Auges annahm. Liegt dieser Punct ziemlich grade vor der Zeich- nung und nicht allzu nahe, so erscheint das Bild noch nicht bedeu- tend unrichtig, wenn man auch das Auge nicht ganz strenge in diesen Punct bringt; aber in manchen Fällen würde das Bild aus einem andern Standpuncte ganz verzerrt, die einzelnen Theile desselben in sehr unrichtigen Verhältnissen erscheinen. Der Maler, welcher ein Deckengemälde an einem Gewölbe zeichnet, nimmt an, daß der, welcher das Gemälde betrachtet, sich unten in O befinde; er wird daher (Fig.22.) den untern Theil einer Figur BC viel ausgedehnter als den oberen AB zeichnen, wenn beide dem in O befindlichen Auge gleich erscheinen sollen, denn das Auge nimmt die gezeichneten Gegenstände so wahr, als ob sie in a, b, c lägen. Und so wie hier ein Mißverhältniß der Theile in der wirklichen Zeichnung nicht zu vermeiden ist, so ist es in geringerem Maaße auch sonst oft der Fall, zumal bei größeren Gemälden oder bei solchen Zeichnungen, wo die Ungleichheit der Theile, die man als gleich ansehen soll, leicht ins Auge fällt. Man hat Bilder, die absichtlich für eine ungewöhnliche Stellung des Auges gezeichnet sind; und die daher unerträglich verzerrt erscheinen, wenn man das Auge in den gewöhnlichen Standpunct bringt; soll zum Beispiel (Fig. 23.) das Auge in O die Figur abcd in den richtigen Ver- hältnissen sehen, so muß ihr oberer Theil ed unnatürlich lang sein, und so in allen ähnlichen Fällen.
Daß wir die einzelnen Theile der in einem Gemälde darge- stellten Gegenstände nach Regeln der Perspective beurtheilen, ist bekannt. Wir verlangen, daß der gegen uns ausgestreckte Arm im Gemälde gehörig verkürzt erscheine, daß die Lage aller einzelnen Theile uns schon durch den richtigen Umriß kenntlich werde, und so weiter. Hiebei hat nun freilich der Maler noch weit mehr zu beachten, als die bloße Perspective, indem theils Schatten und Licht, theils selbst gewisse falsche Urtheile, die wir alle machen, berücksich- tigt werden müssen, selbst wo es nur auf eine Darstellung ankömmt, die einzig von den Regeln der Perspective abzuhängen scheint.
Sehewinkel. Optische Täuschung.
Von diesen falschen Beurtheilungen muß ich doch einige Bei- spiele anführen. Wenn wir nach geometrischen oder perspectivischen
Auges annahm. Liegt dieſer Punct ziemlich grade vor der Zeich- nung und nicht allzu nahe, ſo erſcheint das Bild noch nicht bedeu- tend unrichtig, wenn man auch das Auge nicht ganz ſtrenge in dieſen Punct bringt; aber in manchen Faͤllen wuͤrde das Bild aus einem andern Standpuncte ganz verzerrt, die einzelnen Theile deſſelben in ſehr unrichtigen Verhaͤltniſſen erſcheinen. Der Maler, welcher ein Deckengemaͤlde an einem Gewoͤlbe zeichnet, nimmt an, daß der, welcher das Gemaͤlde betrachtet, ſich unten in O befinde; er wird daher (Fig.22.) den untern Theil einer Figur BC viel ausgedehnter als den oberen AB zeichnen, wenn beide dem in O befindlichen Auge gleich erſcheinen ſollen, denn das Auge nimmt die gezeichneten Gegenſtaͤnde ſo wahr, als ob ſie in a, b, c laͤgen. Und ſo wie hier ein Mißverhaͤltniß der Theile in der wirklichen Zeichnung nicht zu vermeiden iſt, ſo iſt es in geringerem Maaße auch ſonſt oft der Fall, zumal bei groͤßeren Gemaͤlden oder bei ſolchen Zeichnungen, wo die Ungleichheit der Theile, die man als gleich anſehen ſoll, leicht ins Auge faͤllt. Man hat Bilder, die abſichtlich fuͤr eine ungewoͤhnliche Stellung des Auges gezeichnet ſind; und die daher unertraͤglich verzerrt erſcheinen, wenn man das Auge in den gewoͤhnlichen Standpunct bringt; ſoll zum Beiſpiel (Fig. 23.) das Auge in O die Figur abcd in den richtigen Ver- haͤltniſſen ſehen, ſo muß ihr oberer Theil ed unnatuͤrlich lang ſein, und ſo in allen aͤhnlichen Faͤllen.
Daß wir die einzelnen Theile der in einem Gemaͤlde darge- ſtellten Gegenſtaͤnde nach Regeln der Perſpective beurtheilen, iſt bekannt. Wir verlangen, daß der gegen uns ausgeſtreckte Arm im Gemaͤlde gehoͤrig verkuͤrzt erſcheine, daß die Lage aller einzelnen Theile uns ſchon durch den richtigen Umriß kenntlich werde, und ſo weiter. Hiebei hat nun freilich der Maler noch weit mehr zu beachten, als die bloße Perſpective, indem theils Schatten und Licht, theils ſelbſt gewiſſe falſche Urtheile, die wir alle machen, beruͤckſich- tigt werden muͤſſen, ſelbſt wo es nur auf eine Darſtellung ankoͤmmt, die einzig von den Regeln der Perſpective abzuhaͤngen ſcheint.
Sehewinkel. Optiſche Taͤuſchung.
Von dieſen falſchen Beurtheilungen muß ich doch einige Bei- ſpiele anfuͤhren. Wenn wir nach geometriſchen oder perſpectiviſchen
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Auges annahm. Liegt dieſer Punct ziemlich grade vor der Zeich-
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tend unrichtig, wenn man auch das Auge nicht ganz ſtrenge in
dieſen Punct bringt; aber in manchen Faͤllen wuͤrde das Bild aus
einem andern Standpuncte ganz verzerrt, die einzelnen Theile
deſſelben in ſehr unrichtigen Verhaͤltniſſen erſcheinen. Der Maler,
welcher ein Deckengemaͤlde an einem Gewoͤlbe zeichnet, nimmt an,
daß der, welcher das Gemaͤlde betrachtet, ſich unten in O befinde;
er wird daher (Fig.22.) den untern Theil einer Figur BC viel
ausgedehnter als den oberen AB zeichnen, wenn beide dem in O
befindlichen Auge gleich erſcheinen ſollen, denn das Auge nimmt
die gezeichneten Gegenſtaͤnde ſo wahr, als ob ſie in a, b, c laͤgen.
Und ſo wie hier ein Mißverhaͤltniß der Theile in der wirklichen
Zeichnung nicht zu vermeiden iſt, ſo iſt es in geringerem Maaße
auch ſonſt oft der Fall, zumal bei groͤßeren Gemaͤlden oder bei
ſolchen Zeichnungen, wo die Ungleichheit der Theile, die man als
gleich anſehen ſoll, leicht ins Auge faͤllt. Man hat Bilder, die
abſichtlich fuͤr eine ungewoͤhnliche Stellung des Auges gezeichnet
ſind; und die daher unertraͤglich verzerrt erſcheinen, wenn man das
Auge in den gewoͤhnlichen Standpunct bringt; ſoll zum Beiſpiel
(Fig. 23.) das Auge in O die Figur abcd in den richtigen Ver-
haͤltniſſen ſehen, ſo muß ihr oberer Theil ed unnatuͤrlich lang ſein,
und ſo in allen aͤhnlichen Faͤllen.
Daß wir die einzelnen Theile der in einem Gemaͤlde darge-
ſtellten Gegenſtaͤnde nach Regeln der Perſpective beurtheilen, iſt
bekannt. Wir verlangen, daß der gegen uns ausgeſtreckte Arm im
Gemaͤlde gehoͤrig verkuͤrzt erſcheine, daß die Lage aller einzelnen
Theile uns ſchon durch den richtigen Umriß kenntlich werde, und
ſo weiter. Hiebei hat nun freilich der Maler noch weit mehr zu
beachten, als die bloße Perſpective, indem theils Schatten und Licht,
theils ſelbſt gewiſſe falſche Urtheile, die wir alle machen, beruͤckſich-
tigt werden muͤſſen, ſelbſt wo es nur auf eine Darſtellung ankoͤmmt,
die einzig von den Regeln der Perſpective abzuhaͤngen ſcheint.
Sehewinkel. Optiſche Taͤuſchung.
Von dieſen falſchen Beurtheilungen muß ich doch einige Bei-
ſpiele anfuͤhren. Wenn wir nach geometriſchen oder perſpectiviſchen
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Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1831, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre02_1831/73>, abgerufen am 16.02.2025.
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