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Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1831.

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grade anzusehen ist; doch davon kann erst bei den electrischen
Phänomenen die Rede sein.

Alle diese einzelnen Umstände und selbst die genauesten Be-
stimmungen aller Umstände, die bei der Auflösung vorkommen,
geben uns nur wenig Aufschluß über das Wesen dieses Processes.
So offenbar es ist, daß hier die kleinsten Theile der Körper mit
vieler Gewalt auf einander wirken, so bleibt uns doch die Art, wie
sie sich so innig vereinigen, wie sie einander ganz zu durchdringen
scheinen, und wie dadurch die Natur des neuen Körpers so ganz
anders bestimmt wird, endlich wie sie bei dieser innigen Vereinigung
doch noch immer trennbar bleiben, und unter gehörig angeordneten
Umständen wieder einzeln hervortreten, sehr dunkel. Die atomi-
stische Ansicht, welche den Körpern eine weit über die Grenzen
unserer sinnlichen Wahrnehmung hinaus gehende Theilbarkeit bei-
legt, kann uns zwar zu einer Verdeutlichung dieser Erscheinung
dienen, aber die Unsicherheit, ob wir das, was die Grenzen unserer
sinnlichen Wahrnehmung überschreitet, richtig ansehen, wird wohl
nie gehoben werden. Stellen wir uns indeß die Körper als in ihre
feinsten Theilchen zerlegt, und nun das eine Theilchen des einen
Körpers mit einem, zwei oder mehr Theilchen des andern fest ver-
bunden vor, so könnte unserer Wahrnehmung der neue Körper
allerdings als ein gleichförmiger, von beiden vorigen ganz verschie-
dener Körper erscheinen, weil diese Verbindung ungleichartiger
Theilchen weit über die Grenzen dessen hinausliegt, was wir noch
erkennen. Bei dieser engen Verbindung bliebe aber dennoch die
Eigenthümlichkeit der einen Materie wahrhaft ungeändert, obgleich
das vereinte Wirken zweier Materien auf unsere Sinne uns nicht
mehr gestattet, jene Eigenthümlichkeit wahrzunehmen; die -- doch
immer nur neben einander liegenden, wenn gleich durch starke
Anziehungskräfte an einander geknüpften Bestandtheile blieben
immer fähig, einzeln wieder in neue Verbindungen einzugehen,
sobald stärkere Kräfte als die, welche die vorige Verbindung erhiel-
ten, dazu Veranlassung gäben. Wenn wir es uns so denken, so
ist es zwar freilich möglich, daß wir in unserm Schließen von dem
Bekannten auf das Unbekannte irren; aber doch scheint es immer
der am wenigsten unsichere Weg in der Naturforschung zu sein,
wenn wir die Erscheinungen unter sinnliche Vorstellungen bringen,

grade anzuſehen iſt; doch davon kann erſt bei den electriſchen
Phaͤnomenen die Rede ſein.

Alle dieſe einzelnen Umſtaͤnde und ſelbſt die genaueſten Be-
ſtimmungen aller Umſtaͤnde, die bei der Aufloͤſung vorkommen,
geben uns nur wenig Aufſchluß uͤber das Weſen dieſes Proceſſes.
So offenbar es iſt, daß hier die kleinſten Theile der Koͤrper mit
vieler Gewalt auf einander wirken, ſo bleibt uns doch die Art, wie
ſie ſich ſo innig vereinigen, wie ſie einander ganz zu durchdringen
ſcheinen, und wie dadurch die Natur des neuen Koͤrpers ſo ganz
anders beſtimmt wird, endlich wie ſie bei dieſer innigen Vereinigung
doch noch immer trennbar bleiben, und unter gehoͤrig angeordneten
Umſtaͤnden wieder einzeln hervortreten, ſehr dunkel. Die atomi-
ſtiſche Anſicht, welche den Koͤrpern eine weit uͤber die Grenzen
unſerer ſinnlichen Wahrnehmung hinaus gehende Theilbarkeit bei-
legt, kann uns zwar zu einer Verdeutlichung dieſer Erſcheinung
dienen, aber die Unſicherheit, ob wir das, was die Grenzen unſerer
ſinnlichen Wahrnehmung uͤberſchreitet, richtig anſehen, wird wohl
nie gehoben werden. Stellen wir uns indeß die Koͤrper als in ihre
feinſten Theilchen zerlegt, und nun das eine Theilchen des einen
Koͤrpers mit einem, zwei oder mehr Theilchen des andern feſt ver-
bunden vor, ſo koͤnnte unſerer Wahrnehmung der neue Koͤrper
allerdings als ein gleichfoͤrmiger, von beiden vorigen ganz verſchie-
dener Koͤrper erſcheinen, weil dieſe Verbindung ungleichartiger
Theilchen weit uͤber die Grenzen deſſen hinausliegt, was wir noch
erkennen. Bei dieſer engen Verbindung bliebe aber dennoch die
Eigenthuͤmlichkeit der einen Materie wahrhaft ungeaͤndert, obgleich
das vereinte Wirken zweier Materien auf unſere Sinne uns nicht
mehr geſtattet, jene Eigenthuͤmlichkeit wahrzunehmen; die — doch
immer nur neben einander liegenden, wenn gleich durch ſtarke
Anziehungskraͤfte an einander geknuͤpften Beſtandtheile blieben
immer faͤhig, einzeln wieder in neue Verbindungen einzugehen,
ſobald ſtaͤrkere Kraͤfte als die, welche die vorige Verbindung erhiel-
ten, dazu Veranlaſſung gaͤben. Wenn wir es uns ſo denken, ſo
iſt es zwar freilich moͤglich, daß wir in unſerm Schließen von dem
Bekannten auf das Unbekannte irren; aber doch ſcheint es immer
der am wenigſten unſichere Weg in der Naturforſchung zu ſein,
wenn wir die Erſcheinungen unter ſinnliche Vorſtellungen bringen,

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[38/0052] grade anzuſehen iſt; doch davon kann erſt bei den electriſchen Phaͤnomenen die Rede ſein. Alle dieſe einzelnen Umſtaͤnde und ſelbſt die genaueſten Be- ſtimmungen aller Umſtaͤnde, die bei der Aufloͤſung vorkommen, geben uns nur wenig Aufſchluß uͤber das Weſen dieſes Proceſſes. So offenbar es iſt, daß hier die kleinſten Theile der Koͤrper mit vieler Gewalt auf einander wirken, ſo bleibt uns doch die Art, wie ſie ſich ſo innig vereinigen, wie ſie einander ganz zu durchdringen ſcheinen, und wie dadurch die Natur des neuen Koͤrpers ſo ganz anders beſtimmt wird, endlich wie ſie bei dieſer innigen Vereinigung doch noch immer trennbar bleiben, und unter gehoͤrig angeordneten Umſtaͤnden wieder einzeln hervortreten, ſehr dunkel. Die atomi- ſtiſche Anſicht, welche den Koͤrpern eine weit uͤber die Grenzen unſerer ſinnlichen Wahrnehmung hinaus gehende Theilbarkeit bei- legt, kann uns zwar zu einer Verdeutlichung dieſer Erſcheinung dienen, aber die Unſicherheit, ob wir das, was die Grenzen unſerer ſinnlichen Wahrnehmung uͤberſchreitet, richtig anſehen, wird wohl nie gehoben werden. Stellen wir uns indeß die Koͤrper als in ihre feinſten Theilchen zerlegt, und nun das eine Theilchen des einen Koͤrpers mit einem, zwei oder mehr Theilchen des andern feſt ver- bunden vor, ſo koͤnnte unſerer Wahrnehmung der neue Koͤrper allerdings als ein gleichfoͤrmiger, von beiden vorigen ganz verſchie- dener Koͤrper erſcheinen, weil dieſe Verbindung ungleichartiger Theilchen weit uͤber die Grenzen deſſen hinausliegt, was wir noch erkennen. Bei dieſer engen Verbindung bliebe aber dennoch die Eigenthuͤmlichkeit der einen Materie wahrhaft ungeaͤndert, obgleich das vereinte Wirken zweier Materien auf unſere Sinne uns nicht mehr geſtattet, jene Eigenthuͤmlichkeit wahrzunehmen; die — doch immer nur neben einander liegenden, wenn gleich durch ſtarke Anziehungskraͤfte an einander geknuͤpften Beſtandtheile blieben immer faͤhig, einzeln wieder in neue Verbindungen einzugehen, ſobald ſtaͤrkere Kraͤfte als die, welche die vorige Verbindung erhiel- ten, dazu Veranlaſſung gaͤben. Wenn wir es uns ſo denken, ſo iſt es zwar freilich moͤglich, daß wir in unſerm Schließen von dem Bekannten auf das Unbekannte irren; aber doch ſcheint es immer der am wenigſten unſichere Weg in der Naturforſchung zu ſein, wenn wir die Erſcheinungen unter ſinnliche Vorſtellungen bringen,

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Zitationshilfe: Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1831, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre02_1831/52>, abgerufen am 24.11.2024.