͤtzpuncte verlieren, ſinken die hoͤher liegenden Maſſen allmaͤhlig immer tiefer herab, und gelangen in Gegenden, die weit niedriger liegen, als es der eigentlichen Schneegrenze, derjenigen Hoͤhe naͤmlich, wo der jaͤhrlich fallende Schnee nicht mehr ganz aufthauet, gemaͤß iſt. Auf dieſem Umſtande beruhet es, daß die Gletſcher ſich gegen ihre untern Grenzen hin an der Erdflaͤche unterhoͤhlt zeigen, und daß Stroͤme ihren Urſprung aus den Gletſchern, wo ſie aus Eisgewoͤlben hervor- ſtroͤmen, haben. Die Erde naͤmlich hat in der Gegend, wo ſie noch mit Gletſcher-Eis bedeckt iſt, eine groͤßere Waͤrme als die Nulltemperatur, und obgleich ſie in der Oberflaͤche ſelbſt durch das aufliegende Eis unaufhoͤrlich abgekuͤhlt wird, und ihre Waͤrme durch das Aufthauen des Eiſes verliert, ſo bringt doch die ſtetige, wenn gleich langſame, Zuleitung der Waͤrme aus dem Innern der Erde unaufhoͤrlich neue Waͤrme an die Oberflaͤche, wodurch das Aufthauen des Eiſes unterhalten wird. So hoͤhlt ſich alſo der untere Theil des Eiſes aus, und wenn nun im Sommer die un- tern Raͤnder der Gletſcher wegthauen, ſo ruͤcken die hoͤher liegenden Eismaſſen herab und draͤngen ſich oft mit ſolcher Gewalt vor- waͤrts, daß ſie bebautes Land und ſelbſt Waͤlder vor ſich fortſchie- ben, wobei oft weite Strecken des bebauten Landes uͤberdeckt und veruͤſtet werden. Dieſes Vorruͤcken der Gletſcher iſt in kalten Sommern und nach ſchneereichen Wintern oft ſo bedeutend, daß ſie Flaͤchen von 1000 Fuß breit in wenigen Jahren neu bedecken, wogegen ſie in warmen Sommern ſich etwas wieder zuruͤckziehen; doch ſcheint die allgemeine Erfahrung auf ein Wachſen im Ganzen in unſerm Jahrhundert hinzudeuten. Jenes allgemeine Vorruͤcken aber, welches oft nur darin beſteht, daß die hoͤhern Maſſen den Platz der abgethauten einnehmen, findet in jedem Jahre ſtatt. Es iſt mit dem Entſtehen der tief hinabgehenden Spalten verbunden, die durch das Abtrennen der niedrigern Maſſen, welche dem Thale
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den ſich da, wo das Schmelzen des Schnees im Sommer theils
durch Regen, theils durch Sonnenwaͤrme, noch ſtatt findet, und
wo daher der Schnee, weil ein bis in die Thaͤler hinab vollſtaͤndiges
Aufthauen nicht moͤglich iſt, ſich in eine dichte Eismaſſe verwan-
delt. Die ſo entſtandenen Eismaſſen fuͤllen die Gebirgsthaͤler und
lagern ſich an den Abhaͤngen, und indem ſie an den Abhaͤngen all-
jaͤhrlich, durch Abthauen an der untern Grenze, ihre Stuͤtzpuncte
verlieren, ſinken die hoͤher liegenden Maſſen allmaͤhlig immer tiefer
herab, und gelangen in Gegenden, die weit niedriger liegen, als es
der eigentlichen Schneegrenze, derjenigen Hoͤhe naͤmlich, wo der
jaͤhrlich fallende Schnee nicht mehr ganz aufthauet, gemaͤß iſt. Auf
dieſem Umſtande beruhet es, daß die Gletſcher ſich gegen ihre untern
Grenzen hin an der Erdflaͤche unterhoͤhlt zeigen, und daß Stroͤme
ihren Urſprung aus den Gletſchern, wo ſie aus Eisgewoͤlben hervor-
ſtroͤmen, haben. Die Erde naͤmlich hat in der Gegend, wo ſie
noch mit Gletſcher-Eis bedeckt iſt, eine groͤßere Waͤrme als die
Nulltemperatur, und obgleich ſie in der Oberflaͤche ſelbſt durch das
aufliegende Eis unaufhoͤrlich abgekuͤhlt wird, und ihre Waͤrme
durch das Aufthauen des Eiſes verliert, ſo bringt doch die ſtetige,
wenn gleich langſame, Zuleitung der Waͤrme aus dem Innern der
Erde unaufhoͤrlich neue Waͤrme an die Oberflaͤche, wodurch das
Aufthauen des Eiſes unterhalten wird. So hoͤhlt ſich alſo der
untere Theil des Eiſes aus, und wenn nun im Sommer die un-
tern Raͤnder der Gletſcher wegthauen, ſo ruͤcken die hoͤher liegenden
Eismaſſen herab und draͤngen ſich oft mit ſolcher Gewalt vor-
waͤrts, daß ſie bebautes Land und ſelbſt Waͤlder vor ſich fortſchie-
ben, wobei oft weite Strecken des bebauten Landes uͤberdeckt und
veruͤſtet werden. Dieſes Vorruͤcken der Gletſcher iſt in kalten
Sommern und nach ſchneereichen Wintern oft ſo bedeutend, daß
ſie Flaͤchen von 1000 Fuß breit in wenigen Jahren neu bedecken,
wogegen ſie in warmen Sommern ſich etwas wieder zuruͤckziehen;
doch ſcheint die allgemeine Erfahrung auf ein Wachſen im Ganzen
in unſerm Jahrhundert hinzudeuten. Jenes allgemeine Vorruͤcken
aber, welches oft nur darin beſteht, daß die hoͤhern Maſſen den
Platz der abgethauten einnehmen, findet in jedem Jahre ſtatt. Es
iſt mit dem Entſtehen der tief hinabgehenden Spalten verbunden,
die durch das Abtrennen der niedrigern Maſſen, welche dem Thale
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Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 3. Leipzig, 1832, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre03_1832/109>, abgerufen am 27.11.2024.
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