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Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1831.

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ungleichen Entfernungen zu sehen, und dabei nicht auf ihr un-
gleiches Erscheinen zu achten, ist der Grund der eben erwähnten
unrichtigen Urtheile; aber auch andere Umstände können unser Auge
täuschen. Es ist eine ziemlich bekannte Behauptung, daß man
zuweilen sehr entfernte Gegenstände viel näher gerückt zu sehen
glaube, weil man sie mit ungewohnter Deutlichkeit sieht, und
dadurch oft zu der Meinung, daß man sie größer sehe, verleitet
wird, die gleichwohl ungegründet ist. Nach meinen eigenen Er-
fahrungen über diese Erscheinungen entstehen sie am öftersten aus
der Lebhaftigkeit der Erleuchtung, die uns in Stand setzt, jeden
kleineren Theil genau wahrzunehmen, und wir beurtheilen dann die
scheinbare Größe nach der Leichtigkeit des Erkennens dieser kleinen
Theile. Es ist bekannt, daß wir einen schwarzen Kreis auf rein
weißem Grunde in viel größerer Entfernung erkennen, als wenn
er auf grauem oder dunkelm Grunde aufgetragen wäre, und in
Beziehung auf diese Ueberzeugung werden wir nicht so leicht den auf
weißem Grunde aufgetragenen Kreis für größer halten, weil wir
schon die Rücksicht hierauf in unser Urtheil mit hinein bringen;
aber wenn wir in einem weit entfernten weißen Gebäude jetzt die
Fenster und andere durch Farbe oder Schatten unterschiedene Theile
deutlich sehen, statt daß sie uns zu anderer Zeit unkenntlich sind,
so sind wir geneigt, die jetzt kenntlichen Theile als größer erscheinend
anzusehen, obgleich sie nur wegen einer hellern Beleuchtung sich
kenntlicher gegen das helle Weiß abstechend zeigen. Diese überra-
schende Deutlichkeit pflegt besonders dann statt zu finden, wenn bei
sehr durchsichtiger, von allem Nebel freier, Luft, die Sonne niedrig
stehend die Wände von Gebäuden in senkrechter Richtung bescheint;
die alsdann statt findende starke Erleuchtung, die wir durch eine
ungetrübte Luft wahrnehmen, gestattet uns, Fenster oder andere
dunklere Theile des Gebäudes, obgleich sie bei schwächerer Erleuch-
tung nicht wahrgenommen werden können, jetzt noch zu sehen, nicht
deshalb, weil sie jetzt größer sind, sondern weil so kleine Theile noch
kenntlich werden, wenn die Erleuchtung lebhaft genug ist. Um die
Umstände, wo diese überraschende Deutlichkeit beobachtet wird, voll-
ständig anzugeben, will ich noch beifügen, daß ein Sonnen-Auf-
gang, wobei der Beobachter sich im Schatten dunkler Wolken
befindet, während ein westwärts liegender Gegenstand lebhaft von

ungleichen Entfernungen zu ſehen, und dabei nicht auf ihr un-
gleiches Erſcheinen zu achten, iſt der Grund der eben erwaͤhnten
unrichtigen Urtheile; aber auch andere Umſtaͤnde koͤnnen unſer Auge
taͤuſchen. Es iſt eine ziemlich bekannte Behauptung, daß man
zuweilen ſehr entfernte Gegenſtaͤnde viel naͤher geruͤckt zu ſehen
glaube, weil man ſie mit ungewohnter Deutlichkeit ſieht, und
dadurch oft zu der Meinung, daß man ſie groͤßer ſehe, verleitet
wird, die gleichwohl ungegruͤndet iſt. Nach meinen eigenen Er-
fahrungen uͤber dieſe Erſcheinungen entſtehen ſie am oͤfterſten aus
der Lebhaftigkeit der Erleuchtung, die uns in Stand ſetzt, jeden
kleineren Theil genau wahrzunehmen, und wir beurtheilen dann die
ſcheinbare Groͤße nach der Leichtigkeit des Erkennens dieſer kleinen
Theile. Es iſt bekannt, daß wir einen ſchwarzen Kreis auf rein
weißem Grunde in viel groͤßerer Entfernung erkennen, als wenn
er auf grauem oder dunkelm Grunde aufgetragen waͤre, und in
Beziehung auf dieſe Ueberzeugung werden wir nicht ſo leicht den auf
weißem Grunde aufgetragenen Kreis fuͤr groͤßer halten, weil wir
ſchon die Ruͤckſicht hierauf in unſer Urtheil mit hinein bringen;
aber wenn wir in einem weit entfernten weißen Gebaͤude jetzt die
Fenſter und andere durch Farbe oder Schatten unterſchiedene Theile
deutlich ſehen, ſtatt daß ſie uns zu anderer Zeit unkenntlich ſind,
ſo ſind wir geneigt, die jetzt kenntlichen Theile als groͤßer erſcheinend
anzuſehen, obgleich ſie nur wegen einer hellern Beleuchtung ſich
kenntlicher gegen das helle Weiß abſtechend zeigen. Dieſe uͤberra-
ſchende Deutlichkeit pflegt beſonders dann ſtatt zu finden, wenn bei
ſehr durchſichtiger, von allem Nebel freier, Luft, die Sonne niedrig
ſtehend die Waͤnde von Gebaͤuden in ſenkrechter Richtung beſcheint;
die alsdann ſtatt findende ſtarke Erleuchtung, die wir durch eine
ungetruͤbte Luft wahrnehmen, geſtattet uns, Fenſter oder andere
dunklere Theile des Gebaͤudes, obgleich ſie bei ſchwaͤcherer Erleuch-
tung nicht wahrgenommen werden koͤnnen, jetzt noch zu ſehen, nicht
deshalb, weil ſie jetzt groͤßer ſind, ſondern weil ſo kleine Theile noch
kenntlich werden, wenn die Erleuchtung lebhaft genug iſt. Um die
Umſtaͤnde, wo dieſe uͤberraſchende Deutlichkeit beobachtet wird, voll-
ſtaͤndig anzugeben, will ich noch beifuͤgen, daß ein Sonnen-Auf-
gang, wobei der Beobachter ſich im Schatten dunkler Wolken
befindet, waͤhrend ein weſtwaͤrts liegender Gegenſtand lebhaft von

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[61/0075] ungleichen Entfernungen zu ſehen, und dabei nicht auf ihr un- gleiches Erſcheinen zu achten, iſt der Grund der eben erwaͤhnten unrichtigen Urtheile; aber auch andere Umſtaͤnde koͤnnen unſer Auge taͤuſchen. Es iſt eine ziemlich bekannte Behauptung, daß man zuweilen ſehr entfernte Gegenſtaͤnde viel naͤher geruͤckt zu ſehen glaube, weil man ſie mit ungewohnter Deutlichkeit ſieht, und dadurch oft zu der Meinung, daß man ſie groͤßer ſehe, verleitet wird, die gleichwohl ungegruͤndet iſt. Nach meinen eigenen Er- fahrungen uͤber dieſe Erſcheinungen entſtehen ſie am oͤfterſten aus der Lebhaftigkeit der Erleuchtung, die uns in Stand ſetzt, jeden kleineren Theil genau wahrzunehmen, und wir beurtheilen dann die ſcheinbare Groͤße nach der Leichtigkeit des Erkennens dieſer kleinen Theile. Es iſt bekannt, daß wir einen ſchwarzen Kreis auf rein weißem Grunde in viel groͤßerer Entfernung erkennen, als wenn er auf grauem oder dunkelm Grunde aufgetragen waͤre, und in Beziehung auf dieſe Ueberzeugung werden wir nicht ſo leicht den auf weißem Grunde aufgetragenen Kreis fuͤr groͤßer halten, weil wir ſchon die Ruͤckſicht hierauf in unſer Urtheil mit hinein bringen; aber wenn wir in einem weit entfernten weißen Gebaͤude jetzt die Fenſter und andere durch Farbe oder Schatten unterſchiedene Theile deutlich ſehen, ſtatt daß ſie uns zu anderer Zeit unkenntlich ſind, ſo ſind wir geneigt, die jetzt kenntlichen Theile als groͤßer erſcheinend anzuſehen, obgleich ſie nur wegen einer hellern Beleuchtung ſich kenntlicher gegen das helle Weiß abſtechend zeigen. Dieſe uͤberra- ſchende Deutlichkeit pflegt beſonders dann ſtatt zu finden, wenn bei ſehr durchſichtiger, von allem Nebel freier, Luft, die Sonne niedrig ſtehend die Waͤnde von Gebaͤuden in ſenkrechter Richtung beſcheint; die alsdann ſtatt findende ſtarke Erleuchtung, die wir durch eine ungetruͤbte Luft wahrnehmen, geſtattet uns, Fenſter oder andere dunklere Theile des Gebaͤudes, obgleich ſie bei ſchwaͤcherer Erleuch- tung nicht wahrgenommen werden koͤnnen, jetzt noch zu ſehen, nicht deshalb, weil ſie jetzt groͤßer ſind, ſondern weil ſo kleine Theile noch kenntlich werden, wenn die Erleuchtung lebhaft genug iſt. Um die Umſtaͤnde, wo dieſe uͤberraſchende Deutlichkeit beobachtet wird, voll- ſtaͤndig anzugeben, will ich noch beifuͤgen, daß ein Sonnen-Auf- gang, wobei der Beobachter ſich im Schatten dunkler Wolken befindet, waͤhrend ein weſtwaͤrts liegender Gegenſtand lebhaft von

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Zitationshilfe: Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1831, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre02_1831/75>, abgerufen am 18.12.2024.